Die bundesdeutsche Linke der 70er Jahre

Boote am Chiemsee, Foto: Stefan Groß

Gunnar Hinck, Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre, Rotbuch Verlag, Berlin 2012, 464 Seiten.

Selten habe ich ein Buch zur deutschen Nachkriegsgeschichte gelesen, aus dem ich so viel Neues und Interessantes gelernt habe wie aus diesem. Und das, obwohl  meine politische Einstellung eine andere ist als die des Autors, der seine Urteile aus einer linken Sichtweise fällt.

 

Stärker als die 68er

Es handelt von den verschiedenen Gruppen, die weit links von der SPD standen und deren Bedeutung bis heute massiv unterschätzt wird, obwohl viele Personen in Politik, Medien und Wirtschaft durch sie stärker geprägt wurden als durch die 68er-Bewegung, die in aller Munde ist.

Die Zahl der Anhänger der linksextremen Gruppen – Maoisten, Moskautreue, Trotzkisten, Spontis usw. – war deutlich höher als die Zahl der aktiven 68er-Studenten, worauf bereits Gerd Koenen in seinem wichtigen Buch „Das rote Jahrzehnt“ hingewiesen hat. Hinck schätzt, dass die Gesamtzahl derjenigen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in den 70er Jahren zum Umfeld dieser linksextremen Szene gehörten „vorsichtig geschätzt auf rund 200.000 bis 250.000“ zu beziffern sei (S. 41). Da gab es den KBW (der allein etwa 20.000 Mitglieder und aktive Sympathisanten hatte), die KPD/ML und andere ML-Gruppen, die DKP mit ihren Vorfeldorganisationen, Sponti-Gruppen wie den RK (Revolutionärer Kampf) und diverse trotzkistische Organisationen.

Zahlreiche Spitzenpolitiker der Grünen wurden in maoistischen K-Gruppen sozialisiert – so etwa Winfried Kretschmann, Antje Vollmer, Jürgen Trittin, Krista Saager, Ralf Fücks oder Reinhard Bütikofer. Fast der gesamte Führungszirkel des „Revolutionären Kampfes“ (Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Tom Koenigs u.a.) schloss sich den Grünen an, ebenso wie ehemalige Trotzkisten (Andrea Fischer, Kerstin Müller) (S. 160, 350). Ob im Auswärtigen Amt, in der Wirtschaft, in Medien – der Autor nennt zahlreiche Belege für Personen, die in den 70er Jahren in linksextremen Organisationen sozialisiert wurden und heute Führungspositionen begleiten. Der ehemalige Chefredakteur der „Welt“, Thomas Schmid, war einer der radikalsten Aktivisten im „Revolutionären Kampf“ und der ehemalige Chefredakteur des „Handelsblatt“, Bernd Ziesemer, war Funktionär der maoistischen KPD/AO. Die beiden Letztgenannten gehören zu denen, die ihre politischen Positionen um 180 Grad geändert haben – und dennoch zeigt der Hinck, dass auch bei ihnen Prägungen durch diese Zeit eine Rolle spielen. Ich kann das auch für mich selbst bestätigen; ich war in den 70er Jahren Gründer einer Roten Zelle und Anhänger der KPD/ML.

Legenden über 68

Warum wurde dieser Szene bislang – im Vergleich zu den 68ern – so wenig Beachtung geschenkt? „Ginge es logisch zu, müsste es demnach breite öffentliche Beschäftigung mit den 70er Jahren und weitaus weniger Interesse für ’68 geben. Das Gegenteil ist der Fall. Über die Studentenrevolte ist inzwischen wohl (fast) alles gesagt, gedacht und erforscht worden… Den Gruppierungen der 70er Jahre wird gemessen an deren Bedeutung hingegen nur wenig Beachtung geschenkt.“ (S. 15)

Dafür gibt es viele Gründe. Die 68er werden bis heute verklärt und es ranken sich um sie – wie der Autor überzeugend anhand vieler Beispiele zeigt – unzählige Legenden, die einer genaueren Nachprüfung nicht standhalten. Die 68er haben ihre Geschichte selbst geschrieben und idealisiert. Hinck merkt an, dass es außer den 68ern keine andere Kohorte in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gegeben habe, der es gelungen sei, „ihre eigene historische Deutung gleich selbst mit zu übernehmen“ (S. 121). Das Geheimnis der fortwährenden Faszination für das Jahr 1968 sei gerade seine Ambivalenz. „Jeder kann darin finden, was er finden möchte.“ (S. 16) „68“ ist im Mainstream der Bundesrepublik „offensichtlich sexy“ (S. 17), man erinnert sich lieber daran als an die prägenden 70er Jahre. „Vor die Wahl gestellt, ist es natürlich attraktiver, sich seiner Zeit als 68er-Rebell in Westberlin oder Adorno-Schüler in Frankfurt am Main zu erinnern (oder sich zu stilisieren), als über die anschließende Funktionärsarbeit in kargen Hinterzimmern, die Verantwortung für schmallippig verfasste Kampfschriften gegen den Klassenfeind oder das Liebäugeln mit der Gewalt Auskunft zu geben.“ (S. 15)

In der Tat eignen sich all die maoistischen und sonstigen revolutionären Gruppen nicht für eine Legendenbildung. Man kann das, wofür sie standen, nicht so einfach umdeuten wie die 68er-Bewegung, die heute als legitimer Protest gegen eine angeblich verdrängte NS-Geschichte, gegen den Vietnamkrieg und gegen „verkrustete Strukturen“ der Universitäten und der bundesrepublikanischen Gesellschaft insgesamt idealisiert wird. Ein Verdienst des Autors ist es, dass er viele diese 68er-Legenden anhand von zahlreichen Fakten zerpflückt.

„In keiner der Biografien gab es den notorischen ‚Nazi-Vater’, der ein fester Bestandteil der gängigen Erklärungen der Studentenbewegung ist. Auch fehlt die unmittelbare moralische Empörung aufgrund direkter familiärer Verstrickungen.“ (S. 67) Und typisch sowohl für die 68er wie auch für die nachfolgenden Linksradikalen der 70er Jahre sei gerade die Abwesenheit von „repressiven“ Familienverhältnissen gewesen (S. 79). Manchmal seien sich die Eltern und ihre Kinder sogar recht ähnlich gewesen, was das Feindbild anlangt: Die erklärten Gegner der Maoisten waren die USA und die Sowjetunion. Gruppen wie die KPD/AO oder die KPD/ML bekämpften die Sowjetunion als sozialimperialistischen „Hauptfeind“ und fochten für die nationale Einheit und Wiedervereinigung Deutschlands.

Ungeeignet zur idealistischen Legendenbildung

Die Botschaften der linksextremen Gruppen der 70er waren indes eindeutig. Das Logo vieler ML-Gruppen waren die Köpfe von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tsetung. Stolz wurde der damalige KBW-Anführer Joscha Schmierer von der Führung der Roten Khmer in Kambodscha empfangen, für die Hunderttausende D-Mark Spenden gesammelt wurden. Bekanntlich sind sie für den Tod von fast zwei Millionen Menschen in Kambodscha verantwortlich; ihr Steinzeitkommunismus war eine der brutalsten Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts. Schmierer gehörte zu den großen Bewunderern und Unterstützern des Diktators Pol Pot und unterhielt freundschaftliche Beziehungen mit dem Regime. Nebenbei bemerkt: Von 1999 bis 2007 war er dann Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amtes unter Bundesaußenminister Joschka Fischer sowie dessen Nachfolger und heutigem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Verantwortlich war Schmierer im Auswärtigen Amt u.a. für Grundsatzfragen der Europapolitik.

Klima der Unterdrückung

Geprägt wurden besonders die Aktivisten der maoistischen K-Gruppen durch eine extrem strenge Disziplin und eine repressive Atmosphäre. Ein Gründungsmitglied des KBW drückte dies so aus: „Wir waren in gewisser Weise wie Maschinen, die sehr stramm in einem ideologischen Mechanismus gedacht haben.“ (S. 49) Ausführlich zitiert Hinck einen Brief des bereits erwähnten Joscha Schmierer, der in seiner Funktion als KBW-ZK-Sekretär einen Genossen scharf zurechtwies, der seine Doktorarbeit schreiben wollte – wofür natürlich angesichts des Primats der revolutionären Politik keine Zeit war. Dem Brief des Genossen, in dem dieser um Verständnis bat, er müsse seine Dissertation abschließen, weil er sonst auf dem Arbeitsmarkt keine Chance habe, wurde von Schmierer entgegnet: „In dem Brief kommt überhaupt nicht zum Ausdruck, dass dem Plan der Arbeit in der Redaktion ein ZK-Beschluss zu Grunde liegt und das dementsprechend die ganze Angelegenheit auch nur durch einen ZK-Beschluss rückgängig gemacht werden kann. Stattdessen erweckt Dein Brief den Eindruck als wäre die Sache für Dich bereits entschieden, und zwar, weil Du Dich entschieden hast. Das ist natürlich nicht richtig und im Grunde ein liberales und individualistisches Herangehen.“ (S. 184) Der Brief endete: „Wir gehen davon aus, dass Du Deine falschen Ansichten korrigieren wirst und insbesondere lernen wirst, dass es für einen Kommunisten kein tödlicher Unfall ist, wenn er eines schönen Tages aus den akademischen Hallen vertrieben wird. Mit kommunistischem Gruß. Joscha Schmierer. Sekretär des ZK.“ (S. 185 f.).

Was ist geblieben?

Der Autor verdeutlicht, warum heute so wenig über die „70er“ gesprochen wird. „Anführer wie Christian Semler, Karl Dietrich Wolff, Joschka Fischer und andere, die in den 70er Jahren das große Wort führten, haben in dieser Zeit keine einzige bleibende politische Idee produziert. Es gibt kein Konzept, keine Schrift und schon gar kein Buch von ihnen, das heute mit Gewinn zu lesen wäre, was einerseits Ausdruck des Halbstarkenverhaltens dieser Generation, andererseits Ausdruck der zunehmenden intellektuellen Verarmung der 70er Jahre ist.“ (S. 426).

Und was ist aus den einstigen Protagonisten geworden? Manche haben sich in ihre private oder berufliche Nische zurückgezogen, verstehen sich heute noch als links, sind aber teilweise arm und einsam. Andere haben sich hervorragend integriert und bewegen sich „unauffällig in den linksliberalen, ‚rot-grünen’ Gewässern des Kultur- und Medienbetriebes“ (S. 359). Ich selbst – der Rezensent – gehöre indes zur dritten Gruppe, also zu jenen, die in der Wirtschaft Karriere gemacht haben und ebenso zur vierten Gruppe, der „Konvertiten, die heute offen völlig andere, teils konträre Überzeugungen vertreten“ (S.360). Manche wurden Unternehmer oder Vorstand in renommierten Unternehmen, so wie etwa der KBW-Führungskader Hans-Jörg Hager, der Vorstandsvorsitzender von Schenker war. Wahrscheinlich sind es mehr, als man heute weiß. So fehlt z.B. der Name von Thomas Sattelberger, dem Ex-Telekom-Vorstand, der in seiner Jugend im maoistischen KAB/ML sozialisiert wurde. Oder der Name Dieter Bohlen, der in seiner Jugend in der Jugendorganisation der DKP, der SDAJ, aktiv war.

Der Autor zeigt, wie selbst das Denken der „Konvertiten“ bis heute noch durch die Sozialisation in der maoistischen Szene geprägt wird. Als ich das las, erinnerte ich mich an den Dialog mit einem Bekannten, der vor einigen Monaten zu mir sagte: „Ach so, Sie sind Maoist.“ Ich korrigierte ihn: „Nein, natürlich nicht, ich war Maoist.“ Er widersprach mir: „Nein, wer einmal Maoist war, bleibt immer einer.“ Nun gut, das ist bestimmt überzeichnet, und dennoch gelingt es Gunnar Hinck, direkte und indirekte Prägungen der damaligen Aktivisten nachzuweisen. Es wäre auch merkwürdig, wenn es anders wäre, denn die Erfahrungen in diesen Gruppen waren extrem intensiv, und prägten Menschen in ihren jungen Jahren, wo sie noch stark beeinflussbar sind. Manche schlossen sich ja, so wie ich, schon als Teenager diesen Gruppen an.

Kritik

An manchen Stellen möchte ich dem Autor dennoch widersprechen. So vermutet er, dass manche ehemaligen Aktivisten über ihre Vergangenheit schwiegen, weil eine Offenlegung der linksradikalen Vita als Bedrohung der eigenen beruflichen Existenz betrachtet werde. Private Arbeitgeber hätten damit „heutzutage offensichtlich mehr Probleme als der Staat“ (S. 382). Dies entspricht nicht meiner Erfahrung. Man kann noch so weit Linksaußen gestanden haben – daraus wird nach meiner Erfahrung niemandem in der Wirtschaft ein Vorwurf gemacht. Vielmehr wird das nach dem bekannten Spruch „Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer mit 30 immer noch einer ist, hat keinen Verstand“ als Jugendsünde sofort verziehen. Jedenfalls viel eher, als wenn jemand in seiner Biografie auch nur leicht rechts vom CDU-Mainstream gestanden hat.

Auch finde ich das Urteil über einige von mir geschätzte Wissenschaftler und Journalisten – Bernd Ziesemer, Götz Aly, Thomas Schmid – sehr hart und apodiktisch. Ich finde, niemandem sollte man seine Vergangenheit zum Vorwurf machen, wenn er sich selbstkritisch damit auseinandersetzt, was diese Personen getan haben. Viel kritischer würde ich da jemanden wie Claudia Roth sehen, die in dem Buch fehlt. Sie war Managerin einer Rockgruppe, in deren Liedern offen zur Gewalt gegen „Bullen“ aufgerufen wurde und bei deren Konzerten RAF-Flugblätter verteilt wurden. Sie hat sich von dieser Tätigkeit nie distanziert, sondern ist bis heute sehr stolz darauf. Dies trifft auch für deutsche Medien wie den „Spiegel“ zu, der – dies gehört zu den interessantesten Seiten in vorliegendem Buch – Mao Tsetung und die sogenannte „Kulturrevolution“ idealisierend verherrlichte.

Das Buch hätte gewonnen, wenn der Autor sich – wie ein Historiker – stärker darauf beschränkt hätte, zu beschreiben und zu erklären, statt zu urteilen oder zu richten. Trotz dieser Anmerkungen: Dieses Buch gehört zu den wichtigsten Werken über die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte. Es ist zu hoffen, dass weiter über dieses bislang vernachlässigte Thema geschrieben und geforscht wird. Dem Buch ist eine erweiterte Neuauflage zu wünschen, in dem der Autor weitere Protagonisten und deren Entwicklung beschreibt. Personen wie etwa der ehemalige KBW-Aktivist und heutige Ministerpräsident Winfried Kretschmann spielen heute ja eine größere Rolle als beim erstmaligen Erscheinen dieses wichtigen Buches. Auch unter AfD-Abgeordneten finden sich ehemalige Maoisten, so wie etwa Wolfgang Gedeon (Ex-KPD/ML) im Landtag von Baden-Württemberg. Und wenn die FDP in den Bundestag kommt, wird mit Thomas Sattelberger auch bei den Liberalen ein Ex-Maoist als Abgeordneter vertreten sein.

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