„Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, Doch ach – es wankt der Grund, auf den wir bauten.“ [1]
Hermeneutischer Anstoß: Krise – die Wendung der Dinge
Der Begriff Krise, vom altgriechischen Substantiv krisis und seinerseits vom Verb krinein – „scheiden, sondern, sichten“ – abgeleitet, bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch die Hochphase einer gefährlichen Entwicklung mit noch ungewissem Ausgang. Formal weist sich eine Krise dadurch aus, dass ihr Geschehen auf einen Scheidepunkt zuläuft: eine besondere Situation der Entscheidung über den weiteren Verlauf der Dinge. Der Scheidepunkt offenbart sich als solcher jedoch zumeist erst nach Abschluss der Krise. Dann, im retrospektiven Wissen um ihren Gesamtverlauf, entsteht die zumindest theoretische Option, relativ sicher zu bestimmen, welcher Verlaufspunkt den tatsächlichen Punkt der Entscheidung markiert, von dem an eine Wendung zum Guten oder weiter zum Schlechten eingetreten ist.[2]
Die Besonderheit eines Krisengeschehens im Vergleich zu anderen Ereignissen zeigt sich also in der exklusiven Brisanz einer Entscheidung zwischen zwei konträren Entwicklungsläufen samt ihren Folgeresultaten. Eine Krisenzeit versteht sich per se als Entweder-Oder-Phase, dieeine Wendung der Dinge insgesamt einleitet. Im schlechten Fall droht eine Krise in eine Katastrophe zu münden, was einer Umwendung der Verhältnisse im Sinne eines gewaltigen Unheils entspricht. Der mögliche Eintritt einer Katastrophe provoziert darum im Laufe der Krise zwei kardinale Fragen: erstens, wann der Scheidepunkt der Entwicklung wirklich erreicht ist, und zweitens, welche Entscheidung zu diesem Zeitpunkt tatsächlich zu treffen ist. Denn sicher ist nur eines: nur wer zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung fällt, darf darauf hoffen, dass eine Krise nicht in einer Katastrophe endet.
Ökonomischer Vorstoß: Krise – die Verwendung der Dinge
Das skizzierte Strukturschema einer Krise lässt sie natürlich irreal, in idealtypischer Gestalt erscheinen. Die derzeit reale Krise, die vornehmlich als ökonomische erfasst ist, widersetzt sich noch schematischer Punkt- und Verlaufstheorie. Wer weiß schon, welche Gestalt sie letztlich annimmt? Noch zeichnen sich erst Umrisse ab, wenn sie im globalen Raum ihre Schleifen zieht, vermeintlich ziellos von Punkt zu Punkt. Niemand weiß, welcher davon als der letztlich eine Punkt der Entscheidung aufleuchtet. Und ob es der ist, der sich heute und eine zeitlang schon als möglicher heraushebt. Und wer weiß schon, ob die eine Krise nicht noch andere erzeugt, mit weiteren Scheidepunkten, neuen Folgen und etlichen weiteren Fragen? Wer weiß das schon?Hier und jetzt – solange sie noch im Gange ist?
Die Tatsache, dass es niemand weiß, widerlegt indes nicht a priori alle Versuche vorläufiger Bilanzierung. Eine Kleinstgruppe von Menschen gestattet sich sogar, wenngleich jegliche Zwischenbilanz voller Zweifel steckt, eine akkurate Abschlussbilanz. Was objektiv unmöglich ist, ist dieser Minderheit subjektiv selbstverständlich: nicht irgendeiner seherischen, sondern ihrer eigenen ökonomischen Potenz wegen, die sie als Mitglieder der globalen Finanzelite ausweist. Als solche wissen zwar auch sie nicht um den weiteren Lauf der Dinge und ihren letzten Stand am Ende der Krise. Aber all das braucht sie nicht mehr zu interessieren. Und erst recht nicht zu besorgen. Was sie wirklich wissen wollten, wissen sie bereits. Für sie ist und bleibt nicht nur alles, wie es vorher war. Es kommt noch besser.
Der für die Spitzengruppe eindeutige Fixpunkt der Scheidung und Wendung war nämlich in dem Moment erreicht, als ihre Pendantgruppe aus der Politik die Entscheidung treffen musste, ihr beizustehen und das marode Finanzwesen zu retten. Diese Entscheidung, sich zwecks Abwendung eines realen Unheils solidarisch zu erweisen und das Elend mit Kapital zu lindern, versetzte die Finanzgemeinde in einen regelrecht surrealen Heilszustand. Wie phantastisch paradox! Aus der Krise geht die Gruppe nicht geschwächt, sondern gestärkt hervor. Zumal entschieden reicher um die vormals mutmaßliche, nun aber wirkliche Erkenntnis, dass sie nicht nur trotz, sondern auch wegen ihres Totalversagens Rettung erfährt: dass die Dinge sich für sie allemal, so oder so, heute und morgen, zum Guten wenden. Wie auch immer sie für den Rest der Welt stehen.
Die Kapitalelite hat ihr Glück auf Erden amtlich, mit Brief und Siegel. Endlich kehrt für sie Ruhe ein. Das Ziel ist erreicht, die Sehnsucht gestillt. Nun ist es ihr immer gewiss und sicher: Kapital, Solidarität, Absolution – das alles gibt es für sie bedingungslos und kostenlos, wenn sie ihr Werk nur ordentlich vollbringt. Was ihr bleibt, ist zu entspannen und feierlich Zeugnis abzulegen, dass ihr die Krise stets vollste Zufriedenheit verschafft hat. Sodann natürlich: sich zu rühmen, wie diskret es ihr gelungen ist, widrige Umstände auszunutzen. Und wie seriös sie dem Staatsapparat vermittelt hat, dass es überhaupt jedem, seinem und allem öffentlichen Interesse dient, zugunsten ihres Interesses zu entscheiden. Das war es schon. Der Finanzclub kann zur Schlussbilanz laden. Egal, ob anderorts noch eine Entscheidung zum Guten oder Schlechten ansteht: die Dinge sind gelaufen. Denn nicht auf ihre Wendung, sondern ihre Verwendung zum eigenen Vorteil kommt es an.
Politischer Durchstoß: Krise – die Entwendung der Dinge
Das Gebaren der Clubmitglieder ist nur grotesk. Sicher. Es unter Kritik zu stellen, ist jedoch sinnlos. Einerseits, weil sie es überhaupt nicht realistisch einzuschätzen vermögen – woher sollten sie auch wissen, was sich gehört? Das mussten sie nie lernen. Andererseits, weil sie einer Kritik ihres Verhaltens auch nicht gewachsen sind, weder mental noch rational. Ihr Kapitalgemüt ist von kindlichem Niveau, noch ganz darauf ausgerichtet, zu nehmen und nicht zu geben. So bringt ihr Glücksgebaren nur authentisch zutage, dass sie woanders, in einer Parallelwelt leben – jenseits der Realität lästiger Gesetze und Normen. Wer weiß schon, von jenem Glücksort zu berichten? Zumal inmitten einer Krise? Wer weiß schon, wie es ist, wenn alles kommt wie gewünscht: wenn sich alles derart vollendet verkehrt, dass jegliches Übel zum Wohl und jeglicher malus zum bonus gerät? Und wer weiß schon, dass die Verkehrung sogar rechtens ist, verbrieft und besiegelt? Wer weiß so was?
Die einzige Gruppe von Menschen, die ein solches Glück auf Erden einzuschätzen vermag, zumindest im Ansatz, ist die Politikelite. Und aus ihren Reihen wohl letztlich allein die Angehörigen des Finanzmetiers. Sie bilden eine mit Sonderwissen ausgestattete Spezialeinheit in der Hochregion des Staatsapparats – mit Direktaufgang zum Universum des privaten Kapitals. Ohne sie würden nicht nur der Systembetrieb, das nationale Staats- und das globale Finanzwesen, zum Erliegen kommen. Ohne sie würde zugleich der Parallelbetrieb des Kapitalclubs, ihre Welt der Freuden und Wonnen, ad hoc zu Staub zerfallen. Die voluminöse Phantasie der Finanzpolitik erschafft dem Kapital überhaupt erst eigene, weithin beschützte Welten zum Spielen: sei es durch Entfesselung der Marktmächte im Vorstadium, sei es durch ihre Bändigung im Hauptstadium der derzeitigen Krise. Prinzipiell gilt: solange die Politik im Systembetrieb verbleibt, entscheidet sie niemals frei, sondern so, wie von der Finanzelite gewünscht. Da gibt es kein Vertun. So ist das eben – so irre einfach.
Das System versteht jedes Kind. Nicht grundlos ist es der Kapitalelite liebstes Mittel zum Zweck. Ein verehrtes Zwangsinstrument, das ihr stets einen superben Vorteil verschafft: es nötigt die Finanzpolitik, ganz im Interesse des Kapitals zu entscheiden, da die Höhe der Steuereinnahmen maßgeblich von der Kapitalrendite abhängt. Das ist so einfach wie logisch. Und nützlich, wenn die Risiken des Systems vom Staat mindestens mitgetragen und notfalls allein getragen werden. Dann fügt sich alles so glücklich, weil zur Rettung eine Spezialeinheit bereitsteht, die – ohnehin in der Hochregion zuhause – zu allem bereit ist. Zum Aufbruch in die Scheide- und Wendepunktssphäre, zum Megagipfel des Krisengeschehens! Zur Darbringung eines Staatsopfers! Zur Vergeltung der Finanzschuld! Zur Behebung des Marktchaos! Zur Linderung des Branchenelends! Superb! Zumal sich jene, die vom Gipfel zurückgekehrt sind, zu allem Überfluss als Helden wähnen. Das macht sie bereit, nichts zu lernen und alles zu wiederholen. Also auch die Verwendung der Dinge im Sinne der Clubherren fortzusetzen. So zuverlässig wie treue Beamte. Die Illusion über das eigene Heldentum ist an sich jedoch nur verständlich. Im Grunde eignet der Finanzpolitik sogar ein Rechtsanspruch darauf. Jahr um Jahr hat sie ohne Murren für eine profitable Kapitalverwertung gesorgt. Stets war sie bemüht, wenigstens die Brosamen vom Tisch der Herren aufzusammeln. Wer will es ihr nun verwehren, dass sie für einen kurzen Moment selbst am edlen Tisch Platz nimmt und mitzureden wünscht? Mal im Ernst: hätte sie vom Tisch überhaupt fernbleiben und eine andere als die Rettungsentscheidung treffen können? Unmöglich! Schon die krude Logik des Systembetriebs zwingt sie dazu, sich so zu entscheiden: gleichermaßen richtig wie falsch. Richtig, weil es auch im Eigeninteresse liegt, den Finanzmarkt zu retten. Falsch, weil die Rettung die Marktelite noch freispricht. Aber was zählt solches Wägen und Wiegen, wenn es eine Katastrophe abzuwenden gilt. Dann drängt es die Politik über Sitten und Regeln hinweg. So weit, dass sie sich der Krise geradewegs als Diebin bemächtigt. Nein, bemächtigen muss! Einer Kleptomanin gleich, die den Finanzclub schlagartig aller Schulden und Sorgen beraubt. Nein, berauben muss! Ein Lob der rechtsstaatlichen Politik! Welche Macht muss sie vereinen, wenn sie die Dinge nicht nur zu wenden, sondern sogar zu entwenden vermag! Respekt, Respekt. Hoch die Gläser – auf die Helden!
[1] Friedrich Schiller, Wilhelm Tell I, 2
[2] Klaus Merten, Krise und Krisenkommunikation, in: Tobias Nolting, Ansgar Thießen (Hrsg.): Krisenmanagement in der Mediengesellschaft, Wiesbaden 2008, S. 83 – 97
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