Adolf Muschg: "Nur ausziehen wollte sie sich nicht"
Suhrkamp, Frankfurt/Main 1995
Ende vorigen Jahres erschien ein schmales Buch von Adolf Muschg, das nicht so sehr aufgrund seines bereits im Titel angezeigten Themas als seiner raffinierten Kompositionstechnik eine Besprechung verdient. Das Abenteuer dieser Erzählung geht weit über den unglaublichen Vorfall in einem japanischen Nachtklub hinaus und liegt eigentlich im Lesevorgang an sich: Sex und Lektüre gehen hier eine ganz ungewöhnliche Verbindung ein.
Der Titel der Erzählung verhüllt mehr, als seine Sachlichkeit vermuten läßt, denn ausziehen will sich nur jene japanische Schauspielerin nicht, die im Filmprojekt des Erzählers in ein Bett steigen soll, das ihr „das westliche Drehbuch gemacht hatte“. Dabei geht es, man bedenke, nur um die Entblößung der Brüste einige Sekunden lang während einer Liebesszene. Um dieses für das europäische Drehteam kaum nachvollziehbare Schamgefühl kreist langsam, langsam der erste Teil des Buches. Im zweiten befinden sich der Erzähler und seine japanische Freundin in einem Touristen normalerweise unzugänglichen Nachtklub. Dort ziehen sich die Frauen auf der Bühne nicht nur aus, sie lassen das Publikum auch nicht nur in gewohnter Weise zum Voyeur ihrer erarbeiteten Lust werden, nein, sie laden die Männer sogar auf die Bühne, helfen ihnen aus der Hose und ins Kondom, immer wieder, bis fast alle dran waren.
Die Anonymität dieser öffentlichen Kopulation, die Herabwürdigung des Beischlafs zu einem Tun so bedeutsam wie das Abschlagen des Wassers am nächstbesten Baum – das scheint die Spitze des Verwerflichen zu sein; ein Schritt hinter die Zivilisation zurück. Der westeuropäische Erzähler, der zuvor die Weigerung der japanischen Schauspielerin zu einer so unschuldigen Entkleidung vor der Kamera nicht verstand, bekommt nun das Fürchten vor ihren schamlosen Landsleuten.
Der Leser, aufgewühlt durch das detailliert Geschilderte, teilt spontan die Empörung des Erzählers. Aber wenn das knapp 70 seitige Buch nach dem nur vier Seiten langen dritten Kapitel ohne weitere Lektürehilfen endet, wird er mißtrauisch. Wohin mit der unerhörten Begebenheit?! – Vielleicht soll man gegen den Strich lesen. Warum zum Beispiel die geforderte Entblößung im Film als Lappalie verstehen? Wiegt sie, da die Nackte hier ein Gesicht (ein Dasein auch als Charakter) hat, nicht sogar viel schwerer als die Vergabe des eigenen Körpers im Auf und Ab einer Orgie, die sich bekennt zu den Gründen des Fleisches und darüber hinaus nichts sucht noch weiß? Der Erzähler griff angesichts der ihm zugemuteten Szene zur Denunziation. Er verglich die Männer, die sich zu den Frauen auf der Bühne begeben, mit losgestürzten Jahrmarktsbesuchern, deren verschmierte Glieder die Frau danach abtrocknet wie ein Kindermäulchen beim Familienpicknick. Er sprach von Robotergesten, Karaoke und erzählte etwas von Intimität, die doch zur Sexualität dazugehöre. Kurz: er erwies sich als gut erzogener Europäer, der die ihm fremden Praktiken mit dem Begriff von Würde abzukanzeln versteht. Unbewußt räumt er mit der Metapher vom Kindermäulchen jedoch auch ein, daß die gemeinsame Aktion in der Öffentlichkeit die Frau viel weniger zum Objekt macht als der phallische Blick einer Kamera. In der sexbesessenen Selbstvergessenheit auf der Bühne liegt möglicherweise weit mehr Wärme als im heutzutage üblichen Voyerismus aus dem Hinterhalt eines Fernsehsessels. Wäre also vielleicht nicht die Erzählung, sondern ihr Erzähler, welcher mit seinem europäischen Blick gleich zweimal dieses Land nicht versteht, das eigentliche Thema des Buches?
So ginge es Muschg, der Japan bereits aus seiner Tätigkeit als Lektor an der International Christian University in Tokio 1962-64 sehr gut kennt, um Mentalitätsdifferenzen, um Mißverständnisse zwischen zwei Kulturen – und das Buch lieferte einen pornographischen Beitrag zum Fremdheitsproblem. Es definiert Nacktheit in seiner tieferen Bedeutung von Ausgeliefertsein neu, indem die bloße Entblößung, die uns Europäern beinahe nur in Kochzeitschriften noch nicht begegnet, als das eigentlich Entsetzliche markiert wird. Diese Lesart, die sich modern nennen könnte, ließe sich aus dem Text herleiten. Sicher ist sie keineswegs, wahrscheinlich sogar völlig falsch. Denn in der vorliegenden Erzählung leben Subtexte, an denen man nicht vorbeisehen kann. Muschg hat Spuren gelegt, die bis an den Anfang seines Schreibens reichen.
Da ist zunächst jener Film, „Deshima“, der im Buch gedreht werden soll. Es gibt ihn tatsächlich (von Beat Kuert, mit Marius Müller-Westernhagen), das Buch dazu veröffentlichte Muschg 1987. Dort findet man das Problem des Ausziehens, wie es in der Erzählung beschrieben wird. Allerdings trifft es nicht auf alle japanischen Schauspielerinnen zu. Etsu, die ohne Arbeit ist und gern jene Rolle im Film der Europäer bekommen hätte, zieht sich dafür nicht nur aus, sie geht auch mit Patrick, dem männlichen Hauptdarsteller, ins Bett. Die kurze Liebesgeschichte zwischen dem Europäer und der Japanerin basiert auf Berechnung und sozialem Zwang. Sie unterscheidet sich grundlegend von der Episode, die im Film gedreht werden soll und aus Muschgs erstem Roman „Im Sommer des Hasen“ (1965) stammt. Diese Liebesgeschichte – Hans Mayer zählte sie zu den reizvollsten der neuesten deutschen Literatur – wurde sehr schnell berühmt und allseits ihrer Nuancierung, Zartheit und unvergeßlichen Aura wegen gelobt. Es ist die Geschichte einer zufälligen Urlaubsbegegnung zwischen dem Schweizer Bruser und der Japanerin Yoko; eine Begegnung, die in der Unaufdringlichkeit der Annäherung noch die Schüchternheit zwischen den Geschlechtern kennt und die eine reine Liebe darstellt in dem Sinne, daß ihr jedes Kalkül, selbst der Anspruch auf Zukunft, fremd ist.
Diese Liebesromanze zwischen einem allein in der Fremde weilenden, verheirateten Mann und seiner sehr sinnlichen, bis dahin jungfräulichen Geliebten besitzt, wie Renate Voris nicht zu Unrecht festhielt1, Züge des Kitsches und verkörpert zudem eine typische Männerphantasie. Dieser Umstand wird zwar durch die Erzählkonstruktion gebrochen und ist nicht Muschg, sondern seiner Erzählerfigur, dem eigentlichen Helden des Romans, anzulasten. Es gibt aber darüber hinaus Gründe, den Kitsch dieser Männerphantasie in Schutz zu nehmen. Dazu ermahnt gerade jene Szene im japanischen Nachtklub, die Muschg nun, 30 Jahre später, beschreibt. Denn die Phantasie der 60er Jahre zielt auf ein sexuelles Abenteuer, das eine Kommunikation ist – die neuere Szene im japanischen Nachtklub hat damit nichts mehr zu tun. Der Unterschied wird deutlich an drei Phänomenen. 1. Bruser und Yoko kennen ihre Namen, womit sie sich gegenseitig einen Platz im Gedächtnis garantieren, wenn ihre Körper sich schon längst nicht mehr des anderen erinnern können. 2. Bruser und Yoko verheimlichen ihren Sex vor der Öffentlichkeit, wobei die Geheimhaltung selbst zu einem raffinierten Moment der Lust und der Selbstdefinition als Liebespaar wird, wenn Yoko Bruser in einem überfüllten Zug die Hand unter den Mantel schiebt und ihn mit abgewandtem Gesicht zur Spitze der Erregung treibt. 3. Bruser und Yoko benutzen kein Kondom, sondern vermeiden eine Schwangerschaft durch die Pille. Dieser Umstand bezeichnet die arglose Harmonie vergangener Zeit. 30 Jahre später, da das Kondom nicht vor Schwangerschaft, sondern vor Aids zu schützen hat, ist es zum Zeichen der Promiskuität geworden, das in jeder noch so vertrauten Beziehung zwischen zwei Menschen die Exklusivität der gemeinsamen Gegenwart zerstört. Es macht alle vergangenen und zukünftigen Geschlechtspartner des anderen anwesend und vermittelt implizit selbst dem trautesten Beischlaf das Bewußtsein der Orgie. Daß das Kondom im japanischen Nachtklub demonstrativ auf einem schwarzen Tablett gereicht und somit zum Bestandteil der Show wird, entspricht genau dieser Logik.
In einer Hinsicht jedoch gibt es eine Parallele zwischen 1965 und 1995: beide Male ist die Sinnlichkeit von sozialen Zwängen und Zukunftversprechen befreit. Auch in der Beziehung zwischen Bruser und Yoko geht es nur um die Gegenwart – das unangemessene Versprechen der Zukunft (da Bruser sagt, er möchte Yoko heiraten) zerstört schließlich alles. In dieser Vergleichbarkeit läge ein Ansatz, den Untertitel der 1995er Erzählung („Ein erster Satz und seine Fortsetzung“) in einem tieferen Sinne zu verstehen: die Szene im japanischen Nachtklub ist die absurde Zuspitzung jener sexuellen Revolution, die im Jahrzehnt der Studentenrevolte und der Verhütungspille ihren Anfang nahm. Die Befreiung der Liebe und der Sexualität von allen sozialen Rücksichten und Erwägungen ist inzwischen zum bloßen Aufeinandertreffen fremder Körper verkommen, die sich nicht nach ihren Namen fragen und schon im Aufstehen die Augenfarbe des Partners vergessen haben. Darin liegt das Ungeheuerliche.
Muschg ist kein Puritaner, ihm geht es gewiß nicht um „unerlaubte“ Sexualität. In seiner Geschichte „Der Zusenn oder das Heimat“ aus dem Band „Liebesgeschichten“ (1972) entschuldigt er den doppelten Inzest eines Witwers mit seinen zwei erwachsenen Töchtern durchaus als Folge einer dreifachen seelischen Not. In der Geschichte „Großvaters kleine Freude“ aus dem gleichen Band erzählt der alte Mann seinen Enkeln einen Bordellbesuch, in dem sich noch eine gewisse persönliche Beziehung zwischen der Prostituierten und ihrem Kunden herstellt. Dieser Bordellbesuch ist in keiner Weise zu vergleichen mit dem geschilderten Besuch des japanischen Nachtklubs, und der letzte Satz jener Erzählung scheint auf die aktuelle Problematik vorauszuweisen: „Wir mögen unsern Großvater. Er wird noch rot, er ist nicht aus unserer Zeit. Aber er erzählt noch, er ist noch ein Erzähler.“ Die Männer im japanischen Nachtklub werden durchaus nicht rot, wenn sie vor dem Publikum kopulieren; ob sie noch Erzähler sind, weiß man nicht, aber man darf es bezweifeln – was hätten sie schon zu erzählen (allenfalls wird es zu einer protzigen Mitteilung reichen). Muschg bekümmern nicht Varianten der Sexualität, die von der Gesellschaft traditionell stigmatisiert wurden, ihn beunruhigt die ungehemmte Sexualität im naßforschen Gestus tabufreien Handelns, die inzwischen zur gesellschaftlichen Normalität zu gehören scheint. Die Texte, die er in seiner Erzählung „Nur ausziehen wollte sie sich nicht“ versammelt, zeigen eine bedenkliche Entwicklung von der Liebesromanze über die Liebe aus Berechnung hin zur Liebe als bloßem körperlichem Akt, in dem schließlich alles verkommt, was über den Augenblick hinausweist.
Diese eher konservative Lesart nimmt die zunächst versuchte `moderne' zurück. Schade, möchte man sagen, denn Berichte über Sex ohne Seele sind ja hinlänglich bekannt. Und natürlich weiß man auch ohne Muschg, was man von Leuten halten soll, die sich wortlos auf Huren legen. Aber Muschgs Erzählung ist interessant vor allem durch ihre formale Seite. Sie reizt zunächst, gegen den Strich zu lesen, sie provoziert zur Lust an der Provokation, womit sich der Leser in gewisser Weise so verhält wie die Männer im japanischen Nachtklub, deren Treiben er zu verteidigen bereit ist. Das von Muschg benutzte Matroschkaverfahren entpuppt die Erzählung von 1995 jedoch als nur letztes Kapitel eines erst noch zu rekonstruierenden Mega-Textes und fordert dazu auf, den Schlüssel für die beschriebene Nachtklubszene an einem Anfang zu suchen, der 30 Jahre zurückliegt. Das schmale Buch wird dem Leser somit zu einer tieferen und aufwendigeren Angelegenheit, als er angenommen hatte. Ein „Quicky“ ist auf der Ebene der Lektüre nicht möglich. Hinter dem Text ist noch ein zweiter, dahinter ein dritter. Eine äußerst raffinierte Komposition: dem Leser wird die schnelle Befriedigung verwehrt und die Mühe geduldiger `Entkleidung' abverlangt. An deren Ende gibt er die `moderne' Lesart auf und ist bereit, die Verluste einer dreißigjährigen Entwicklung ernst zu nehmen. Darin liegt die Pointe: sah es zunächst so aus, als sei der Erzähler das eigentliche Thema des Buches, scheint nun der Leser selbst es zu sein.
1Renate Voris. Adolf Muschg. Autorenbücher, München 1984, S. 29.
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