Die egoistische Komponente des Mitleids

Auszüge aus
Axel Schlote: Die universale Urkraft und das moralische Genie. Notate und Komplemente (nicht nur) zur Philosophie von Arthur Schopenhauer, Wissenschaftlicher Verlag Berlin: Berlin 2014.

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§ 14
Die egoistische Komponente des Mitleids

Das Tun eines Menschen mag im Ergebnis selbstlos sein; zur Beurteilung der moralischen Bedeutung einer Handlung oder des Handelnden kommt es jedoch auf seine Absichten an. Da erweisen sich allerdings zahlreiche selbstlose Taten als offenkundig egoistisch motiviert, durch die Aussicht auf Anerkennung, Belohnung im Diesseits oder im Jenseits oder durch die Hoffnung auf ein Tauschgeschäft, nämlich den Anspruch auf spätere Hilfe bei eigener Not, usw. Solche Motive zu guten Taten habe ich erläutert, von ihnen ist hier nicht noch einmal die Rede, sondern von jenen, bei denen einer nicht den eigenen Nutzen im Auge hat. Den höchsten Anspruch formulierte Arthur Schopenhauer so: „Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist also das Kriterium einer Handlung von moralischem Werth.“ (Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 15. Kriterien der Handlungen von moralischem Wert, in: Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Leipzig 1860) Wir wollen sehen, ob dieser Anspruch erfüllbar und ob er in dem von Schopenhauer begründeten Fundament der Moral widerspruchsfrei realisiert ist.

Ich folge ihm darin, daß Moral nicht zu lehren, sondern bloß zu erklären ist; auch darin, daß das oberste Prinzip aller Ethik im Allgemeinen sei, daß man niemandem schaden und jedem helfen solle, so gut man kann (vgl. Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 6. Vom Fundament der Kantischen Ethik, in: Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Leipzig 1860). Bevor Schopenhauer die Möglichkeit solchen Handelns ohne Egoismus begründet, zeigt er, daß andere Morallehren den Egoismus dagegen beinhalten, namentlich Kants kategorischer Imperativ. Dieser verlangte: Handle nur nach der Maxime, von der Du zugleich wollen kannst, daß sie als allgemeines Gesetz für alle vernünftigen Wesen gelte. Abgesehen davon, daß hiermit kein Moralprinzip, sondern nur der Weg zur Bestimmung desselben gegeben ist, hat Schopenhauer den egoistischen Kern dieser Forderung enthüllt: „Die in Kants oberster Regel enthaltene Anweisung zur Auffindung des eigentlichen Moralprincips beruht nämlich auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß ich nur Das wollen kann, wobei ich mich am besten stehe. Da ich nun, bei der Feststellung einer allgemein zu befolgenden Maxime, nothwendig mich nicht bloß als den allemal aktiven, sondern auch als den eventualiter und zu Zeiten passiven Teil betrachten muß; so entscheidet, von diesem Standpunkt aus, mein Egoismus sich für Gerechtigkeit und Menschenliebe: nicht weil er sie zu üben, sondern weil er sie zu erfahren Lust hat“ (Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 7. Vom obersten Grundsatz der Kantischen Ethik, in: Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Leipzig 1860). Handlungen von moralischem Wert sollen aber frei von Egoismus sein, weshalb Schopenhauer solche Begründungen verwirft.

Während in Kants Morallehre der Egoismus versteckt und noch bloßzulegen war, nimmt er in anderen Systemen eine prominente Rolle als erwünschte Triebfeder des Gemeinwohls ein. Etwa zur gleichen Zeit wie Immanuel Kants Schaffen, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, entwickelte und begründete Adam Smith das Konzept eines freien Marktes. Dabei war der persönliche Nutzen Einzelner nicht der Zweck, sondern das Mittel dazu; das Eigeninteresse der Einzelnen sollte auf eine Weise nutzbar gemacht werden, daß das Gemeinwesen, also alle, daran gewinnen. Der Egoismus wurde auf diesem Weg als Schöpfer des Gemeinwohls geadelt. Die Pointe war die, damals, revolutionäre Idee eines Marktes, auf dem, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, zig Millionen freiwilliger Geschäfte zwischen Käufern und Verkäufern koordiniert werden. So sollte sich der Reichtum der Nationen vermehren, nicht trotz des Egoismus, sondern weil die Marktteilnehmer ihre eigenen Interessen verfolgen. Was damals als revolutionäre Idee zur Befreiung von feudalen Restriktionen der Ökonomie auftrat, hält sich bis heute hartnäckig als abgelutschte Platitude zur Feier des Egoismus.

Der Erfolg gäbe dem Egoismus recht – wenn er im Sinne des Gemeinwohls erfolgreich wäre. Allein er ist es nicht, wovon viele menschenverachtende Zustände Zeugnis ablegen: Armut, Hunger, Kriege, die Ausbeutung und Zerstörung der Natur, der Lärm und so weiter, bis hinab in alltägliche Details. Was mancheiner euphemistisch Mißstände nennt, sind keine Fehler, gleichsam unbeabsichtigt, sondern sie entspringen dem Wesen des Egoismus. Denn der Egoismus einiger kann wohl im Einzelfall zum allgemeinen Nutzen aller wirken – oder auch nicht, ganz wie die Umstände es hervorbringen und woran der Egoismus nun gerade seine größte Befriedigung erfährt.

Der Ingenieur, welcher nur sein Eigeninteresse verfolgt, wird dem Kranken, der nicht mehr laufen, aber noch gut zahlen kann, ein Gerät bauen, mit dem dieser fortan seine Besorgungen selbst erledigen kann; und bei dieser Gelegenheit konstruiert der Ingenieur ein Gerät, das auch anderen Kranken von Nutzen sein wird, die nicht mehr laufen können. Der selbe Ingenieur, wenn er nur seinem Egoismus frönt, wird jedoch dem Kranken nicht helfen, wenn der Graf ihm das Doppelte zahlt für den Bau eines Gefährts mit nutzlosen Spielereien, welches bloß dem Vergnügen des Grafen dient. Und dieser Ingenieur, sofern er ausschließlich auf seinen Vorteil bedacht ist, wird sogar, wenn ein Unternehmer ihn noch höher dafür entlohnt als der Graf, eine häßliche, laute Fabrik vor das Haus des Kranken setzen, mithin ihm nicht nur nicht helfen, sondern sogar schaden, indem er ihm die Ruhe stiehlt und die Aussicht auf die Natur verbaut. Dem Egoisten ist das Wohl anderer gegebenenfalls bloß Mittel, der Zweck ist und bleibt nur sein eigenes Wohl. Darum ist der Egoismus keine belastbare Grundlage sittlichen Handelns: Die Bedingungen können sich ändern, so daß der Schaden eines anderen mein Nutzen ist. Der Egoismus begründet also nichts; er ist beliebig, das heißt entbehrlich zur Erklärung ganz unterschiedlicher Qualitäten des Tuns.

Arthur Schopenhauer erklärt den Egoismus als antimoralische Triebfeder: „Die Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen, wie im Thiere, ist der Egoismus, d.h. der Drang zum Daseyn und Wohlseyn. (…) Der Egoismus ist, seiner Natur nach, gränzenlos: der Mensch will unbedingt sein Daseyn erhalten, will es von Schmerzen, zu denen auch aller Mangel und Entbehrung gehört, unbedingt frei, will die größtmögliche Summe von Wohlseyn, und will jeden Genuß, zu dem er fähig ist“ (Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 14. Antimoralische Triebfedern, in: Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Leipzig 1860). Als Gegenbild entwirft Schopenhauer seine Begründung der Ethik, eine Erklärung der Handlungen von moralischem Wert, die frei von Egoismus sein sollen. Es ist nicht meine Aufgabe, diese Darstellung en detail wiederzugeben; dazu lese man das Original, des Meisters wundervolle „Preisschrift über die Grundlage der Moral“. Hier werde ich nur kurze Ausschnitte wiedergeben, soweit sie, im rechten Licht und im Zusammenhang betrachtet, bezeugen, daß in Schopenhauers Grundlegung der Moral eine egoistische Komponente eingeschlossen ist, welche leicht übersehen wird.

Trotz der Dominanz des Egoismus als Triebfeder menschlichen (und tierischen) Handelns gelten Schopenhauer die edlen Handlungen von moralischem Wert dennoch als unzweifelhaft, wenn auch selten. Jede Handlung braucht dabei ein Motiv; ohne ein solches wäre sie eine Wirkung ohne Ursache. Jedes Motiv wiederum muß den Willen erregen, damit es eine Handlung auslöse. „Was den Willen bewegt, ist allein Wohl und Wehe überhaupt und im weitesten Sinne des Worts genommen; wie auch umgekehrt Wohl und Wehe bedeutet 'einem Willen gemäß, oder entgegen'. Also muß jedes Motiv eine Beziehung auf Wohl und Wehe haben.“ (Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 16. Aufstellung und Beweis der allein ächten moralischen Triebfeder, in: Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Leipzig 1860) Der moralische Wert einer Handlung hängt davon ab, wessen Wohl und Wehe der Zweck ist: „Jede Handlung, deren letzter Zweck das Wohl und Wehe des Handelnden selbst ist, ist eine egoistische.“ (a.a.O.) Dieses ist die Regel. „Nur einen einzigen Fall giebt es, in welchem dies nicht Statt hat: nämlich wenn der letzte Beweggrund zu einer Handlung, oder Unterlassung, geradezu und ausschließlich im Wohl und Wehe irgend eines dabei passive betheiligten Andern liegt, also der aktive Theil bei seinem Handeln, oder Unterlassen, ganz allein das Wohl und Wehe eines Andern im Auge hat und durchaus nichts bezweckt, als daß jener andere unverletzt bleibe, oder gar Hülfe, Beistand und Erleichterung erhalte. Dieser Zweck allein drückt einer Handlung, oder Unterlassung, den Stämpel des moralischen Werthes auf;“ (a.a.O.). Dieses ist die Ausnahme.

Die erste Tugend, niemandem zu schaden, also nicht Ursache fremden Leidens zu werden, nennt Schopenhauer Gerechtigkeit; die zweite, höhere Tugend, die zu tätiger Hilfe antreibt, zum Wohle eines Bedürftigen, ist die Menschenliebe. Beide Tugenden bedingen, daß der Zweck des Handelnden nicht sein eigenes Wohl und Wehe ist, sondern das eines anderen. Die wahre Quelle solchen Handelns ist das Mitleid. „Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgendeine Weise mit ihm identificirt sei, d.h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. (…) es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d.h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlseyn und Glück besteht. Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe.“ (a.a.O.)

So sehr das Mitleid als Quelle tugendhafter Handlungen einleuchtet, so sehr verwirrt es. Denn es setzt voraus, daß ich mich mit einem anderen identifiziere, der ich nicht bin, daß die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich gleichsam verschwindet. Schopenhauer nennt diesen Vorgang mysteriös. Zur Beantwortung der Frage, wie Mitleid dennoch möglich ist, greift Schopenhauer folgerichtig auf seine Metaphysik des Willens zurück. Dem Willen, dem Ding an sich, sind Zeit und Raum fremd, also auch die Vielheit: „folglich kann dasselbe in den zahllosen Erscheinungen dieser Sinnenwelt doch nur Eines seyn, und nur das Eine und identische Wesen sich in diesen allen manifestiren.“ (Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 22. Metaphysische Grundlage, in: Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Leipzig 1860)

Hier nun offenbart sich das geheimnisvolle Wesen des Mitleids als Fundament der Moral und damit auch die Erklärung für Handlungen von moralischem Wert: „Gehört demnach Vielheit und Geschiedenheit allein der bloßen Erscheinung an, und ist es Ein und das selbe Wesen, welches in allem Lebenden sich darstellt; so ist diejenige Auffassung, welche den Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich aufhebt, nicht die irrige; vielmehr muß die ihr entgegengesetzte dies seyn. (…) Jene erstere Ansicht ist es, welche wir als dem Phänomen des Mitleids zum Grunde liegend, ja, dieses als den realen Ausdruck derselben gefunden haben. Sie wäre demnach die metaphysische Basis der Ethik, und bestände darin, daß das eine Individuum im andern unmittelbar sich selbst, sein eigenes wahres Wesen wiedererkenne. (…) 'Mein wahres, inneres Wesen existirt in jedem Lebenden so unmittelbar, wie es in meinem Selbstbewußtseyn sich nur mir selber kund giebt.' – Diese Erkenntniß, für welche im Sanskrit die Formel tat-twam asi, d.h. 'dies bist Du', der stehende Ausdruck ist, ist es, die als Mitleid hervorbricht, auf welcher daher alle ächte, d.h. uneigennützige Tugend beruht und deren realer Ausdruck jede gute That ist.“ (a.a.O.) Und wenige Sätze weiter spricht Schopenhauer noch deutlicher aus, daß der Handelnde und der andere, zu dessen Nutzen die Handlung geschieht, identisch sind. Denn über den guten Charakter sagt Schopenhauer: „die Andern sind ihm kein Nicht-Ich, sondern 'Ich noch ein Mal'. (…) Denn daß Einer auch nur ein Almosen gebe, ohne dabei auf die entfernteste Weise etwas Anderes zu bezwecken, als daß der Mangel, welcher den Andern drückt, gemindert werde, ist nur möglich, sofern er erkennt, daß er selbst es ist, was ihm jetzt unter jener traurigen Gestalt erscheint, also daß er sein eigenes Wesen an sich in der fremden Erscheinung wiedererkenne.“ (a.a.O.)

Die Preisschrift von Arthur Schopenhauer ist das herausragendste, berührendste Plädoyer für Moral, welches kein Plädoyer sein will, keine Forderung, sondern bloß eine bis auf die tiefsten Wurzeln reichende Erklärung und Deutung der Moral. Schopenhauers großartige Grundlegung der Moral ist umfassend, konsequent, ergreifend, systematisch, virtuos, mit einem Wort: brillant – alleine, sie ist nicht frei von Egoismus; woran sich nach seinen Maßstäben doch alle Handlungen von moralischem Wert messen lassen müssen. Die zitierten Stellen belegen, daß und wie sich der Egoismus, der eben noch an der Pforte abgewiesen und verjagt wurde, durch die Hintertür wieder einschleicht. Gegen diese Feststellung wird man nicht den Vorwurf erheben können, daß ich etwa willkürlich einige Zitate herausgepickt und den Sinn verdreht hätte, denn auch im gesamten Text stellt sich dem, der es im Ganzen nachliest, alles genau so dar.

Die Ethik des Mitleids hat eine Achillesferse; diese ist das Postulat, daß eine Handlung von moralischem Wert frei von jedem Egoismus sein muß. Der Egoismus ist latent, bleibt verborgen und tritt bloß nicht in die Erscheinung, ist aber gerade in der metaphysischen Begründung eingeschlossen. Denn: Eine Handlung von moralischem Wert muß das Wohl und Wehe eines anderen zum Zweck haben, nicht das des Handelnden; die Basis solchen Handelns ist allein das Mitleid, daß ich mich mit dem anderen identifiziere, daß sein Leid mein Leid ist; die metaphysische Begründung dafür ist, daß es das eine Wesen ist, welches sich in allem Lebenden darstellt, die Erkenntnis dieser Einheit, daß ich mich im anderen erkenne. Wenn ich nun auf dieser Grundlage das Wohl des anderen befördern und sein Wehe verhindern will, dann ist die Triebfeder dafür – nichts anderes als mein Egoismus. Denn der andere: Das bin ich. Ich will das Leiden des anderen nicht, weil ich das Leiden nicht will. Wenn der andere nicht leidet, leide ich nicht, und ich tue alles, um das Wehe des anderen zu vermeiden, weil ich dadurch mein Wehe vermeide. Und ich will das Wohl des anderen aus dem gleichen Grund: weil ich das Wohl für mich will, weil sein Wohl mein Wohl ist.

Der Egoismus ist also nirgendwo anders als eben in dieser metaphysischen Begründung des Mitleids eingeschlossen. Weil, wer moralisch handelt, die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich überstiegen hat, handelt er auf besondere Weise immer auch egoistisch. Das ist die unvermeidliche egoistische Komponente des Mitleids: Wenn ich die Einheit aller Wesen erkenne, mich mit dem anderen gleichsetze, mich mit ihm identifiziere, eins mit ihm bin – dann will ich mein Wohl, weil ich das Wohl des anderen will; dann will ich mein Wehe meiden, weil ich das Wehe des anderen meiden will. Egoismus ist der Drang zum Dasein und Wohlsein, und indem ich aus Mitleid einem anderen Menschen Schaden vermeide oder ihm zu Hilfe eile, befördere ich mein Wohl, indem ich sein Wohl befördere, denn er und ich sind eins. Wenn ich aus Mitleid, aus Identifikation mit einem anderen Lebewesen handle, dann ist der Zweck dieser Handlung immer auch mein eigenes Wohl und Wehe; weshalb die Handlung nach Schopenhauers Definiton eine egoistische ist.

Der hieraus folgende Schluß ist ernüchternd: Eine Handlung aus Mitleid, aus tiefem, aufrichtigem, von Schopenhauer so eindringlich und konsequent mit der Einheit aller Wesen begründetem Mitleid, eine solche Handlung ist deshalb immer auch egoistisch; ohne Egoismus triebe den Handelnden kein Mitleid, da ihm die Identifikation mit dem, der von seinem Handeln profitieren soll, fehlen würde, jene Identifikation, die der Ausdruck des Mitleids ist. Wenn ich mich im anderen erkenne, muß ich mein Wohl wollen, um sein Wohl zu wollen, muß ich egoistisch sein, um selbstlos zu handeln. Dies klingt für die einfachen Ohren paradox, doch wäre mir mein Wohl und Wehe gleichgültig, so wäre es auch das Wohl und Wehe eines anderen, in welchem ich mich selbst und die Einheit aller Wesen erkenne. Handeln aus Mitleid belegt den Egoismus, wie der Egoismus die Voraussetzung für das Handeln aus Mitleid ist.

Gleichwohl ist dieser Egoismus nicht das gewöhnliche und herrschende Phänomen des Egoismus, sondern eine moralisch höhere und seltene Form; aber auch die egoistische Komponente des Mitleids ist ein Egoismus. Der gewöhnliche Egoismus ist widerwärtig, brutal, gleichgültig gegen andere. Er basiert darauf, daß einer sich, seine Interessen und sein Verhältnis zur Welt nur vom Standpunkt des Individuums beurteilt, welches zwischen sich und anderen scharf unterscheidet. Dann ist nur mein Wohl der Zweck, nicht das Wohl der anderen, und mein Wohl im Zweifel auf Kosten und zum Nachteil der anderen. Der andere Egoismus beruht darauf, daß die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich aufgehoben ist, daß ich das eine Wesen in allem erkannt habe. Dann ist auch mein Wohl der Zweck, aber nicht allein und nie auf Kosten des anderen. Denn dann bin ich der andere, die anderen, alle anderen. Aber wie ich der andere bin, ist der andere ich, und mein Streben nach meinem Wohl ist die Voraussetzung für mein Streben nach dem Wohl des anderen.

In der Konsequenz bedeutet dies, daß Handlungen von moralischem Wert nicht möglich sind ohne Egoismus. Die metaphysische Begründung des Mitleids als Grundlage der Moral schließt diese besondere Form des Egoismus geradezu ein; sie kaschiert den Egoismus, legt den Schleier der Selbstlosigkeit darüber – und setzt ihn doch voraus. Die Ethik des Mitleids läßt sich widerspruchsfrei nur formulieren, wenn der strenge Anspruch aufgegeben wird, daß Handlungen von moralischem Wert frei von jeder Art von Egoismus zu sein haben, egal welcher. Das Kriterium einer Handlung von moralischem Wert ist also nicht die Abwesenheit aller egoistischen Motivation, sondern die Abwesenheit des gewöhnlichen Egoismus, durch welchen das Individuum nur sein Wohl und Wehe als Zweck seines Handelns vor die Interessen anderer Individuen setzt, in Konkurrenz und im Unterschied zu ihnen.

Wer jedoch an dem Anspruch festhält, daß eine Handlung mit moralischem Wert von jedem Egoismus frei sein muß, der muß das Fundament der Moral in anderen Quellen suchen als im Mitleid, welches aus der Erkenntnis der Einheit aller Wesen hervorgeht. Dies ist die andere Konsequenz, nachdem wir die unvermeidbare egoistische Komponente des Mitleids entdeckt haben. Da ich, wenn ich mich in dem anderen erkenne, sein Wohl nicht ohne meines wollen kann, so muß die Basis der Moral eine andere sein als das Mitleid, wenn ich wirklich frei von jedem Egoismus handle; oder aber das Mitleid, wie es zu Handlungen von moralischem Wert führt, läßt sich wenigstens nicht auf die metaphysische Grundlage zurückführen, die Schopenhauer gegeben hat. Ein Handeln ohne Egoismus aller Art ist dann eben nicht möglich, wenn sich der Handelnde als eins erkennt mit anderen Lebewesen, sondern gerade im Gegenteil nur dann, wenn er im anderen auch wirklich einen anderen sieht und die scharfe Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich beibehält, ohne deshalb allerdings in einen gewöhnlichen Egoismus zurückzufallen. Nur dann ist das Wohl und Wehe des anderen, welches der Zweck meiner Handlung sein soll, auch wirklich nicht mein Wohl und Wehe. Dies kann ich aber nur feststellen und nicht mehr, wie Schopenhauer, mit Rückgriff auf die Metaphysik des Willens erklären.

(…)

§ 25
Einsicht als Vollendung der Erkenntnis

Erkennen kann jeder, einsehen können nur wenige.

Jeder erkennt – ob er will oder nicht: der eine mehr, tiefer, schärfer; der andere weniger, seltener, oberflächlicher, manchmal falsch. Wie der Vorgang des Erkennens vonstatten geht, davon handelt die Erkenntnistheorie. Aber diese ist eben bloß Theorie über die Erkenntnis, welche nicht davon handelt, wie das Erkannte als sicheres, unverrückbares Datum dem Bewußtsein eingefügt wird. Erst ein letzter Vorgang schließt das Erkennen ab und gibt der Erkenntnis eine Bedeutung, indem sie fortan das weitere Denken leitet, Grundlage folgender Erkenntnisse wird oder als Datum zur Planung und Beurteilung von Handlungen dient. Ohne diesen Eingang in das Bewußtsein bleibt jede Erkenntnis bedeutungslos. Dabei ist es unerheblich, ob eine Erkenntnis durch den Verstand, mit den Sinnen, auf dem Wege der Anschauung gewonnen wurde oder mit Hilfe der Vernunft, auf dem Wege der Logik durch abstraktes Denken. Immer ist die Erkenntnis unvollendet, solange sie nicht in den Fundus der dauerhaft gebilligten Erfahrungen und Entdeckungen aufgenommen wurde. Dieses Akzeptieren der Erkenntnis nenne ich Einsicht.

Das Einsehen ist leichter gesagt als getan, denn stets prüft eine durch und durch parteiische Instanz jede Erkenntnis, sofern diese auch nur irgendwie, mittelbar oder unmittelbar, in einem Verhältnis zu dem Erkennenden steht: Diese Instanz, so hat Schopenhauer sie bezeichnet, ist der Wille des Menschen, welchen ich die universale Urkraft nenne, wie sie sich im Menschen darstellt. Denn die universale Urkraft strebt im Menschen danach, sein Dasein zu erhalten, sein Wohlsein zu befördern, seinen Nutzen zu mehren und Leiden zu verhindern. Dieses Streben stellt sich allerdings nun allerlei Erkenntnissen in den Weg. Davon ist jedoch selten die Rede; auch Arthur Schopenhauer schreibt viel und präzise über die Erkenntnis und ihre verschiedenen Formen, jedoch nur selten, dann beiläufig und eher als Synonym, von der Einsicht.

Wenn er im Zusammenhang mit Erkenntnis von der Behinderung durch den Willen schreibt, dann weil dieser sich der objektiven Erkenntnis in den Weg stellt, jedoch nicht der Erkenntnis an sich, d.h. daß er die Erkenntnis schon während des Anschauens, der Erfahrung, des Denkens trübt, aber nicht ihren Eingang in das Bewußtsein verhindert. Über die Urteilskraft, das Bindeglied zwischen der anschaulichen Erkenntnis durch den Verstand und der abstrakten Erkenntnis durch die Vernunft, schrieb er daher: „Wenn nun aber der Mangel an Urtheilskraft meistens durch die Krücke fremder Autorität ersetzt wird; so hat jene außerdem noch einen positiven Feind im Innern, am eigenen Willen, an der Neigung. Immer ist der Wille der heimliche Gegner des Intellekts: daher heißt reiner Verstand, reine Vernunft, ein solcher, der frei ist von allem Einfluß des Willens, d.i. der Neigung, und daher bloß seinen eigenen Gesetzen folgt.“ (Aus Arthur Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß, Abschnitt I. Abhandlungen, Kapitel 1. Eristik – Anhang, hg. v. Julius Frauenstädt, Leipzig 1864)

Reiner Verstand, reine Vernunft, objektive Erkenntnis wäre demnach Erkenntnis ohne Willen, welche jedoch bloß möglich ist, sofern sie ohne Bezug auf den Erkennenden und sein Interesse ist, etwa wenn ich, rein objektiv, die Ästhetik einer fremden Landschaft betrachte. Dies ist allerdings die Ausnahme, alleine weil die meisten Erkenntnisse alltäglicher Art sind und zumeist einen mehr oder minder starken Bezug zu dem Erkennenden haben, also im Verhältnis zu ihm stehen, d.h. daß eine Erkenntnis, je nachdem wie sie ausfällt, das Wohl und Wehe des Erkennenden beeinflußt. In diesen Fällen ist das Akzeptieren einer Erkenntnis nicht ohne Willen denkbar, sondern allenfalls wider Willen. Dieses wäre die Einsicht, welche über der anschaulichen und über der abstrakten Erkenntnis steht, da sie diese erst vollendet und also ein höheres Potenzial des Erkennenden voraussetzt, welches wir als Einsichtsfähigkeit bezeichnen.

Damit dieser Wille des Menschen auch dem Leser faßlich wird, der mit der Schopenhauerschen Philosophie nicht vertraut ist, wollen wir den Willen hilfsweise anders beschreiben; nämlich als die Erscheinungen, in denen er sich unmittelbar äußert, als das Verlangen, der Charakter, das Interesse, die Neigungen, Leidenschaften usw., auch die Vorurteile und Absichten, welche daraus entspringen. Diese sind das Bollwerk gegen die Einsicht und schieben sich zwischen die Erkenntnis und die Einsicht. Der schärfste Verstand zur anschaulichen Erkenntnis, eine ungetrübte Urteilskraft zur Übersetzung dieser Erkenntnis in Begriffe und die strengste Vernunft zur Gewinnung abstrakter Erkenntnisse: Alle diese Anlagen würden selbst dem größten Denker nicht genügen, um von der Erkenntnis zur Einsicht zu gelangen – wenn ihm die Wahrheit nicht gefällt. Daher die vielen Fehlurteile, Borniertheiten, der Irrglaube, die Verblendung, die Unbelehrbarkeit und andere Resultate der Einsichtslosigkeit, welche in der Welt sind und durchaus herrschen, auch die Spießigkeit und der Dogmatismus.

Wir sehen dies bei einer Mutter, die ihre tote Tochter auf dem Seziertisch gesehen hat und nicht einsehen will, daß sie gestorben ist und fortwährend darauf wartet, daß ihre Tochter doch eines Tages nach Hause komme. Wir erleben böse Menschen, welche sich selbst für anständig halten, die wieder und wieder zum eigenen Vorteil anderen Menschen schaden, dies auch erkennen, aber für jede böse Tat eine schlechte Ausrede haben, weshalb sie nicht anders haben handeln können, weil sie ihren widerwärtigen Charakter nicht einsehen wollen. Da ist der Wissenschaftler, der vor vielen Jahren eine wichtige Entdeckung gemacht hat, auf der seine Theorie beruht, die ihm zu Ruhm und allerlei Ehren verholfen hat, und der nun nicht einsehen will, daß seine Theorie falsch war, nachdem ein Fachkollege durch eine andere Entdeckung die Theorie des Wissenschaftlers widerlegt hat.

Ähnlich ergeht es dem Vater, der seinen Sohn als das größte Talent in der Musik erachtet, und sich von keinem fremden Urteil irre machen läßt, auch nicht von der fünfundvierzigsten vernichtenden Kritik eines Virtuosen, welche der Vater samt den anderen Kritiken auf die mangelnde Urteilsfähigkeit der Kritiker zurückführt, nicht auf die fehlende Begabung seines Sprößlings. Dann kenne ich einen, der sich für unschlagbar witzig hält und wohl erkennt, daß er kaum auch nur einen anderen Menschen in vielen Jahren zum Lachen gebracht hat, dieses jedoch durch den allgemeinen Mangel an Humor erklärt, weil er sich nicht eingestehen will, daß er bloß ein biederer, grauer Spießbürger und kein Spaßbürger ist. Dann ist da noch der Mann, der seit Jahren wieder und wieder von seinem Weib betrogen worden ist und sie dabei gelegentlich inflagranti erwischt hat, diesen Betrug also auf schmerzhafteste Weise anschaulich erkannt hat, allerdings nicht einsehen will, daß die Treue seiner Gattin ein Luftschloß ist wie seine ganze Verbindung mit ihr. Und schließlich hören wir den Alkoholiker, der seit zwanzig Jahren täglich säuft, mit lallender Stimme seine entschiedene Auffassung verkünden, daß er jederzeit mit dem Trinken aufhören könne.

Bände ließen sich füllen mit solchen Geschichten, wenn man nur lange genug beobachtet, auch sich selbst; Geschichten, die allesamt davon zeugen, daß Erkennen leicht ist, Einsehen dagegen schwer. Es sind traurige Geschichten, die von einem Fremden so schwierig zu verstehen sind und oft bloß mit einem Kopfschütteln quittiert werden – weil der Fremde nicht selbst betroffen ist, keinen Bezug zu der Erkenntnis hat, weil sein Wille auf gar keine Weise durch das Erkannte erregt wurde. Und doch gäbe es von diesem Fremden ähnliche Geschichten zu berichten, die nun wieder den anderen, welche nicht betroffen sind, bloß ein Kopfschütteln und Verständnislosigkeit entlocken. Allerdings kennen wir auch die anderen Fälle: die Mutter, die den Tod ihres Kindes akzeptiert und um die Tochter trauert; der Wissenschaftler, der seine Theorie widerruft und sich der neuen, besseren anschließt, auch wenn sie nicht seine ist; der Vater, der seinen Sohn aus der Qual entläßt, ein Talent zu trainieren, welches dieser nicht besitzt, und ihn seine eigenen Wege gehen läßt; oder der Alkoholiker, der um Hilfe bittet, weil er sich seine Abhängigkeit und Hilflosigkeit eingestanden hat. Dieses sind die Fälle, in denen einer die Erkenntnisse, die er gewonnen hat, akzeptiert.

Einsicht ist die Erkenntnis des Intellekts nach der Genehmigung durch den Willen. Diese hat nun insbesondere zwei Formen: einmal die Einsicht, welche darauf beruht, daß der Wille nicht so stark ist bzw. darauf, daß die Erkenntnis den Willen nur mäßig erregt und ihm nur unwesentlich zuwider ist, weshalb er keine großen Anstalten macht, sie abzuwehren; und dann die Einsicht, welche dem herausragenden Intellekt zu verdanken ist, welcher sich als stärker erweist als die Affekte, die dem Willen entspringen. Für diese Form der Einsicht kommt der Reflexion eine wichtige Bedeutung zu, die wie für die relative Freiheit des Wollens auch für die Einsicht Schale um Schale der Neigungen, Leidenschaften, Wünsche, Hoffnungen und dergleichen mehr freilegt, in denen sich der Wille äußert. Wenn sich nun in einem Menschen zu einem solchen eminenten Intellekt ein seltener großartiger Charakter gesellt, dem die Liebe zur Wahrheit über alles geht, in den großen wie in den kleinen, alltäglichen Dingen, dann ist der Schritt von der Erkenntnis zur Einsicht nicht mehr schwierig, sondern bloß konsequent.

(…)

§ 35
Bemerkungen über Geist und was damit gemeint ist

Jede Bestimmung, was Geist ist, setzt voraus, daß es etwas gibt, das wir Geist nennen. Für Arthur Schopenhauer ist Geist eine Funktion des Gehirns, mehr nicht. Geist ist bloß das, was wir als Intellekt deklarieren: „Das Wort 'Geist' (…) bezeichnet überall die intellektuellen Fähigkeiten, im Gegensatz des Willens:“ (Schopenhauer, Über die Freiheit des Willens, Kapitel IV. Vorgänger, in: Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Leipzig 1860) bzw. „Jeder Geist, d.h. jedes Erkennende, ist nothwendig endlich“ (Aus Arthur Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß, Abschnitt III. Aphorismen und Fragmente, Kapitel 1. Ueber Philosophie im Allgemeinen usw., hg. v. Julius Frauenstädt, Leipzig 1864). Der Intellekt ist lediglich eine Funktion des Gehirns, welches Objektivation des Willens ist: „Wie der Intellekt physiologisch sich ergiebt als die Funktion eines Organs des Leibes; so ist er metaphysisch anzusehen als ein Werk des Willens, dessen Objektivation, oder Sichtbarkeit, der ganze Leib ist. Also der Wille zu erkennen, objektiv angeschaut, ist das Gehirn;“ (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Kapitel 20, nach: Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke, Dritter Band, hg. v. Julius Frauenstädt, Leipzig 1873). Durch die Gleichsetzung des Geistes mit dem Intellekt und dessen Bestimmung als Funktion des Gehirns wäre der Punkt dann zügig erledigt; Geist wäre damit so etwas wie ein sekundäres Phänomen nach dem Leib und dem Gehirn als Teil davon, eben bloß dessen Funktion.

Unzweifelhaft ist Geist auch eine Funktion des Gehirns, aber nur, soweit er sich darin ausdrückt, nämlich als Aktivität des Gehirns in bestimmten Arealen. Moderne Medizintechnologien, wie etwa die Elektroenzephalographie oder die funktionelle Magnetresonanztomographie, machen nichts anderes sichtbar als eben dieses. Ebenso unzweifelhaft aber ist Geist mehr als bloß eine Funktion des Gehirns, was jeder Mensch bestätigen kann, da er Bewußtsein hat. Was Medizintechnologien sichtbar machen, ist lediglich, daß es Geist gibt und daß er tätig ist, also Nebenerscheinungen der Tätigkeit des Geistes, aber nicht das Wesen des Geistes, den Inhalt seiner Tätigkeit, die Richtung, die Qualität, die Zusammenhänge usw. Kein bildgebendes Verfahren der medizinischen Diagnostik kann darstellen, was einer denkt, fühlt, empfindet usw., sondern bloß daß er es möglicherweise tut. Der Grund hierfür ist, daß sich nicht das Gehirn in der Tätigkeit des Geistes darstellt, sondern Geist in der Tätigkeit des Gehirns. Daß ein Gedanke in seinem Wesen etwas ganz anderes beinhaltet als das, was das Bild auf dem Monitor des Neurowissenschaftlers zeigt, ist eine unmittelbare Tatsache des Bewußtseins jedes denkenden Menschen.

Ebenso unzweifelhaft ist, daß nicht nur der Erkenntnisapparat das Wesen und den Inhalt des Geistes ausmacht. Neben dem Intellekt sind der Charakter, Neigungen, Temperament, Empfindungen usw. prägende Anteile des Geistes, da sie keine Attribute des Leibes sind, auch keineswegs nur Funktionen eines seiner Organe; und doch sind sie unbestreitbar da, nur dem Subjekt unmittelbar zugänglich, Beobachtern dagegen als Äußerung des Leibes, als Handlung oder Sprache, also nur mittelbar und nur mit dem Risiko einer Täuschung. Auch diese Anteile des Geistes lassen sich durch bildgebende Diagnostik sichtbar machen, da sie auch Funktion des Gehirns oder anderer Organe sind, aber eben nur soweit sie sich darin ausdrücken. So kann der Neurowissenschaftler auf seinem Monitor sehen, daß einer fühlt, begehrt oder erregt ist, jedoch bleibt ihm verborgen, warum der Proband fühlt, was er begehrt oder wodurch er erregt ist. Diese nicht-intellektuellen Komponenten des Geistes sind also ebenso wie der Intellekt Funktionen des Gehirns, der Nerven und gegebenenfalls weiterer Organe, jedoch sind sie dies nicht nur und nicht einmal im Wesentlichen.

Was Geist nun ist, dazu gibt es zahlreiche Erklärungen. Oft wird der Begriff leichthin gebraucht, etwa im Begriffspaar Körper/Geist, sowohl um die Heterogenität beider als auch ihre Dualität auszudrücken, ohne genaue Mitteilung darüber, was mit Geist gemeint ist. Allerdings gibt der antithetische Zusammenhang beider Begriffe einen Anhaltspunkt, wie sich das, was Geist ist, unbestreitbar bestimmen läßt, nämlich negativ: Geist ist etwas, das nicht Materie ist. Da die Dualität von Körper und Geist nur für Lebewesen gilt, ja geradezu das Wesensmerkmal eines lebendigen Wesens im Gegensatz zu unorganischen Dingen ist, läßt sich Geist desweiteren so bestimmen: Geist ist etwas, dessen Erscheinung, wie die des Körpers, individuell ist.

Einige Argumente aus der Debatte über sogenannte künstliche Intelligenz weisen darauf hin, daß Geist mehr als bloß eine Funktion des Gehirns sein muß. Die Frage, ob Rechenmaschinen fühlen können, beantworten einige Protagonisten der Debatte so: Wenn solche Maschinen nur entsprechend konstruiert sind, sollen sie auch fühlen können. Dieser Auffassung würde, auf den Menschen übertragen, die Annahme entsprechen, daß Fühlen, wenn wir es zum Geist hinzurechnen, wie das Denken eine Funktion des Gehirns ist, also etwas wie der Betrieb einer Rechenmaschine. Wie eine Maschine fühlt, also wie ein Reiz oder ein Eindruck von ihr interpretiert wird, das muß ihr allerdings vorgegeben werden.

Der Physiker Roger Penrose phantasiert über eine Maschine, die Lust und Schmerz empfinden können soll. Sie soll Lust suchen und Schmerz meiden, was Menschen generell als Antrieb unterstellt wird; es wird also ein hedonistisches Schema als ausnahmslos gültig angenommen (was zu bestreiten wäre). Penrose betrachtet es als eine leistbare Rechenoperation, eine Maschine so zu programmieren, daß sie Lust sucht und Schmerz meidet. Aber: Was Lust ist und was nicht, was Schmerz ist und was nicht, das muß der Maschine vorgegeben werden, etwa durch einen Programmierer. Daß sich das nicht von selbst versteht, daß Fühlen, Leiden, Erfreuen und dergleichen mehr keineswegs bloß das Durchlaufen irgendwelcher Operationen ist, sondern bestimmter Operationen, daß diese also nicht nur Funktion, sondern auch Qualität ausdrücken, deren Parameter erst zu bestimmen sind, das räumt Penrose ein, indem er beispielsweise schreibt: „Wir müßten unser Gerät noch mit anderen 'Zielen' versehen“ oder „vielleicht könnten wir ihm eine 'Sehnsucht' nach Gemeinschaft mit anderen Geräten seiner Art einpflanzen“ (Penrose, Computerdenken, Kapitel 1. Kann ein Computer Geist besitzen?, Heidelberg 1991).

Geist ist also mehr als nur der Vollzug von Funktionen wie Rechnen, Anschauen, Denken oder Sprechen bzw. die Anwendung von Begriffen, zu denen allein ein Computer nur durch sich selbst schon nicht in der Lage wäre; auch das Fühlen als Reaktion auf Motive oder Reize, welches als physiologische Reaktion ebenfalls durch eine Maschine simuliert werden könnte, setzt Vorgaben voraus, welche Reize und Motive wie zu interpretieren sind. Mehr als intellektuelle und emotionale Akte des Geistes macht also die moralische Steuerung, die Richtung des Geistes, sein Wesen aus: Charakter und Temperament, elementare Anteile des Geistes eines Menschen, geben ihm erst sein Profil, das ihn von dem Geist anderer Menschen unterscheidet.

Erst in diesem Sinn ist Geist etwas Individuelles. Seine moralische Qualität ist die maßgebende Komponente und konstitutiv für den Geist eines Menschen. Die gleiche Operation, etwa das Erkennen eines Verhältnisses zwischen zwei Dingen, kann in dem Geist eines Menschen ein Urteil auslösen, welches völlig unterschieden ist von dem in dem Geist eines anderen Menschen. Diese Richtung, die ein Geist einschlägt, ist allerdings nicht von anderen Menschen vorgegeben wie bei der Maschine, sondern mit auf die Welt gebracht worden, das heißt in ihr stellt sich die universale Urkraft unmittelbar individuell dar. Die moralische Richtung eines Geistes ist Objektivation des individuellen Willens zum Leben.

Gegen die Annahme, daß Geist bloß Intellekt und als solcher Funktion des Gehirns ist, geht die Physiognomik im Gegenteil so weit, äußere Merkmale des Körpers als abhängig von der Wesensart des Geistes zu betrachten. Beide Auffassungen haben eine inhärente Neigung, das eine aus dem anderen zu erklären bzw. umgekehrt. Dagegen steht die unbestreitbare Dualität von Körper und Geist in einem Menschen, ohne daß wir den einen auf den anderen zurückführen können. Körper und Geist sind miteinander, jedoch jeder für sich unabhängig voneinander, Objektivation des Willens, das heißt Selbstdarstellung der universalen Urkraft in einem Individuum.

Gemäß der Annahme, daß Geist das ist, was unbestreitbar als Tatsache des Bewußtseins gegeben, nicht materiell und individuell ist, lassen sich die drei Komponenten des Geistes einteilen in die moralische Richtung, emotionale Akte und intellektuelle Tätigkeit. Zur moralischen Komponente gehören alle Merkmale, die wir als Charakter, Temperament, Neigung oder Interesse bezeichnen. Sie prägen das Wesen des Geistes, sind gleichbleibend, gewissermaßen seine Identität und keiner Kausalität unterworfen. Zu den Emotionen zählen wir alle Empfindungen und Erregungen wie Freude, Trauer, Schmerz, Wut oder Angst, welche auf äußeren Anlaß hervorgerufen werden, also situativ bzw. kausal bedingt sind. Unter die intellektuellen Tätigkeiten fallen alle Operationen, die wir als Anschauung, Vorstellen (von Bildern, Tönen usw.), Erkennen, Bewußtsein, Denken, Rechnen oder Erinnern kennen. Kennzeichnend für diese Akte ist, daß sie den Geist im Zeitverlauf kontinuierlich erweitern. Wie die Emotionen sind auch die intellektuellen Operationen kausal bedingt, das heißt dem Verhältnis von Ursache und Wirkung unterworfen.

In der Erscheinung eines Individuums tritt Geist als Dualität mit dem Körper auf, weshalb man meinen könnte, daß der Geist mit dem Körper im Tode untergeht. Dies anzunehmen bedeutet jedoch, das Wesen des Geistes zu verwechseln mit seiner Tätigkeit, welche wir nur mit den beschränkten Mitteln unseres Erkenntnisapparates wahrzunehmen vermögen. Geist ist nicht der Wille selbst bzw. die universale Urkraft, jedoch ist Geist, wie der Körper, Selbstdarstellung der universalen Urkraft im Individuum bzw. Objektivation des Willens mit Schopenhauers Terminologie. Insbesondere im Charakter haben wir eine Komponente des Geistes, welche unmittelbar aus dem Willen abgeleitet und individuell ist. Sie gibt dem Geist eines Menschen sein Gepräge, läßt ihn mit den Mitteln des Intellekts erkennen, beurteilen, entscheiden usw., also durch den Intellekt, jedoch nicht von diesem ausgehend. Da etwas nicht aus Nichts entstehen kann, sondern seine Bestandteile immer schon vorhanden gewesen sein müssen und ewig weiterbestehen werden, was für den Körper sofort einleuchtet, ist es gar nicht denkbar, daß der Geist eines Menschen gleichsam aus dem Nichts auftaucht und mit dem Tod wieder verschwindet. Ob und wie unser Geist vor und nach unserer Existenz allerdings tätig sein kann, bleibt unserer Erkenntnis verborgen, da sich diese selbst nur als tätiger Geist in einem Körper kennt; daraus jedoch zu schließen, daß ein Geist ohne Körper nicht tätig sein kann oder gar, daß es ihn ohne Körper gar nicht geben kann, ist so vermessen wie die Überzeugung, daß niemand da sei, weil man die Augen geschlossen hält.

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