Wenn man vor einem Vierteljahrhundert, als die Mauer noch stand und „die beiden Städte Berlin“ (Uwe Johnson) voneinander getrennt waren, mit DDR-Bürgern sprach, die zu Besuch bei der Westverwandtschaft eingereist waren und man sie aufzuklären suchte über den Staat, in dem sie lebten, erntete man oft Misstrauen und ungläubiges Staunen. Das, was wir DDR-Häftlinge an Schrecklichem erfahren hatten, passte nicht in das von DDR-Zeitungen verklärte Bild der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ (Walter Ulbricht)!
Da gab es keine Grenzdurchbrüche verzweifelter Jugendlicher, die in diesem Staat nicht mehr leben wollten, da gab es keine von Minen und Schüssen der „auf Friedenswacht“ stehenden Grenzsoldaten zerfetzte Flüchtlinge an der Berliner Mauer! Es gab auch keine Zwangsaussiedlungen „unzuverlässiger Elemente“ aus dem Grenzgebiet, wovon Tausende betroffen waren; das hatte schon 1952 mit der „Aktion Ungeziefer“ begonnen, womit in menschenverachtender Weise die eigene Bevölkerung gemeint war; und es gab auch keine Zwangsadoptionen, mit denen Müttern, von Margot Honecker verfügt, die Kinder geraubt wurden; in ihrem Buch „Entrissen“ (2011) hat Katrin Behr eindrucksvoll aus eigener Erfahrung darüber berichtet.
Je weiter die DDR wegrückt in die Geschichte, desto entsetzlicher sind die Verbrechen, die jetzt aufgedeckt werden. Der Fall der Erfurter Hebamme Christine Hersmann, die 1963 an der Medizinischen Akademie noch in der Ausbildung war, zeigt deutlich, dass man nicht nur mit gewaltigen Behinderungen zu rechnen hatte, wenn man diese Scheußlichkeiten an die Öffentlichkeit brachte, sondern auch Morddrohungen ausgesetzt war.
Christine Philipp, so ihr heutiger Name, war als Auszubildende damals ziemlich erschrocken, als ihr von der Oberschwester ein „Frühchen“ in den Arm gedrückt wurde, das sie unversorgt sterben lassen oder in einem Behälter ertrinken lassen sollte. Sie geriet in einen schrecklichen Gewissenskonflikt, als sie vor der Alternative stand, entweder die Frühgeburten dem Tod auszuliefern oder ihre Ausbildung abbrechen zu müssen. Das, was von ihr verlangt wurde, berichtete sie in ihrem Interview mit der Berliner Wochenzeitung „Junge Freiheit“ vom 2. August: „Es stimmt, ich hatte zuvor von anderen Schülerinnen erfahren, dass Kinder mit zu wenig Gewicht zum Sterben in einen Behälter gelegt wurden – einfach Deckel drauf. So lagen sie in Blut und Fruchtwasser, zu schwach, um den Kopf daraus zu heben. Man dachte sich, die würden sowieso sterben. Und dennoch war es schrecklich, denn das ging dann über Stunden. Die Kinder bewegten sich in ihrem Todeskampf, die Deckel hoben und senkten sich und die Behälter klapperten leise…Und es war umso furchtbarer, da den Müttern gesagt worden war, ihre Kinder seien bereits tot geboren, es seien Fehlgeburten.“
Was von der Lernschwester Christine in Erfurt und später in der Gynäkologischen Klink in Friedrichroda/Thüringen verlangt wurde, war psychisch kaum zu bewältigen: Sie musste den jungen Müttern, die voller Hoffnung auf ihr frischgeborenes Kind warteten, schamlos ins Gesicht lügen, obwohl sie wusste, dass wenige Zimmer weiter diese Frühgeburten, von der Klinikleitung dazu verurteilt, mit dem Tod kämpften!
Kindestötungen in DDR-Kliniken waren mit Sicherheit keine Einzelfälle! Die DDR war keine föderale Republik, sondern ein Zentralstaat, die Anordnung kam also von ganz oben, vom Gesundheitsministerium in Ostberlin, dem von 1958 bis 1971 Max Sefrin (1913-2000) als Minister vorstand. Für diese unmenschliche Verfügung, die in den Kliniken praktiziert wurde, nämlich Frühgeburten zu töten, wenn sie unter 1000 Gramm wogen, gab es zwei Gründe: Getötete Kinder fanden keinen Eingang in die Statistik, die dadurch positiver ausfiel; die Frauen, deren Kinder umgebracht worden waren, konnten schon nach 14 Tagen wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden; sonst wären sie, mit überlebendem Kind, für acht Wochen krankgeschrieben worden. Also wurde erbarmungslos gemordet in den Geburtskliniken von Rügen bis in den Thüringer Wald.
Christine Hersmann begann damals, eine Art Tagebuch zu führen und die Todesfälle aufzuschreiben. Das half ihr, diese entsetzlichen Erlebnisse zu verarbeiten,. Es war, so sagte sie im Interview, „gängige Praxis“, dass man bei bei Frühgeburten, die nicht das gewünschte Gewicht hatten, „einen Wassereimer neben das Bett stellte, schnell abnabelte und ehe das Kind den ersten Schrei tun konnte, dasselbe unter Wasser drückte.“
Entsetzt schrieb die Lernschwester einen Protestbrief an die Klinikleitung, was dazu führte, dass ihr die Patienten entzogen wurden. Das hieß: Schwangere Frauen, bei denen die Wehen eingesetzt hatten, wurden in den Kreißsaal verlegt, zu dem sie keinen Zugang mehr hatte! Sie konnte also weder sehen noch hören, was dort gemacht wurde, erfuhr aber dann von den Müttern, die keine sein durften, sie hätten alle eine Narkose verabreicht bekommen, so waren auch sie als unerwünschte Zeuginnen ausgeschaltet!
Im Jahr 1987, zwei Jahre vor dem Mauerfall, schied die Hebamme aus der Klinik aus und erzählte 1991 von ihren Erlebnissen. Da musste sie die Erfahrung machen, dass ihr nicht geglaubt wurde. Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ aber recherchierte und erhärtete ihre Vorwürfe. Denn das Verfahren der Kindstötungen wurde auch nach der Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 noch fortgesetzt. Die Medizinische Akademie bestritt ihre Aussagen und erwirkte ein Urteil gegen Christine Philipp. Ihr wurden ein Ordnungsgeld von 500 000 Mark oder Ordnungshaft angedroht. Sie aber ging in Berufung und konnte in zweiter Instanz ihre Behauptungen durch Zeugenaussagen beweisen. Danach stieg die Zahl der überlebensfähigen Frühgeburten um das 24fache! Ob die verantwortlichen Ärzte zur Rechenschaft gezogen wurden, ist nicht bekannt.
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