Die Dekadenz der evangelischen Kirche

Jesus am Kreuz, Foto: Stefan Groß

Das Christentum verschwindet zunehmend aus der deutschen Gesellschaft. Schuld daran sind vor allem die Kirchen selbst, besonders die evangelische Kirche. Beispiele dafür sind ihre Behandlung von Homo-Ehe und Abtreibung. Doch Religion wird in Deutschland nicht verschwinden. Vielleicht tritt der Islam in das Vakuum, welches die christlichen Kirchen hinterlassen.

von Adorján F. Kovács

Das Christentum ist schon seit den ersten Tagen seiner Entstehung von innen und außen angegriffen worden, seit der Aufklärung aber besonders effektiv. Schon damals war zu erkennen, dass die meisten der kirchenkritischen Aufklärer eine Ausbildung auf jesuitischen oder anderen kirchlichen Schulen bekommen hatten; Voltaire sei hier stellvertretend genannt. Sie waren also zu einer geistigen Freiheit erzogen worden, die es ihnen ermöglicht hat, diejenige Institution kritisch anzugreifen, die sie ausgebildet hat. Im 19. Jahrhundert setzten sich die Angriffe, nun vermehrt von außen, insbesondere durch den atheistischen Marxismus fort bis zum Versuch der staatsterroristischen physischen und geistigen Auslöschung im Kommunismus des 20. Jahrhunderts. Im kapitalistischen Westen, v. a. aber in Deutschland, hat die kulturrevolutionäre Bewegung seit den 1960er Jahren auf friedlichem Wege zu einer fast völligen Verdrängung des Christentums aus dem öffentlichen Raum geführt.
Das bemerkenswerteste an dieser Entwicklung war nun, dass diese teilweise nihilistische, jedenfalls kulturrelativistische Bewegung auch Eingang in die Kirchen selbst gefunden hat. Das kirchlich verfasste Christentum hat auf diese letzte Herausforderung nicht nur keine Antwort gegeben, sondern sein öffentliches Erscheinungsbild, seine öffentliche Rolle lässt heute erkennen, dass von einer essentiellen Übereinstimmung ausgegangen werden muss. Diese Diagnose, und ich orientiere mich im folgenden am deutschen Philosophen Günter Rohrmoser, betrifft Teile der Katholischen Kirche seit dem Zweiten Vaticanum, v. a. aber die Evangelische Kirche in Deutschland. Sie hat schon zur Zeit der „Deutschen Christen“ die nationale und völkische Bewegung zum Kontext und Prinzip der Auslegung der Verkündigung und ihres Verhaltens gemacht und ist auch heute völlig mit der aktuellen Politik und dem Zeitgeist eins geworden – das Phänomen ist identisch, nur die Vorzeichen sind geändert. Kirche, die dem Zeitgeist huldigt, braucht man nicht und macht sich unnötig.
So meldete der epd, dass homosexuelle Paare in der Evangelischen Kirche im Rheinland künftig vor den Traualtar treten können. Die Synode der zweitgrößten deutschen Landeskirche beschloss am 15. Januar in Bad Neuenahr die völlige Gleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern und verheirateten Paaren. Die Trauung der homosexuellen Paare ist eine offizielle Amtshandlung, die in die gleichen Kirchenbücher eingetragen wird wie bei heterosexuellen Ehepaaren. Nun ist von Jesus kein einziges Wort zur Homosexualität überliefert und eine Neuorientierung kirchlicher Praxis im Umgang mit Homosexuellen ist von daher natürlich denkbar und wünschenswert, aber er hat sich in Mk 10,6-9 so eindeutig über die Ehe zwischen Mann und Frau geäußert, dass diese christlich nicht als eine Lebensform unter anderen gewertet werden kann. Genau das macht aber die EKD im Einklang mit der Politik und verlässt damit den Boden des Christentums.

Der menschheitsversöhnende Friedenszustand
Der trotz des Untergangs des kommunistischen Ostblocks immer noch vitale Sozialismus bleibt die bestimmende Ersatzreligion großer Teile der deutschen Bevölkerung, besonders der Intellektuellen und Medienleute. Der Sozialismus ist der Versuch, in dieser Welt das einzulösen, was das Christentum angeblich immer versprochen hat: einen menschheitsversöhnenden Friedenszustand, einen Zustand der definitiven Befreiung des Menschen mit der Befriedigung aller materiellen Bedürfnisse. Realiter hat dieses Versprechen allerdings am ehesten der westliche kapitalistische Sozialstaat eingelöst, der jedoch heute spürbar an seine finanziellen Grenzen gekommen ist. Auch hier redet besonders die Evangelische Kirche die Sprache des Zeitgeists, indem sie das Christentum im Sinne des breitflächig ökonomisierten Denkens eigentlich nur als eine Art Dienstleistung zur Verbesserung der psychischen und physischen Fitness anbietet. Frau Käßmann lobt die Pille, aber zu Erlösung und Jüngstem Gericht hört man von ihr nichts. Sie kann nicht klarmachen, warum es eine andere Bedeutung hat, einer Kirche anzugehören als einem Fußball- oder einem Taubenzüchterverein. Mission Fehlanzeige! Bei der Katholischen Kirche soll es nach dem Willen der Medien – und leider mancher Theologen – auch so werden: Franziskus wird von ihnen als Polit-Papst dargestellt, der er ziemlich sicher nicht ist. Aber ein auch hier gepflegter interreligiöser Dialog, der von einem Tausch von Bibeln und Koranen begleitet ist, lässt es als gleichgültig erscheinen, ob man Christ ist oder nicht. Es ist aber nicht egal, wie man immer öfter sieht und sehen wird.
Gott wird in unerträglicher Weise verharmlost; aber er macht nicht nur lebendig, er tötet auch, ist er doch Herr über Leben und Tod. Von Sünde wird gleich gar nicht mehr geredet, noch davon, dass am Nicht-Hören und Nicht-Befolgen Gottes zugrundegeht, wer ihn nicht erkennt und nicht hört. Alles soll mit der unbedingten und absoluten Liebe Gottes zugedeckt werden. Es fragt sich, zu welchen Dingen eine Kirche dann noch nein sagen kann. Und wirklich: Auch die massenhafte Abtreibung Ungeborener ist schon von evangelischer Seite als liberales Frauenrecht bezeichnet worden. Alles Unangenehme, und das ist die Wahrheit immer, wird geleugnet. Doch Gott ist auch Richter.


Holt Jesus vom Kreuz!
Das Kreuz, das den leidenden Gottessohn zeigt, ist seit jeher anstößig gewesen, so auch heute. Der jüdische Journalist Michel Friedman forderte schon vor Jahren, Jesus vom Kreuz zu holen, aus Gründen der Humanität; heute nennt der muslimische Schriftsteller Kermani das Kreuz eine Blasphemie. Aber auch eine feministische Bischöfin Jepsen empfand das Kreuz als zu unfreundlich und ersetzte es durch ein Bild aus Blumen. Im Grunde ist das fast dasselbe, wie das Kreuz in Klassenzimmern abzuhängen, was der Staat ja tut. Aber es ist eben nicht ganz dasselbe. Früher haben Abtrünnige die Kirche und das Christentum angegriffen, dann ungläubige Gegner. Heute sitzen die schärfsten Feinde des Christentums in der Kirche selbst. Besser als die Synode des Rheinlands, zynischer als Frau Käßmann, effektiver als Frau Jepsen kann man das Christentum nicht bekämpfen. Der wahre Antichrist, sagt der russische Philosoph Wladimir Solowjew, kommt mit freundlicher Miene und verkündet irdische Wohltaten.
Aber mit der Abschaffung des öffentlichen Christentums in Deutschland ist die Religion nicht weg. Die scheinbar siegreichen Medien und Politiker, die das so schreckliche Christentum beseitigen wollen, fordern ausgerechnet im Namen der christlichen Nächstenliebe von Deutschland die Aufnahme von Millionen von afrikanischen und asiatischen Einwanderern. Aber das Christentum verpflichtet nur den einzelnen Menschen dazu. Ein Staat kann keine Nächstenliebe üben. Das geht nicht, denn er hat keinen Nächsten. Zwar besteht ein Staat aus vielen Einzelnen, aber, wie Martin Mosebach sagt, „eine moralische Entscheidung wie die, in höchstem Maße sich äußernde Nächstenliebe zu üben, kann nicht befohlen werden. Das ist etwas, eine Entscheidung, die frei jeder für sich fällen muss und zu der Jesus die Menschen auffordert. Nicht den Staat! Der Staat hat nicht über die Nächstenliebe seiner Bürger zu befinden.“
Es ist lächerlich, wie ein Staat, der alles dafür tut, das Christentum zu einer rein privaten Sache zu machen, sich auf dessen Ethik stützt. Und natürlich ist es dabei eine höhere Gerechtigkeit, dass es Millionen Muslime sind, die kommen, und dass dieselben Leute, die den christlichen Religionsunterricht zugunsten eines Lebenskunde- oder Ethikunterrichts abgeschafft haben, nun einen islamischen Religionsunterricht fordern, als könnten die Muslime dadurch in ihrer Überzeugung, die einzig wahre Gesellschaft zu errichten, beirrt werden. Der Islam wird mit Macht in das Sinnvakuum eindringen, das die Zurückdrängung des Christentums in Deutschland geschaffen hat.

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Über Adorján F. Kovács 36 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.

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