„Ich war ein anderer damals. (…) Ich meine (…), dass ich nicht ich war, wie ich jetzt ich bin, wie ich werden musste.“, erklärt Stephen Dedalus am Ende von James Joyce' erstem Roman „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“. „Er besaß kein Talent zur Zufriedenheit, und seine Lebenslust, die sich aus der Quelle der Rastlosigkeit speiste, war aufrichtig und ansteckend. Auch sein Hang zur Selbstanalyse und sein Vernunftdenken sollten ihn angesichts seiner eigenen Schwächen und der Undurchschaubarkeit der Welt noch des Öfteren zur Verzweiflung bringen. (…) Die Wolken hatten nicht nur über den Tag, sondern auch über sein eigenes, wundersames Erwachen einen Schatten gebreitet, und der Wind hatte Fragen und Zweifel gebracht. Mit der Askese der frühen Jahre gehörte auch die bedingungslose Zuversicht der Vergangenheit an, und sein Blick auf die Welt war nicht mehr von Kinderglaube und Unschuld bestimmt.“ Nein, nicht James Joyce erzählt hier, sondern Kenneth Mackenzie. Der jung verstorbene australische Autor erhielt 1937 für seinen ersten, stark autobiografischen Roman, den er mit siebzehn zu schreiben begann und der weitgehend von seiner eigenen Schulzeit in der Guilford Grammar School in Perth geprägt wurde, die „Australien Literatur Society Medal“ in Gold. Leider konnte er danach nicht mehr an seinen Erfolg anknüpfen und Werk und Name versanken im Vergessen. Nun wurde er wiederentdeckt und kann vor allem sprachlich begeistern und verzaubern.
Die Geschichte an sich ist relativ simpel: Ein bis dato allein mit seiner Mutter sorgenfrei und wohlbehütetet aufgewachsener, intelligenter, hochsensibler, fünfzehnjähriger Knabe wird in ein angesehenes Internat geschickt. Dort drangsalieren ihn seine Mitbewohner aufgrund seiner Unbedarftheit und konfrontieren ihn damit beinahe hilflos mit seiner eigenen Individualität. „Im Vergleich zu seinen Mitschülern wirkte Charles tatsächlich wie jemand aus einem entlegenen Land, der ohne Kultur aufgewachsen war, ein Besucher aus dem Reich der Kindheit, wo er in dem unschuldigen Palast lebte, den seine Altersgenossen schon vor langer Zeit verlassen hatten. Seine Unschuld gründete aus Unkenntnis: Er hatte nie gelernt, seinen Mitmenschen zu misstrauen und sich vor ihnen in Acht zu nehmen…“ Für seine Altersgenossen ist er ein unnahbares, unbegreifliches Wesen, dessen Rätselhaftigkeit ihn zu einer potenziellen Gefahr macht, „nicht unmittelbar vielleicht, aber in indem er etwas verkörperte, das ihnen fremd war.“ Gleichzeitig zieht der hübsche junge Bursche unwissentlich die letztendlich stetig steigernde sexuelle Aufmerksamkeit eines jungen Lehrers, des 25-jährigen Oxford-Absolventen Penworth, auf sich. Doch Charles Wallungen gelten eher Margaret, einem gleichaltrigen Mädchen, das er in den Ferien zu Hause trifft. Sie wird, nach seiner persönlichen Entdeckung der Werke Shakespeares, seine Julia, er der zerrissene Romeo: „In ihrer stillen Würde erinnerte sie ihn an sonnige Tage in den tiefen Tälern jener Berge, die sich gerade im Regen versteckten. Tage voller Erwartung, ruhig und golden, aber auch hellwach, Tage, die leuchteten wie Mädchen und einem genauso viele verstörende Rätsel aufgaben.“
Der Roman entpuppt sich als eindrucksvolles, ja besonderes Buch, das vor allem durch die Intensität seiner Hauptfigur Charles Fox, der die Welt für sich entdeckt und erfährt, lebt. Sei es eine geschilderte Bahnfahrt, ein Naturempfinden beim Schlendern über einer Wiese oder die vor Prüfungsangst zitternden Knie, die Sprache der geschilderten prosaischen Szenen versetzt den Leser unweigerlich zurück in seine eigene Zeit der wundersamen und rückblickend beinahe erschreckenden Emotionsextreme. Eindrucksvoll und voller Pathos gelingt Mackenzie das beunruhigende und aufregende Gefühl des Unfertigen und Erwachenden in der Pubertät wiederzugeben, auch wenn seine Sprache dem ein oder anderen vielleicht etwas manieriert erscheinen mag. Angesiedelt im ländlichen Westaustralien in den 1920er Jahren, ist die Landschaft vielleicht der lebendigste Charakter des Buches. Dem schwülwarmen Sommer und regennassen Winterstürmen setzt Mackenzie wirkungsvoll die Formalität und den hoheitsvollen Anstand der Schule entgegen. Der Plot wird durch die Jahreszeiten getragen und Charles mit seinen langsam erwachenden Wünschen und Gefühlen, verschmilzt in seiner Freude aber auch Trauer zu einem Teil dieser Landschaft.
Selbst wenn in diesem frühen Werk Kenneth Mackenzies Stil durchaus noch etwas ungeschliffen wirkt und der Autor zuweilen zwischen den Charakteren scheinbar willkürlich hin- und herspringt, schleift er dieses Rohe und Unbehauene mit seiner Sprache und kehrt dabei seine leidenschaftliche, starke und wirkungsvolle Seite hervor: die eindrucksvolle Widergabe der gefühlsgeplagten, „krausen Gemengelage“ der Gedanken seines Protagonisten, der „in den stürmischen Sog einer Traurigkeit, die an seinem Herzen zupfte“ gerät. Doch „über dem Puls seiner träge vor sich hin pochenden Gedanken lauschte er dem Regen und wusste, dass dieser bald nachlassen würde, doch in den Zweigen raschelte weiter der Wind.“
Fazit: Ein Buch aus einem Muster von Farben und Gefühlen, einer Mischung aus Schmerz und Freude. Ein Entwicklungs- und Bildungsroman über Unschuld, die Einsamkeit und sexuellen Sehnsüchte eines Heranwachsenden, der zugleich ein beispielhaftes Stück australischer Literatur darstellt: ein junger Mann, aufgewachsen in einer jungen Nation, beide wild und schön und beide versuchen ihren Platz in der alten Welt zu finden. Dem Protagonisten in James Joyes' Debüt: „Die Vergangenheit geht in der Gegenwart auf, und die Gegenwart lebt nur, weil sie die Zukunft hervorbringt.“, setzt Kenneth Mackenzie entgegen: „Hier, unter so vielen Menschen. Ein Mikrokosmos, der den Makrokosmos der Welt spiegelt. Ein Gleichnis des Lebens – so viele Menschen, und alle allein.“
Kenneth Mackenzie
Was sie begehren
Aus dem Englischen von Viola Siegemund
Titel der Originalausgabe: The Young Desire It
Hanser Berlin Verlag (Juli 2014)
349 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446246444
ISBN-13: 3446246447
Preis: 21,90 EUR
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