Das Jahr 2020 ist so etwas wie der Rock’n’ Roll der Geistesgeschichte – der deutschen insbesondere. Denn, wenn es so etwas wie eine intellektuelle Achsenzeit gab, von der Karl Jaspers einst mit Blick auf die Entstehung der großen Denkgebäude in der Zeitspanne von 800 bis 200 vor Christus sprach, dann war das Jahr 1770 eine Renaissance einer geistigen Grundlegung der gegenwärtigen Menschheit aus dem Geist der Aufklärung heraus. Immanuel Kant und Friedrich Schiller hatten sie entzündet, Ludwig van Beethoven, Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel zu je eigenständiger Wirkungshöhe entfaltet. Ob sich in der Musik Beethovens die befruchtenden Ideen der europäischen Aufklärung in das musikalische Freiheitsideal transformierten, ob der moderne Grieche Friedrich Hölderlin die Welt mit seinen Hymnen wach geküsst hatte oder Georg Friedrich Wilhelm Hegel den absoluten Weltgeist in die Endlichkeit entließ, alle drei haben Geistesgeschichte geschrieben, die Welt verändert. Sie waren die Matadore ihrer Zeit und ihr geistiges Erbe ein Schatz, der in den folgenden Jahrhunderten immer wieder neu gedeutet wurde, aber nie an Glanz verloren hat. Vollendungsgestalten der Freiheit waren alle drei. Die Rebellion gegen die Tyrannei, die Unterdrückung und die Versklavung der Seele durch das Reich der Despotie ausdrücklich erklärte Kampfzone. Die Französische Revolution verklärten sie zur Geburtsstunde eines neu erwachten Selbstbewusstseins, die nicht nur die absolute Monarchie auf den Scheiterhaufen warf und die Freiheit in die Galeeren verbannte, sondern das revolutionäre Frankreich wurde als Altar einer neuen Freiheit gefeiert, das nun den neuen Gott – samt seinen Idealen der Brüderlichkeit und Gleichheit – an die Stelle der alten Metaphysik treten ließ.
Friedrich Hölderlin – Die Idee der Humanität
Friedrich Hölderlin erblickte vor 250 Jahren am 20. März in Lauffen am Neckar das Licht der Welt. Von Selbstermächtigung einerseits, von tiefen Selbstzweifeln andererseits angetrieben, war Hölderlin ein Temperament, das zwischen Euphorie und tiefer Leidseligkeit nebst Weltanklage litt und schwankte. Eine fast typische romantische Existenz könnte man meinen, wenn er im Augenblick Glückseligkeit atmete und auch dann, wenn er in den Wirren der inneren Existenz zum Philosophieren neigte. Doch Romantiker war Hölderlin nie, Kunst für ihn nie bloßes „Ereignis“, Happening oder „Universalpoesie“.
Es war ein großartiges Jahrhundert, in das die drei Denker, Dichter und Musiker hineingeboren wurden– durchaus ebenbürtig der Antike, der Renaissance und dem Mittelalter. Lessing hatte für mehr Toleranz unter den Religionen geworben, Immanuel Kant die Fackel der Aufklärung von David Hume und John Locke endgültig entzündet und Johann Gottlieb Fichte das absolute Ich zum Ausgangspunkt aller Philosophie gemacht. Der Königsberger Kant war Markstein, Quelle und Überbietungsanspruch zugleich, denn mit seinem wohlbekannten „Ding an sich“, der immanenten Unerkennbarkeit der Welt oder Gottes wollte man sich nicht zufrieden geben. Kant und Fichte galt es gleichermaßen zu überbieten – und dazu hatten sich die Tübinger Jugendfreunde Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel eingeschworen. Ihre gemeinsame Schrift war Programmansage. „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ist nichts anderes als der Entwurf kantischer Überbietung. Eine „unsichtbare Kirche“ wollten sie gründen, eine Kirche der Liebe gegen die kategorische Macht des Imperativs der Pflicht stellen. Und über allem sollte die Fahne der Freiheit wehen. Eine Revolution der Denkungsart sollte es sein – und Hölderlin schickte sich an, dieses Projekt eigenständig zu verwirklichen.
Die Idee der Humanität
Hölderlin, der Dichter der Schwaben, der wie Friedrich Nietzsche erst posthum Weltruf genießen sollte, hatte es nicht leicht mit sich und der Welt, an der er litt, weil sie eben nicht so vollkommen wie die gelobte Antike war, weil sie so sehr im Gewöhnlichen und Unmenschlichen, in Knechtesgeist und Unfreiheit siedelte und so voller Ungerechtigkeiten und fern der unendlichen Idee des Humanums war. Nie sollte er glücklich sein durch Liebe in dieser Welt der „Götterferne“. Der Dualismus der Welt machte ihn krank, trieb ihn zu Spinozas Pantheismus und Friedrich Schillers großartiger sittlicher Ästhetik. Der revolutionäre Denker des Sturm und Dranges, der feinsinnige Marbacher Dichter, Geschichtsphilosoph und der Verfasser der Erziehungsbriefe, dem Ästhetik zur Bürgerpflicht und eine Ästhetisierung der Gesellschaft als Ideal vorschwebte, ihm war Hölderlin innig verbunden.
Schiller, der Hölderlin oft „das ist mein liebster Schwabe“ nannte, galt als Idol der Freiheit im pietistischen Schwaben und stellte zugleich den Gegenentwurf zum absoluten Monarchismus des württembergischen Regenten dar. Hölderlin wird ihm hier folgen. Freiheit als spontaner Akt des Schöpferischen wird für den Dichter aber eben nicht philosophisch erdacht, sondern poetisch vollzogen, denn es bleibt die Poesie, die die Wirklichkeit stiftet. Poesie, und so will sie Hölderlin dichten, ist nicht Welt abbildend, sondern Welt erschaffend. Und was der Philosophie scheinbar nicht gelingt, vermag wie im „Hyperion“ die Poesie, denn sie allein kann die Trennung des Daseins überwinden und die Seynsverbundenheit erreichen. Oder anders formuliert: Das Seyn, das Hölderlin meint, ist das Reich der Schönheit und im künstlerischen Schaffen vereinigt sich Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Durch dieses freie Spiel der Kräfte im Menschen eröffnet sich die Möglichkeit der Schönheit und der Künstler überwindet die Kluft zwischen „Urtheil“ und „Seyn“. Nun erst erfährt er sich in inniger Seinsverbundenheit als Akteur, der die Wirklichkeit gestaltet, der „tätig“ die Welt aus Freiheit verändert, wie es schon in Goethes „Faust“ hieß.
Liberaler Weltentwurf
Hölderlins Vision bleibt eine freie Menschheit, wo Individuum und Gesellschaft, wie einst bei Schiller, ineinander spielen, wo Kunst als Imperativ der Freiheit den neuen Menschen hervorbringt, der den Idealen der Französischen Revolution und des liberalen Weltentwurfs zugeneigt ist. Hölderlin wäre sicherlich heutzutage ein Verfechter des Grundgesetzes und der „Charta der Vereinten Nationen“. Ein Mensch, der auf freier Erde steht und die Schöpfung zu bewahren sucht. Er wäre ein Naturfreund, ein ökologischer Denker, der die Natur nicht auf ihre bloße Materialität verkürzt, sondern diese als eine unendliche Kraft verstehen würde, die nicht vernutzt und ausgebeutet werden darf, sondern die liebevoll zu umhegen und zu pflegen sei.
Damit wäre Hölderlin heute einerseits ein „Grüner“, aber andererseits auch ein Konservativer. Er will bewahren, ohne dogmatisch zu sein. Er sucht aus der Geschichte heraus in die Zukunft zu greifen, ohne die Menschheit besserwisserisch zu belehren und zu bevormunden. Er will den Menschen vielmehr dazu anstiften, das Bessere zu tun und moralisch-praktisch tätig zu werden.
Ludwig von Beethoven – Musiker der Freiheit
Vor 250 Jahren, am 17. Dezember 1770, wurde er in Bonn geboren, das Genie Ludwig van Beethoven. Und er war der Revolutionär in Geist und Musik, Sprengstoff pur, emotional wie ein Vulkan, ein Übermensch, der für eine neue Epoche der Musik steht und Mozarts fulminanter Klassik seine Symphoniekantate entgegensetzen wird. Bekannte sich der Salzburger Wunderknabe Mozart bereits in, „Le nozze di Figaro“, im „Don Giovanni“ und in der „Der Zauberflöte“ zu den freiheitlich-bürgerlichen und antimonarchischen Idealen der Freimaurer, folgt ihm Beethoven dann, wenn er sich selbst als glühender Verfechter der französischen Revolutionsideen versteht, die er später in seiner 9. Sinfonie als sein höchstpersönliches Glaubensbekenntnis heroisch manifestiert.
Der Ruf nach Freiheit war explosiv
Was 1789 als Französische Revolution begann, hatte die Weltgeschichte gründlich verändert und die Fundamente der Moderne gezimmert. Es war der Sieg der Aufklärung über den Absolutismus. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit pfiff es durch die Gassen und zündete dann in den Köpfen jene Feuer, die seither für die Freiheit brennen. Den deutschen Idealisten und Romantikern wurde Freiheit zum Losungswort von Dichtung und Kultur. Für den Bonner Ludwig von Beethoven aber wurde sie zur Passion. Schillers Ode „An die Freude“ ist es, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird, die er aber erst 1824, drei Jahre vor seinem Tod, grandios und gigantisch in Musik vollenden kann.
Schillers Ode, das, „umschlungen Millionen“ im vierten Satz von Beethovens Neunter, war für den Bonner das Menschheitsideal. Und wie sich einst Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den 90ziger Jahren des 18. Jahrhunderts über den „Policeystaat“ beklagt, so litt auch Beethoven an der Bespitzelung, an der Restaurationsbemühungen hinter die Ideale der Französischen Revolution zurückzufallen und einem aufstrebenden Adel unter Metternich nach dem Wiener Kongress 1814/15. „Sprecht leise! Haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“, heißt es bekanntlich im Freiheitschor der einzigen Oper, dem „Fidelio“. Der Ruf nach Freiheit drohte in Deutschland zumindest wieder zu ersticken. Und wie einst Jean-Jacques Rousseau ein „Zurück zur Natur“ einklagen wird, so ist Beethovens Neunte ein Aufruf an das entmündigte Bürgertum, liberal, grenzenlos, für die Ewigkeit der Menschheit gedacht. Ein globaler Freiheitsruf par excellence, der mit Schiller an das Frankreich im Jahr 1789 erinnert und die Bande neu knüpfen will.
Beethoven war ein glühender Verfechter der französischen Ideen und Schiller lieferte den Stoff dazu. 1885 hatte der Dichter in Leipzig-Gohlis für seinen Freund Körner, wie Mozart ebenfalls Freimaurer und Aufklärer, die Strophen geschrieben, die Weltgeschichte machen sollten. Der Verve der Ode war geballte Kraft eines Genius, der sich die Freiheit geradezu aus der Seele schreibt. Dieser Wille zur Unbändigkeit, die bestehende Ordnung kritisch zu hinterfragen, diese Lebendigkeit und dieser Pathos der Freiheitsbeschwörung haben Beethoven, der seit 1802 zunehmend an Schwerhörigkeit litt und dies im berühmten „Heiligenstädter Testament“ verewigte, beflügelt, gegen das Räderwerk des Absolutismus zu opponieren. Diese Energie hat dem Krankheitsgeplagten immer wieder das Blut in den Adern auflodern lassen.
Georg Friedrich Wilhelm Hegel – Der Geist entfaltet sich zur Freiheit
Georg Friedrich Wilhelm Hegel, am 27. August 1770 in Stuttgart geboren, ist das, was man heute einen geistigen Allrounder nennen würde. Der ehemalige Hauslehrer in Bern und Frankfurt, der spätere Professor in der Intellektuellenschmiede Jena, dem geistigen Athen der damaligen Zeit, der Chefredakteur der Bamberger Zeitung, späterer Rektor des Egidiusgymnasiums in Nürnberg und Rektor der Berliner Universität, bleibt eine Enzyklopädie des Wissens. Er agiert interdisziplinär, weil es ihm doch um nichts Geringeres als um die Erklärung der Welt im Ganzen geht. Nicht unbescheiden ist er dabei. Hegel will nichts anderes als die Welt in ihrer Totalität, in ihrer Erscheinung, in ihrem Werden und Vergehen und letztendlich damit als einen dialektischen Prozess verstehen, an dessen Ende die Philosophie des Geistes als die vollendete Freiheit steht. Objektivität des Wissens heißt das bei ihm. Aber diese ist nicht bloß gesetzt, sie kämpft sich vielmehr durch die Geschichte hindurch. Sie ist nicht Produkt, sondern Resultat eines Denkprozesses, der immer im Werden ist, stets auf der Spur, sich weiter zu entfalten. Das bedeutet, Bestehendes in Frage zu stellen und stetig einen Neuanfang des Wissens zu wagen. Nichts anderes als eine Genese des Wissens schwebt ihm vor, ein beständiges Fortschreiten des Geistes in all seinen Erscheinungen, sei es in der Natur, Gesellschaft, Sittlichkeit, Recht und Staat. Inmitten dieses Prozesses steht die freiheitliche Selbstentfaltung des Geistes. Ihr obliegt es, sich aus Freiheit auch an das Notwendige und an die reale Welt zu binden, um zu noch größerer Freiheit zu gelangen. Diese Genese des Geistes, seine Dialektik, zeichnet er in seinen großen Werken, in der „Phänomenologie des Geistes“, in der „Logik“ und in seiner „Rechtsphilosophie“ nach.
Hegel war der wohl revolutionärste Geist im Stift
Wie sein Stubenkollege im Tübinger Stift, wie Hölderlin, war Hegel ein begeisterter Anhänger der Ereignisse des Jahres 1789. Mehr noch als Hölderlin wird Hegel die Ideale der Revolution buchstäblich in seine Philosophie einschreiben. Im Tübinger Stift wurde der gesellige, weniger sprachbegabte Denker und Prediger, aber umso mehr trinkfester Philosoph sogar als Konterrevolutionär geführt. Einen für die Tübinger Eliteuniversität liberalen Club hatte dieser junge Hegel federführend mit initiiert. Der pietistischen Obrigkeit war das alles ein Dorn im Auge. Hegel war der wohl revolutionärste Geist im Stift – und sein Kampf galt Despotismus, Pietismus und der Monarchie gleichermaßen. Ein Alleszertrümmer wollte er sein und doch wandte er sich spätestens 1794 vom Terror der Jakobiner ab und wird ein gemäßigter Giondist. „Die Antwort, die Robespierre auf Alles gab […] war: la mort ! Ihre Einförmigkeit ist höchst langweilig, aber sie paßt auf Alles.“ Den Jahrestag der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 hatte der Philosoph zeitlebens – gern in aller Öffentlichkeit – gefeiert. Was er an diesem Tag jedes Jahr schwungvoll begoss war der Umstand, dass sich „der Mensch“, wie es in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ heißt, in der Revolution erstmals „auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken [ge]stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut“ habe.
Neues Hegelbild
Man muss es eigentlich als Widerspruch verzeichnen, dass Hegel in der Rezeptionsgeschichte lange als der konservative Staatsphilosoph galt, der sogar den absolutistischen preußischen Staat legitimierte. Karl Popper hatte ihm als Vordenker des Totalitarismus im 20. Jahrhundert gegeißelt und ihm vorgeworfen, dass der Staat alles, das Individuum aber nichts sei. Dank der neuesten Hegelforschung, die sich maßgeblich einer großen Biographie des Jenaer Forschers Klaus Vieweg verdankt, ist das reaktionäre Hegelbild obsolet geworden. Hegels Staatsverständnis ist sogar insofern modern, weil Allgemeines und Besonders, Idee und Faktum sich in einer Einheit bündeln, wo der Staat die Freiheit des Einzelnen schützt. Der Staat als das Allgemeine muss die Freiheit aller besonderen Einzelnen repräsentieren und gewährleisten. „Der Staat bei Hegel, dies bleibt entscheidend, ist jeder Bürger selbst und zwar in seinem Status als Bürger, in zweiter Hinsicht ist der Staat eine Institution, die aber dazu dienen muss, die Freiheit und das Recht aller Einzelnen zu garantieren“, so der Jenaer Hegelexperte.