Eine Krise ist ein Wendepunkt, ein Moment der Entscheidung, ist jenes Nu, das die Weichen neu stellt. Schmerzen sind sein Erkennungsmal. Krisen legen offen, was lange schon schief lief. In Krisen müssen sich Mut und Prinzipien gleichermaßen bewähren, sonst wird aus dem Augenblick eine endlose Rutschbahn, wird die Haltestelle selbst zum Abgrund, das Beben zum Treibsand, haltlos-unhaltbar auf lange, sehr lange Zeit.
Jede Krise braucht einen Patienten, den sie befällt, damit er gesunde oder untergehe. In diesen Tagen scheint der bekannteste Patient überhaupt die katholische Kirche zu sein. Sie selbst ist es, die beständig von sich behauptet, in einer fundamental schwierigen Situation zu sein, einer „tiefen Krise“ (Karl Kardinal Lehmann), ja der „tiefsten Vertrauenskrise seit der Reformation“ (Hans Küng). Wer oder was aber ist die Kirche, die derart großzügig Selbstdiagnosen erstellt? Nur auf diesem Weg kann die Seriosität der Krisenbehauptung geklärt werden.
Offensichtlich kreuzen sich hier Selbst- und Fremdwahrnehmung in bezeichnender Weise. Es macht kaum einen Unterschied, ob Kirchenvertreter, Kirchenkritiker oder Kirchenhasser befragt werden. Es sei Krisenzeit angebrochen, erklären alle unisono. Das muss stutzig machen. Entweder verbergen sich unter der Krisenchiffre ganz unterschiedliche Bedeutungen, oder aber die wie auch immer gefüllte Krise ist derart monumental, dass sie jedem sich erschließt. Sie wäre dann eine schlichte Objektivität, unleugbar wie der Regen gestern über diesem und nur diesem Städtchen.
Es verhält sich vertrackt: Unleugbar sind einige der Ereignisse, die das Reden von der Krise initiiert haben, die sexuellen Übergriffe auf Minderjährige durch mehrheitlich homosexuelles Kirchenpersonal. Jenseits allen Tolerierbaren bewegen sich diese schändlichen Fälle. Andererseits sind sie noch immer die schreckliche Ausnahme, nicht die verderbliche Regel. Niemand, ob Papist oder Atheist, wird diese Fälle gutheißen können, niemand tut es.
Auch in der Vergangenheit hat sich niemand zum Apologeten solch krimineller Taten aufgeschwungen. Dass sie wahrlich nicht immer zu den angemessenen juristischen und disziplinären Folgen geführt haben, steht auf einem anderen Blatt und ändert nichts am Konsens in ihrer Einschätzung als absolut verwerfliche Taten.
Ein Konsens kann keine Krise auslösen. Insofern wäre die Krise nur dann im obigen Sinne objektiv und unleugbar, wenn tatsächlich Papiere, Anweisungen, Absprachen existierten, denen zufolge der sexuelle Übergriff vornehmste Katholikenpflicht sei. Dergleichen ist bisher nicht aufgetaucht. Ergo dominiert im Diskurs die subjektive und durchaus unterschiedliche Füllung des Krisenbegriffs.
Die Übergriffe können keine theologische Krise markieren, weil sie theologisch immer schon verurteilt waren. Demgegenüber können die vergleichbaren Fälle im reformpädagogischen Milieu sehr wohl eine substanzielle pädagogische Krise auslösen, weil sie in ein bestimmtes (wenn auch pervertiertes) Bild von Pädagogik integriert waren.
Die Kirchenkrise ist eine Vertrauens- und Moralkrise. Sie trifft im Kern das Bild von der Kirche als moralischer Anstalt. Sie beschädigt die eher säkulare Sicht auf die Kirche als Verein der Tugendbolde. Nichts müsste eigentlich denen, die Kirche sind, fremder sein. Sie müssten wissen, dass die apostolische Gemeinschaft die Versammlung jener ist, die sich hoffend unterwegs wissen zu ihrem Richter und Erlöser und die dessen Sakramente auf dieser unbekannten Strecke weitertragen.
Bischöfe, Theologen, Laien könnten wissen, dass nicht der erhobene Zeigefinger die Welt rettet, sondern das Opfer. Sie wissen es aber nicht, oder sie verschweigen es. Sie reden von der Kirche, der sie angehören, wie auch Kirchenferne und Kirchenhasser von ihr sprechen: Moralisch, politisch, subjektiv. Und deshalb und nur deshalb ist die säkulare Vertrauens- und Moralkrise zugleich ein theologisches Drama. Die Kirche, die so laut auf allen Marktplätzen sich den Puls fühlt, nimmt sich selbst als Kirche nicht mehr wahr.
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