Die Entführung Europas

Europafahne; Foto: Stefan Groß

Das gute Mädchen, hellauf entsetzt über das, was da geschah, klammerte sich mit der linken an einem seiner Hörner an, um nicht herabzurutschen, und mit der anderen hielt sie ihr Gewand zusammen, das in die Luft hinausflatterte.

Mit diesen Worten schildert es der Westwind Zephyros dem neidischen Südwind Notos in Christoph Martin Wielands Dialog über eine Entführung am Mittelmeer. Das gute Mädchen, von dem hier zwischen phallischer und jungfräulicher Symbolik die Rede ist, heißt Europa. Der Stier, der sie entführt, ist niemand geringer als der Vater des Olymps, Zeus.
Mit etwas Phantasie könnte man diesen Mythos auch auf das heutige Europa übertragen. Die Antwort auf die Frage, wohin unser gegenwärtiges Europa strebt, hieße dann zunächst einmal: Sie wird entführt, gekidnappt von euroskeptischen Kräften, die nichts Gutes mit ihr im Schilde führen. In Wielands Schrift wird Europa auf die Insel Kreta entführt. Und was könnte den Nationalstaat trefflicher metaphorisieren als das Eiland? Zurzeit gibt es keine europäische Nation, die sich dieses Inseldenkens erwehren kann. In manch einem Land scheint es gar, als wären die Insulaner längst an der Macht, etwa in Polen, Ungern, Tschechien und neuerdings selbst in Italien und Österreich.
Der spanische Politiker und ehemalige Generalsekretär des Rates der Europäischen Union Javier Solana de Madariaga merkte diesbezüglich an:
The European Union has a dangerous case of nostalgia. Not only is a yearning for the “good old days” – before the EU supposedly impinged on national sovereignty – fueling the rise of nationalist political parties; European leaders continue to try to apply yesterday’s solutions to today’s problems.
Die Europäische Union, und damit auch Europa, wird also in die Vergangenheit entführt, zurück in die Kleinstaaterei. Retrotopia nannte der Soziologe Zygmunt Baumann diese Insel im Gestern jüngst in seinem gleichnamigen Buch. Geschichtlich gesehen ist dies kein Novum, tendierte der Mensch doch schon immer dazu, sich in Zeiten der Krise auf Altbewährtes zu verlassen anstatt unbekanntes Neues zu wagen. Dabei ist gerade die uns wachschüttende Krise der richtige Zeitpunkt für die Utopie.
Die Retrotropie gedeiht am besten im Vakuum, welches die entschwundene Utopie hinterlässt. Gerade dies ist in Europa der Fall, sei es auf nationaler oder EU-Ebene. Emmanuel Macrons Reformvorschläge sind da bei weitem nicht utopisch genug und doch so utopisch, dass der Reaktionärin Angela Merkel in Gedanken an sie die Raute der Macht leicht verrutscht.
Dass der Nationalstaat nicht die Antwort auf das 21. Jahrhundert sein kann, sollte eigentlich eine Plattitüde sein. In einer Welt, die monetär, kulturell, virtuell und physisch immer mehr zusammenwächst, in der Grenzen sich verflüssigen, ist eine Politik, welche das Gegenteil sucht, mehr als nur anachronistisch. Um nur einen Grund unter vielen zu nennen: In einer globalisierten Welt mit wirtschaftlichen Konkurrenten wie China, Indien und (noch) den Vereinigten Staaten von Amerika – so hat es der ewige Europäer Helmut Schmidt immer wieder betont – ist ein ungeeignetes Europa chancenlos.
Die Frage sollte also nicht heißen, wohin strebt Europa, sondern wo sollte es hinstreben. Der Retrotopie sollte die Utopie entgegengestellt werden. Jedoch ist man unlängst der Utopie müde geworden. Unter anderem lag das an den totalitaristischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, am Nationalsozialismus und Kommunismus, als die Utopie der einen zur Dystopie der anderen verkam. Die Orwells und Zamaytins verdrängten die Morus‘ und Campanellas.
Verstärkt durch die Jetztzeitigkeit des Insta-gram-age, durch die Hegemonie der Realpolitik sowie der Vormacht des Positivismus und Dataismus, verbrüderte man sich alsbald mit den Denkern, die schon seit jeher beanstandeten, dass die Utopie samt ihrem mythischen Charakterzügen zu wage sei, dass ihr Ideal von Natur aus zur Ideologie verkomme, sie keine Veränderung erlaube, sie keinen Wahrheitsgehalt habe und von den wirklichen Probleme ablenke.
Wo will Europa hin? Was sind ihre „konkreten Utopien“? Indessen diese Fragen in den kafkaesken Brüsseler Bürogängen verhallen, finden sie immerhin in den Logen der Intellektuellen hin und wieder Gehör. Etwa bei der Politologin Ulrike Guérot, aus deren Buch »Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie« es sich an dieser Stelle zu zitieren lohnt:
Wir müssen aus dem Traum von Europa erwachen, um Europa wirklich zu machen. Ein erster Schritt ist das »Sich-Hindenken«. Dazu sind Utopien da: Die Gesellschaft muss wissen, wohin sie sich denken kann.
An dieser Stelle ist es irrelevant zu klären, ob Guérots Utopie einer res publica europea in all ihre Abwägungen vorbehaltslos übernommen werden kann. Wichtig ist, dass solche Utopien überhaupt existieren, dass sie zum Teil des Diskurses werden, damit sie sich entwickeln können, und Europa letztlich doch nicht vergewaltigt wird. Es ist höchste Zeit voranzudenken, nicht zurück. Denn das Ziel setzt uns zumeist erst wirklich in Bewegung. Selbst wenn dieses Ziel, sprich die Utopie, auf dem Weg sich verändert oder manchmal gar ein unerreichbares Phantasma bleiben mag, bringt sie die Gesellschaft in ihrem Streben nach ihr in Bewegung und so weiter als ohne sie. Ferner ist die Utopie, im Gegensatz zur Retrotopie, eine konstruktive Zeitkritik, die einen nötigen Perspektivwechsel erlaubt.
Die wichtigsten Akteure der Utopie sind dabei die jungen Europäer, die sich oft überhaupt nicht darüber im Klaren sind, welche Vorteile sie durch ein geeintes Europa bereits jetzt genießen. Das Plebiszit, welches zum Brexit führte, ist ein Beispiel par excellence dafür, dass die ältere Generation sich in der ihr bekannten Vergangenheit wähnt, der Retrotopie, wohingegen die jüngere Generation sich – zwar nicht immer, doch häufig genug – an der Zukunft orientiert. Wenn die jungen Menschen jedoch, wie auch beim Brexit-Volksentscheid, ihre Stimme nicht ergreifen, weil sie sich entweder ihres politischen Potentials nicht bewusst oder einfach nur desinteressiert sind, dann geht es für sie zurück in die Zukunft und zwar in die Welt ihrer Großväter respektive Urgroßväter.
Wohlmöglich ist die junge Generation auch so Politikverdrossen, weil ihr jegliche emotionale Bindung zu Politik fehlt. Deswegen darf der Weg zur Utopie nicht alleine aus einem »Sich-Hindenken« bestehen, sondern auch aus einem »Sich-Hinfühlen«. Die stärke des Nationalismus, besonders der Protonationalismus, ist gerade seine Fähigkeit, ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu generieren. Lange herrschte das Vorurteil, Politik sollte rein rational betrieben werden, Emotionen hätte dort nichts verloren. Doch der civis macht die Zivilisation, die Bürger die Burg, die polítēs die pólis, und diese sind nun einmal keine Roboter. Nur weil Emotionen politisch missbraucht werden können, dürfen wir ihnen nicht vollkommen entsagen. Martha Nussbaum schreibt in ihrem Buch »Political Emotions«:
All political principles, the good as well as the bad, need emotional support to ensure their stability over time, and all decent societies need to guard against division and hierarchy by cultivating appropriate sentiments of sympathy of love.
Spätestens seit der différance wissen wir aber auch, dass sich in fast jedem Wort die Welt bricht. Für die einen ist die Utopie ein Zauber- für die anderen ein Schmähwort. Vielleicht spiegelt sich diese Problematik auch darin wieder, dass nicht nur der Nationalstaat eine Insel ist, sondern, zumindest wenn man ihn à la Thomas Morus versteht, auch Utopia (weswegen man sich übrigens niemals sicher sein kann, inwiefern Morus lediglich ironisch über diesen Ort spricht). Tatsächlich ist Europa schon lange eine Utopie, ein Nicht-Ort, folgt man denn Marc Augés Definition der Utopie als identitätsleeren Raum, was mich zu meinem letzten, damit verbundenen Anliegen bringt.
Denn wie oft erwidern wir auf die Frage, wo wir herkommen, dass wir aus Europa sind? Wie oft sieht man auf mediterranen Yachten die zwölf Sterne auf blauem Hintergrund flattern? Ja, wie europäisch sind wir? Europa ist eine Transitzone für nationale Interessen. Diejenigen, die denken, lediglich gemeinsame pekuniäre Belange würden weiterhin für das Überleben Europas reichen, die irren – und die irren gewaltig. Ohne gemeinsame Identität gibt es langfristig kein gemeinsames Europa. Sie muss unbedingter Bestandteil der Utopie werden.
Bereits jetzt offenbaren die nationalen Egoismen eine fehlende Europaidentiät. Falls wir ferner Guérons Idee einer europäischen Republik durchsetzen wollen, so müssen allerspätestens in diesem Prozess nationale Identitäten durch europäische und – hierüber lässt sich debattieren – gleichzeitig lokalere Identitäten ersetzt werden. Identitäten, die natürlich nicht nur auf rationaler, nein, vielmehr auch auf emotionalen Ebene verankert sind. Erst wenn hippe Jugendliche statt einem »I love New York«-T-Shirt ein »I love Europe«-T-Shirt tragen, ist Europa wahrhaftig geeint.
Doch der Idee einer gemeinsamen Identität für dieses europäische Babel hat man, so scheint es, schon längst abgeschworen. Wo bleibt die europäische Universität? Wo bleibt das Schulfach Europa? Wo bleiben die europäischen Romane wie »Die Hauptstadt«? (Und was ist eigentlich europäische Literatur?) Wenn Vorschläge zur Identitätsbildung vorgebracht werden, wie etwa ein geschenktes Interrail-Ticket für jeden Europäer zum 18. Geburtstag, werden sie als zu teuer abgetan. Alles utopisch? Ja, alles zurecht utopisch!
À propos Nicht-Orte: Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die unschuldige Europa und dem liebestollen Zeus zu sprechen, deren Geschichte ich gerne mit Kafkas Text »Der Aufbruch« vermengen würde. Tun wir einfach so, als vergesse Zeus für einen Augenblick seine promiske Ader und lasse Europa die Wahl, dorthin geritten zu werden, wohin sie möchte.
„Wohin reitest du, [Europa]?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“ „Du kennst dein Ziel“ fragte [Zeus]. „Ja“, antwortete ich, „ich sage es doch: >Weg-von-hier<, das ist mein Ziel.“
Dies sind also Europas Worte. Sorgen wir dafür, dass sie ihr Ziel kennt, dass sie voranreitet, in das Utopia der In varietate concordia und nicht zurück in das Retrotopia der In varietate discordia. Sorgen wir dafür, dass wir, angesichts der dialektischen Geschichtsschreibung, die Antithese nicht mit der Synthese verwechseln. Ja, erinnern wir uns daran, dass Europa ein Mythos ist, eine Geschichte, welche wir gemeinsam in die Zukunft hineindenken und -fühlen müssen, bis wir selbst eins mit dem Mythus werden und der Nicht-Ort einfach nur ein Ort ist, Utopia ein Topos.

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