Die DDR als Dauerwitz

Thomas Brussigs Roman Helden wie wir (Verlag Volk & Welt, Berlin 1995)

Zu den Büchern, die jetzt gelesen werden, gehört Thomas Brussigs Roman „Helden wie wir“. Der „heißersehnte Wenderoman“, wie Christoph Dickmann bescheinigt. Anfang September erschienen, liegt im Oktober bereits die zweite Auflage vor. Von den wichtigsten Tages- und Wochenzeitungen besprochen, sitzt der Dramaturgiestudent Brussig in Talkshows und wird durch Buchverkäuferinnen gekannt. Ich habe ihn schon einmal persönlich bedient, er ist sehr nett, sagt die Frau in meiner Buchhandlung. Am meisten interessiert sie, wie der Roman heißt, mit dem Brussig 1991 unter Pseudonym debütiert hat (sie liest keine Rezensionen, der Titel des Erstlings wurde längst verraten). Es gibt die Bücher und es gibt den Rummel. Daß einer ausgiebig besprochen und gelobt wird, hindert noch nicht, sich seinen Text anzuschauen, verlangt aber, über Deskription und Applaus hinauszugehen.

Volker Braun hatte den Schriftstellern der 80er Jahre zugerufen: Ein Text aus einem Schrei gemacht, das wäre ehrlich. Es gab diese Texte: als Schrei, als Klage, als Wimmern. Nach der Wende mußte man Texte erwarten, die aus einem Schrei der Befreiung und der Empörung über das Erlittene bestehen. In Brussigs Roman gibt es diesen Doppelschrei nur als Karikatur: die Klage des komplexbeladenen Klaus Uhltzscht über seinen zu kleinen Pimmel und die Freude über dessen plötzliches Wachstum ins Superlative. Was das mit der Wende zu tun hat? Wer so fragt, ist noch nicht durch Brussigs Schule gegangen. Nichts ist so politisch wie ein Schwanz; schließlich war es Klaus Uhltzscht' Riesending, durch das die Mauer fiel. Wie das geschah, liest man auf den letzten Seiten, angekündigt war die Erklärung auf einer der ersten. Ein alter Trick, man kennt das: … und nach der Werbung erfahren Sie, wer die kleine Katrin zersägt hat. Zunächst sind also die verschiedenen Lebensstationen des Klaus Uhltzscht zu absolvieren: sein Erfolg auf der „Messe der Meister von morgen“, seine pubertären Traumata, sein erster Tripper, seine Arbeit bei der Staatssicherheit. Aber das Zapping unterbleibt, kein Vorblättern, keine Ungeduld. Denn was Brussig in der Zwischenzeit liefert, ist genau das, was der Klappentext verspricht: ein hohnlächterndes Feuerwerk respektlos-phantastischer Einfälle. Man ahnt, was auf einen zukommt, als Klaus Uhltzscht von seinem Lehrer Küfer spricht, der als Leiter der AG Junge Naturforscher immer Unterrichtsfilme über die Weltwirtschaftskrise und den Spanischen Bürgerkrieg rückwärts durch den Projektor laufen ließ. Er sei später geschaßt worden, da er, „wie es unter anderem hieß“, durch rückwärtslaufende Kriegsfilme pazifistische Illusionen geweckt habe. Das ist absurd, das ist lächerlich, aber irgendwie weiß man auch, daß es genau so war. Eine zerstörte Biographie, ein studierter Heizer oder LKW-Fahrer mehr, vielleicht ein späterer Antragsteller. Eine ernste Sache also. Aber der Leser lacht wie bei fast allen Äußerungen, die Brussig seinem Helden über zwanzig Jahre Realsozialismus in den Mund legt. Statt In-sich-Gehen unbedarfte Heiterkeit, statt Trauerarbeit ein Abdriften ins Absurde. Darf der das? Sollen wir so die DDR sehen?! War sie denn nichts als ein Witz?

Hinter Brussigs amüsantem Ton steckt nicht der Mangel an Phantasie für das Böse, das es in der DDR gab. Brussig ist in diesem Land groß geworden. Er jobte nach dem Abitur (auf einer Berufsfachschule) als Möbelträger, Pförtner und Hotelportier. Staatstreue Bürger pflegen einen anderen Lebenslauf vorzuweisen. Brussig durchschaut die Dinge und deckt sie auf, zur Belehrung oder Erinnerung. Aber Jammern ist nicht seine Sache; nicht einmal Anklage. Da hat er soeben das „Menschenbild des Totalitarismus“ mit dem „Lied vom kleinen Trompeter“ skizziert, das zur Sozialisation aller in der DDR Herangewachsenen gehörte: das „lustige Rotarmistenblut“, das sein Leben für den Führer (der KPD) hergibt, das Versprechen der Unsterblichkeit des 'Bauernopfers' im Liederbe, die Verführung im gemeinsamen Gesang beim Fahnenappell usw. Gerade hat der Leser sich die hinterhältigen Methoden dieses menschenverachtenden Systems vergegenwärtigt und beginnt, noch einmal richtig wütend zu werden – die Faust krallt sich in das Buch, ein Zittern geht durch die Finger: wenn jetzt die Klassenlehrerin vor einem stände, oder der AOL-Sekretär oder die Frauen vom Kindergarten (der Staatsbürgerkundelehrer sowieso)!!! Aber da ist Brussig bereits ausgestiegen und läßt Millionen lesende Opfer allein. Klaus Uhltzscht ist wieder bei seinem Lieblingsthema, er denkt über Reinkarnation nach, fühlt sich als der wiedergeborene Kleine Trompeter, denn: „Zum Kleinen Trompeter gehört eine kleine Trompete – und ich hatte die kleinste Trompete. Ich war mir nicht sicher, ich war auch nicht glücklich, aber es mußte weiterhin Menschen geben, die ihr Leben den Großen opfern (und damit einen wichtigen Beitrag für die gemeinsame große Sache leisten). Ich sah meinen Schwanz, ich sah das Lenin-Denkmal und ahnte, daß ich der Kleine Trompeter bin. Genaueres wußte ich nicht.“ (101)

Der Leser wird enttäuscht und schockiert den Kopf schütteln oder laut auflachen und seinen Bekannten zurufen: ja, dies ist der lang ersehnte Wenderoman. Kein Roman über die Wende (die ist ein weites Feld und Brussig erklärt weder ihren Ursprung, noch beschreibt er wirklich ihren Ablauf), sondern eine Wende in der Art, Vergangenes zu betrachten und aufzuarbeiten. Die ältere Generation bevorzugt in dieser Hinsicht eine genaue, zuweilen angestrengte Inventur. Sie bechreibt verbittert die Risse, die durch diese Gesellschaft gingen, oder fragt besorgt nach dem, was bleibt. Das steht ihr zu und das wird auch von ihr erwartet. Sie hat für oder gegen diese DDR gekämpft, sie hat unter ihr oder unter ihrem Ende gelitten. Die Generation der „Hineingeborenen“, zu der Brussig gehört, war weniger in diesen Staat verwickelt, besaß nicht die 'konfliktreiche Identifikation' der Eltern. Sie sprach das ich stärker als das wir und pfiff schon ungeniert auf die tölpelhaft vorgebrachte Ideologie. Diese Generation emanzipierte sich zu den Dingen des Alltags. Man kann ihr vorwerfen, sie habe von den 68ern nur die Jeans und die Musik übernommen, deren Texte sie nicht einmal richtig verstand. Im Grunde muß man aber froh sein, daß sie ihr Desinteresse an Leninistischen Klassenkampfsätzen nicht in flammende Begeisterung für Mao verwandelte und daß ihr Englisch zumindest so gut war, „You can't always get what you want but you can try sometimes to get what you need“ zu übersetzen. Christoph Dickmann hat recht: an der Utopie hatte diese Generation sowenig teil wie an deren Aberbild, der kollektiven Resignation. Aber die Bewertung der Feststellung ist schon komplizierter. Soll man dieser Generation vorwerfen, daß sie sich wenig engagierte für das Gegenbild eines „menschlicheren Sozialismus“? Vielleicht konnte nur eine Generation, die zu ihrem Egoismus gefunden hatte, der Ideologie des Realsozialismus ohne Wenn und Aber die Gefolgschaft kündigen, denn Kritik auf dem Boden eines Grundkonsenses reformiert doktrinäre Systeme, am allgemeinen Desinteresse trocknen sie aus.

Brussig schreibt nicht mit Adorno oder Habermas gegen Marx oder Lenin, sein literarischer und intellektueller Hintergrund sind nicht Volker Braun oder Christa Wolf. Brussig hält niemandem vor, in der DDR groß geworden zu sein, und verklagt niemanden, keine Gegenutopien entwickelt zu haben. Alles, was er tut, ist, alles durch den Kakao zu ziehen. Verzweifelte Nachdenklichkeit und lautstarke Entrüstung finden in ihm kein Sprachrohr. Christa Wolf wird daher schließlich zur Top-Zielscheibe seines Spottes (Wolf Biermann hätte es ebenso sein können, eignet sich seines eigenen Spottes wegen aber weniger). Was Brussig seinen Helden über Christa Wolf sagen läßt, ist einseitig und ungerecht, ohne Frage. Zumal Brussig mit dem Beifall eines Klientel rechnen muß, das allzuleicht und allzugrob sein Urteil darüber fällt, wie man sich in der DDR zu verhalten hatte und welche Bedeutung bestimmte Schriften dort für ihre Leser haben konnten. Mit dem Rückenwind des deutsch-deutschen Literaturstreits noch einmal zuzuschlagen, ist gewiß nicht ritterlich. Und trotzdem, es ist amüsant, wie Brussig ungerecht wird. Er nimmt nicht nur Christa Wolfs Rede vom 4. November 1989 auf's Korn (was mit der Distanz von mehr als vier Jahren freilich leicht ist), unter seiner Feder wird die Frau des 'authentischen Schreibens' schließlich zu einer Pornoautorin. Brussigs Respektlosigkeit ist nicht zu überbieten, sein Ehrgeiz scheint darauf zu zielen, der Rushdie der Ex-DDR zu werden. Aber Brussig greift ja bloß Christa Wolfs Worte von der Befreiung der Sprache auf und wendet sie in seinem Sinne an. Christa Wolf als Pornoautorin, das ist unerhört – wem da jedoch, nach über 300 Seiten, das Lachen vergeht, der hat nichts begriffen und dem ist mit Susan Sonntag zuzurufen: Ernsthaftigkeit ist nicht genug, sie kann bloßes Philistertum, Zeichen geistiger Enge sein. Die Frage ist nicht Brussig oder Wolf, sondern: was wird aus dem Wolf-Stil, wenn es die DDR nicht mehr gibt und junge Autoren über sie schreiben.

Brussigs Antwort: ein Dauerwitz. Brussig erweist sich, wie er an dieser Stelle mit der ihm eigenen Lust an griffigen Kurzschlüssen geschrieben hätte, als guter Marxist. Denn Marx war es, der die Komödie als die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ansah. Brussig bejammert nicht und hebt keinen Zeigefinger. Er will unser Lachen. Den ernsthaften Blick überläßt er anderen. Vor zwei Jahren erschien im Reclam Verlag Leipzig ein Buch mit dem Titel: „Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori“. Der Herausgeber Steffen Dietzsch mahnte darin das Lachen als Mittel gegen ein neues, aus „dem Personalakten-Wahn“ produziertes, endgültig definitives „Wissen-wie-es-mit-UNS-eigentlich-gewesen-sei“ an und markierte eine therapeutische Funktion des Lachens mit Blick auf den Verlust der DDR-Identität: „Lachen tötet die Macht der Vergangenheit“. Das heißt auch: nur wer zum Lachen kommt, kommt über die Wende. Aus eben diesem Grund hat Brussig tatsächlich den Wenderoman geschrieben.

Glaubt man Brussigs eigenen Worten, soll sein Buch Anlaß sein, sich ernsthaft und gründlich zu unterhalten und sich über die DDR-Vergangenheit klar zu werden. Solche Sätze erwartet man in Interviews, kein Autor kommt letztlich um Seriösitätszugeständnisse herum (und am Ende, das wissen wir ja alle, steckt die größte Verzweiflung sowieso in den urigsten Komödien). Das Versprechen, auch aus diesem nicht ganz ernsthaften Buch schließlich zu erfahren, wie es denn nun wirklich gewesen ist, mag außerdem verkaufsfördernd sein. Aber man lasse sich nicht täuschen: Brussigs Text weiß wenig von den erklärten Absichten seines Autors. Man sieht nur, daß er alles aufbläst, um alles ins Absurde zusammenfallen zu lassen. Die Worte treiben sich permanent an, immer auf der Suche nach dem Ulk. Ein soeben geschriebenes Wort, eine Formulierung wird aufgegriffen und so lange gedreht, erneut betrachtet und weitergetragen, bis es seine Oberflächlichkeit erreicht hat und zum Witz taugt (mit diesem Verfahren des Rückgriffs folgt Brussig übrigens Christa Wolf, die auf diese Weise allerdings zur Tiefe eines Wortes vorzustoßen trachtete). Schon die Anlage des Erzählers ist völlig ins Groteske überzogen. Klaus Uhltzscht (Flachschwimmer, Toilettenverstopfer, Sachenverlierer und schlechtinformiertester Mensch) wird derart zum Sammelbecken aller erdenklichen Verklemmungen, daß als Referenzrahmen seiner Geschichte nicht mehr der DDR-Alltag, sondern nur noch das Tagebuch eines Psychotherapeuten in Frage kommt. Wenn Rezensenten in der Schilderung der phallischen Emanzipationsanstrengungen des Klaus Uhltzscht ein Abbild diktatorischer Prüderie sehen, die das Sexuelle verteufle und die ideologische Vergewaltigung zum Prinzip erhebe, vergewaltigen sie Brussigs Text mindestes mit dem gleichen Eifer, wie die Ideologen der DDR dazumal ihre Bürger. Die FFK-Diskussion nach der Wiedervereinigung hat gezeigt, daß sexuelle Verklemmung nicht unbedingt ein Wesensmerkmal der Ostdeutschen ist. Sie ließ vielmehr annehmen, daß bestimmte Personen ohne Therapieanbindung solche Klischees nutzen, um eigene Komplexe auf populäre Zielscheiben umzulenken. Wer ernsthaft versucht, über die Kunstfigur Klaus Uhltzscht einen Zugang zum Inneren des Ostdeutschen zu finden, ist in Brussigs Falle gelaufen. Denn wer Übertreibungen, Absurditäten und Wortspielereien als Erklärungsansatz für Realität benutzt, ist von Klaus Uhltzscht, der auf die unglaublichsten Sprüche der DDR-Ideologen hineinfiel, kaum noch zu unterscheiden.

Was aber bewirkt Brussig mit seinen bagatellisierenden Übertreibungen? Was empfindet der Leser, wenn alles im Ulk endet? Wenn nichts aufgearbeitet, sondern alles niedergelacht wird. Er fühlt allmählich, daß es in Wahrheit gar kein Vergangenheitsproblem gibt. Es gibt keine Geschichte zu besichtigen, es gibt nur Geschichten zu erzählen, und die enden alle früher oder später unter der Gürtellinie. Im Obszönen liegt die Erlösung. Brussig hat den Wenderoman geschrieben, weil er die „system-kompatible Spätlings-Generation“ (Christoph Dieckmann) von ihrem schlechten Gewissen und vom Nach-Wendetrauma der Vergangenheitsaufarbeitung befreit. Man wird ihm irgenwann vorwerfen, dem großen Vergessen gedient zu haben.

Hervorstechendes Merkmal der 'Entsorgung' der Vergangenheit ist, daß Brussigs Held sich in erster Linie um seinen Schwanz kümmert. Gibt es etwas Persönlicheres als dies? Gibt es angesichts Operativer Vorgänge und angesichts der Schüsse an der Mauer etwas Banaleres als dies?! Und doch: ständig von seinem Schwanz zu reden, drückt eine politische Haltung aus und wird, vor dem Hintergrund verschiedener „Für unser Land“-Konzepte, zum geschichtsphilosophischen Bekenntnis. Obszönität als Antiutopie. Eine solche Schlußfolgerung ist irgendwie wahr, aber im Grunde völliger Unsinn. Genau diese Art zu denken lernt man jedoch in Brussigs Roman, der zur Hälfte aus Gedankenketten besteht, deren 'unsinnige Wahrheit' daraus resultiert, daß sie die Logik überziehen und zielsicher von einem Konjunktiv zum nächsten eilen, um unversehens im Indikativ zu enden. Auf dessen unüberbietbare Absurdität kommt es Brussig an. „Ich bin ein Meister im Formulieren von grammatischen Konstruktionen, die im Konjunktiv beginnen und in den Indikativ übergehen“, läßt er Klaus Uhltzscht sagen (242). Brussig investiert seine Phantasie in Pointen statt in seriöse Horrorbilder. Was ihm wichtig ist, sind abenteuerliche Assoziationen, die Obszönität mit Ideologemen koppeln und eine kontradiktorische Formulierung wie „Wichs-Subotnik“ (241) logisch erscheinen lassen, oder Assoziationen, die den Tripper – dessen Behandlung ja Arbeitskräfte bindet, „die in der Volkswirtschaft so dringend benötigt werden“ (140) – zu einem Mittel der Konterrevolution machen. Selbst die von den geschlagenen Stasi-Opfern erzwungene Erklärung, sie seien die Treppe hinuntergefallen, verliert ihr tragisches Gewicht im Witz, wenn der Treppenbeschmutzer Klaus Uhltzscht sich fragt, ob sie möglicherweise auf spermabeschmierten Stufen ausgerutscht seien.

Brussig hat jedoch nicht nur Gespür für die Labyrinthe des Absurden, er kann auch Realität beschreiben und Charaktere nahe bringen. Es gibt Sätze in diesem Buch, die sind kurz und treffsicher wie ein gutgezielter Dolchstoß. Etwa wenn Klaus seine Eltern anhand ihrer Art, Räume zu betreten, beschreibt: die Mutter, die nicht eben sehr einfühlsam ist, sondern durch sanften Nachdruck zu terrorisieren weiß und ebenso sanft in ein Zimmer tritt, „als trete sie vor den Gabentisch“ – der Vater, der jede Tür so öffnet, „als wolle er Geiseln befreien“ (29). Andere Sätze arbeiten in erfrischender Weise mit Klischees der neueren Kulturgeschichte. Da läßt der kleine Klaus die anderen nicht mit seiner Frisbeescheibe spielen und rennt lieber bis zur Erschöpfung hin und her. Für diese Arroganz erntet er das Lob der Eltern, während er sich im Geheimen einen Vater wie Bogart wünscht, der gesagt hätte: „Hör mal Junge, du must im Leben immer einen Kumpel haben, der deine Frisbeescheibe zurückschmeist“ (62). Oder die sexuellen Nöte des einsamen Klaus, der nächtelang vor dem „Altberliner Ballhaus“, im „Lustzentrum der Warschauer Paktstaaten“, auf erfolglose Damen wartet: „Es geschah in einer Vollmondnacht; ich beschönige nichts. Sie stolperte grimmig über den Hof. Sie war klein und dicklich, als wäre sie aus verschiedenen Wurstsorten gefertigt.“ Brussigs Respektlosigkeit macht auch vor den Schwachen nicht halt. Er ist gemein, aber in diesem Buch geht es nicht um Takt, sondern um scharfe Stiche: „Ich legte den Arm um ihr Fett. 'Tjaaa…' sagte ich und sah sie an“ (188).

Wo auch immer Brussig seinen Stil lernte, es war gewiß nicht bei Peter Handke oder Botho Strauß. Brussig gibt Charles Bukowski, John Irving und Philip Roth an. Seine 'Werkstatt' der Perversionen und seine Liebe zum 'unwichtigen' Detail lassen auch auf Einflüsse von Nicholson Baker schließen. Es ist schön, daß es sowas noch gibt in der deutschen Literatur: intelligente Verarschung, gezielte Zuspitzung, unterhaltsam zu lesen und trotzdem brillant. Da nimmt man auch in Kauf, daß Brussig mal über's Ziel hinausschießt und sich in Banalitäten verrennt, um die der Autor nun keineswegs mehr zu beneiden ist. Manche Witze scheinen unkontrolliert aus den Pausengesprächen der Grundschule übernommen zu sein („Wäre ich ein ganzer Kerl, hätte ich Selbstmord durch Luftanhalten begangen, aber dazu war ich, durch und durch verzärtelt, nicht in der Lage“ (198)), manche Stellen verpuffen zum Kalauer („Die Angst beim Klimmziehen: daß man am Reck hängt, wenn sich das Gehänge reckt“ (70)). Mitunter vergißt Brussig seine früheren Witze zugunsten eines neuen (während Klaus soeben darauf anspielte, daß seine Mutter dem Wort „Sex“ durch die stimmhafte Aussprache jede Erotik nimmt, bekommt er nun einen Steifen, wenn sie vorm Fernseher die 6er B-Noten von Katarina Witt ausruft (203)), oder er verrät die Logik seiner Erzählperspektive, wenn sein Schwejkscher Held plötzlich ganz und gar nicht mehr satirisch über die DDR reflektiert (105) und mit Feuilleton-Intelligenz Christa Wolfs Rede vom 4. November seziert (282ff.). Hier fehlt Brussig offenbar eine zweite Erzählerinstanz, denn in den Mund des Klaus Uhltzscht passen diese Passagen weit weniger als, laut Klaus, Christa Wolfs Traum vom „besseren Sozialismus“ auf jene Demo.

Brussigs Roman wirkt wie ein Paukenschlag in der Symphonie jener Bücher, die sich dem Durchdenken der mehr oder weniger mitgetragenen DDR-Geschichte widmen. Viele, die das Buch lesen, werden sich die Schenkel schlagen und in ein befreiendes Lachen ausbrechen. Andere werden grimmig Seite um Seite verschlingen. Die Wurzellosigkeit des Spätgeborenen führt ebenso zu einem erfreulichen Mangel an inquisitorischem Eifer wie zu dem bedenklichen Umstand, daß die DDR mit Talk-Show-Leichtigkeit 'erledigt' wird. Es bleibt die Frage: was passiert, wenn die DDR bereits im Brussig-Stil beschrieben wurde? Denn eins ist anzunehmen: in 30 Jahren, wenn die Enkel Fragen stellen, wird man kaum „Helden wie wir“ vorlesen. Brussigs Buch kann nicht das letzte Wort über die DDR und ihr Ende sein, aber es ist ein höchst amüsanter und unter psychologischem Gesichtspunkt gewiß auch wertvoller Pausenfüller.

Finanzen

Über Simanowski Roberto 8 Artikel
Prof. Dr. Roberto Simanowski hatte 2002 eine Hochschuldozentur für Medienwissenschaft und Kulturtheorie digitaler Medien am Institut für Medienwissenschaft der FSU Jena inne. Seit 2003 ist er Assistant Professor am Department of German Studies, Brown University, Providence, RI, USA.

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