Die Entdeckung des Wunderbaren im alltäglichen Akt des Verkleidens

„Er nimmt unsere kubistischen Formen, aber er bringt in ihnen Gefühle unter, an die wir nie gedacht haben“, äußerte Picasso angesichts der frühen Bilder des französischen Malers André Masson. Diesen Satz könnte man auch auf die deutsch-schweizerische Künstlerin Meret Oppenheim übertragen, deren 100. Geburtstag sich am 6. Oktober 2013 jährt. Ihr Œuvre, das sich durch eine unglaublich komplexe Vielfalt an Stilen und Formen surrealistischer und anderer avantgardistischer Einflüsse auszeichnet, überrascht immer wieder und entzieht sich jeder herkömmlichen Kategorisierung. Sie allein auf ihren frühen Sensationserfolg aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit ihrer pelzüberzogenen Tasse („Frühstück im Pelz“) festzulegen, käme einer himmelschreienden Ungerechtigkeit gleich. Allerdings erfuhr ihr Werk international nie die Würdigung, die es zweifelsohne verdient hätte. Vielleicht war die Zeit einfach noch nicht reif. Denn auf gewisse Art und Weise entstanden ihre Arbeiten, die man auch als „Lust an der Demontage visueller Sicherheit“ bezeichnen könnte, „für die Zukunft“. Daher wird ihr nun vom 21. März bis 14. Juli 2013 im Bank Austria Kunstforum Wien und anschließend vom 16. August bis 1. Dezember 2013 im Martin-Gropius-Bau Berlin in einer gebührenden Form gedacht: einer Ausstellung, die einer staunenden Entdeckung gleichkommt.
Das vorliegende opulente Buch ist dabei keineswegs nur begleitender Katalog, sondern enthält neben den gezeigten Fotos, Gemälden, Skulpturen, Schmuckgegenständen, Modeentwürfen, Gedichten und einer Biografie, 19 exzellente Texte von 14 Autoren. Diese setzen sich intensiv mit der Künstlerin und ihrem Œuvre auseinander. So ist man stets aufs Neue fasziniert von der Strategie der Maskerade als ein durchgängiges Leitmotiv Meret Oppenheims. Ihr eigener Name, der auf die geheimnisumrankte Meretlein-Figur aus Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“ zurückgeht, bildet dabei immer wieder den Ausgangspunkt für ihre Verwandlungen des Selbst. Oppenheims freier Geist, ihre gelebte Nonkonformität im Kreis der Pariser Surrealisten und später in der Schweiz, zeigt sich in vielen ihrer Arbeiten.
Zeile für Zeile und Seite um Seite offenbart sich dem Betrachter und Leser eine zeitlebens unbeugsame und freiheitsliebende Frau. „Sie lebte gemäß ihrer Ideale und zahlte dafür wie Kellers Meretlein oft einen hohen Preis.“, stellt Matthias Freier in seinem Artikel fest. Dabei war sich die betörend schöne „Kind-Frau“ ihrer „Zauberei“ selbst gar nicht bewusst und blieb zeitlebens bescheiden: ohne Geld und nennenswerten Erfolg bis kurz vor ihrem Tod im Jahre 1985. Derweil üben ihre Kunstwerke schon beim ersten flüchtigen Betrachten eine nahezu magische Faszination aus. In ihnen liegt eine geradezu hervordringende Bildlichkeit, traumwandlerische Intensität, verborgene Wunscherfüllung und Sublimität. Zudem wohnt fast allen eine nahezu ungewohnte Ästhetik inne. Sie zeigen das Unendliche, Unbestimmte oder Uferlose und gleichzeitig das Zum-Greifen-Nahe.
Fazit: Die in diesem großartigen Band hervorragend in Szene gesetzte Retrospektive einer der ungewöhnlichsten Künstlerinnen gestaltet sich letztendlich zu einem Eintauchen in mythische und fantastische Welten, geerdet durch seinen exzellenten informativen Wert.

Mit Blumen und Blüten
Wer auch mit den Spangen eilt:
Immer wird das Licht ihn spalten.
Aber nie kann man ihn fassen,
Lebend oder tot ihn halten
(Meret Oppenheim, 1936)

Meret Oppenheim
Retrospektive
Hatje Cantz Verlag (März 2013)
312 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3775735100
ISBN-13: 978-3775735100
Preis: 39,80 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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