100 Zeilen Hass
Passend zum Weihnachtsfest hatte ich mir Maxim Billers Kolumnensammlung „100 Zeilen Hass“ gewünscht, und das Christkind tat mir diesen Gefallen. Nicht, weil einer meiner ehemaligen Mieter bis auf einen Buchstaben so ähnlich hieß wie der Autor, sondern weil Biller verdammt gut ist. Fast so gut wie ich… Biller hat das Zeug zu einem Spitzenromancier, egal, was Marcel Reich-Ranicki 2000 über ihn sagte. Wenn das nicht klappt, empfehle ich Wetten, dass…Moderator oder Heizdeckenverkäufer: die Glatze macht seriös.
Zu den von Biller etablierten und danach immer häufiger verwendeten Schmähworten zählt „Provinzler“ oder provinziell. Durch die Falltür namens Biller diffundiert das Wort jetzt überall – jeder talentfreie Kolumnist will ein kleiner Biller sein, indem er das Wort „provinziell“ verwendet. Dieses kleine Wort gehört zu Billers häufigsten Verwünschungen – es ist die Steigerung der Dosis, wenn Arschloch oder Ficker nicht mehr ausreichen.
Ein Hauch von Inzest und Sodomie scheint über der Provinz zu schweben.
2013 starb bei einem Flugzeug-Absturz eine meiner ehemaligen Klassenkameradinnen im Sauerland: drei Kilometer vor der Landebahn, der Pilot vergaß es, ausreichend zu tanken. Ein untalentierter Schreiber der taz, den ich nicht durch namentliche Erwähnung adeln will, verfasste daraufhin eine Suada nebst Bild eines Wildschweins, erwähnte den Absturz mit mehreren Toten nur am Rande, ließ aber seinen Komplexen freien Lauf und drosch – garniert mit einigen Orthographie-Fehlern – auf die dumme Provinz ein. Der Absturz war nur Salatbeilage eines Verrisses. Kein Wunder, wenn die taz um Spenden betteln muss bei solchen Artikeln.
Zur Sache
Die Provinz-Kritik der taz ist nur eine Randnotiz, Aufhänger, Chiffre und MacGuffin. Auch gute Leute wie Jan Fleischhauer haben aus ihrer Ablehnung gegen Schützenfeste, Ballermannparties und Vorgärten keinen Hehl gemacht. Nur warum? Merkwürdig, da sich der Kolumnist vom Spiegel in seinem Buch Unter Linken als Anhänger von Vorstädten und Kleinbürgern outet.
Merkel wohnt, seit sie denken kann, in Templin – Provinz. Nun ja, ob die Kanzlerin wirklich denken kann, naja, schlechtes Beispiel…
Die Top 10 der deutschen Intellektuellen gemäß Cicero-Ranking strotzt vor Provinz: es wurden in Wasserburg Martin Walser, in Karlsruhe Peter Sloterdijk, Griffen Peter Handke, Brake Hans-Werner Sinn und in Gera Thilo Sarrazin geboren. Bei Elfriede Jelinek (Münzschau), Harald Schmidt (Neu-Ulm) und Papst Benedikt (Marktl) sieht es nicht anders aus.
Ohne Hinterland fehlt der führenden deutschen Intelligenzija der Strom, allein ein Stecker wäre da. Großstädte wie Berlin, Frankfurt, München, Düsseldorf, Hamburg und Köln leben vom Zuzug gut ausgebildeter junger Menschen, die bis zum 19.Lebensjahr (Abitur) ihr Leben jenseits der Hartz-IV-Karrieren Marke gutes Wedding, schlechtes Wedding verbracht hatten.
Provinz als eigentliche Avantgarde
Erst nach den schmerzhaften 20,5% der Bundestagswahl fällt es Politikern wie Sigmar Gabriel ein, was sie vor der Wahl besser hätten tun sollen, damit sie wohl – ganz Futur 2 – vorher erfolgreicher gewesen wären. Beeindruckt hat mich die freie Rede von Franz-Josef Strauß anno 1953: „So gern ich Herrn Dr. Adenauer und Herrn Dr. Schumacher miteinander redn seh´, so wenig möchte ich sie in ein paar Jahren hinter dem Stacheldraht im Ural sich darüber unterhalten sehen, was sie im Jahr 1953 hätten tun sollen, um so eine Situation zu verhindern“. Futur 2 konnten verstorbene Politiker früher wohl besser.
Der Rhetor FJS mahnte an, nicht die falschen Weichen zu stellen. Was hätte man vor der Wahl hätte tun sollen, wenn man anno 2017 aus Goslar oder Würselen kommt wie Gabriel oder Martin Schulz? Die Provinz weniger pathologisieren und verächtlich machen – Stichwort Pack oder Schützenfest, abgehängt oder Breitbandkabel. Das größte politische Genie der jüngeren Vergangenheit kam aus Oggersheim. Nachfolger Schröder aus Mossenberg und heute bestraft uns Frau Merkel aus Templin mit ihren Silvesteransprachen.
Grund zur Arroganz
Es gilt nicht, sich bei den Städtern anzubiedern, im Gegenteil. Durch die PISA-Studie wissen wir alle, dass man in den Stadtstaaten Bremen und Berlin sowie in der Metropole Ruhr (Neusprech für Kohlenpott) nicht bis 10 zählen kann und dumm wie Stulle ist, als wäre der Vater ein Ochse und die Mutter eine Kuh. Man kann durchaus einen überlegenen Habitus der Provinz etablieren: das Land ist adlig, die Städte haben nur Bürger oder wie es in Hitchcocks Film die 39 Stufen heißt: „Gott hat das Land gemacht, der Mensch nur die Städte.“
Ohne die Schüler aus funktionierenden Familien, die nicht den ganzen Tag mit Hartz-IV-TV im Unterhemd wie in Altona, auf dem Hasenbergl oder in Neukölln verbringen, fehlt den großen Städten der Zufluss von Fähigen, die dort studieren. Gelnhausen, Ravensburg und Jena stechen locker Hamburg aus.
Was unverständlich bleibt
Ich habe ein paar Freunde, die jetzt in Barcelona, Berlin oder Düsseldorf wohnen. Amüsiert bin ich immer wieder über den Mangel an Souveränität, wenn sie zu ihren Familien zurückkehren. Sie scheinen jedes Klischee zu glauben, das ihre Bekannten und Kollegen ihnen unter die Nase schmieren, wobei diese selbst aus Delmenhorst, Garmisch und Herdringen kommen und sich ihrer Herkunft schämen – ganz ohne Grund.
Es ist also ein wenig wie beim kretischen Paradoxon. Jeder Highpotential der Großstadt schämt sich seiner provinziellen Herkunft wie ein Homosexueller in den 1950er Jahren. So etwas gibt es einfach nicht, basta. Weiter mit dem Selbstbetrug.
Fast alle tauglichen Studenten profitieren von der hervorragenden provinziellen Ausbildung, die sie für das Studium qualifiziert hatte, finanziert von den intakten selbständigen Familien der Mittelschicht. Diese Ausbildung fand in der Regel in Neulußheim, Meschede und Willingen statt. Die Gesamtschulen von Berlin und Hamburg taugen kaum für die Beschäftigung mit Hesse-Matrizes, das Studium des kategorischen Imperativs, des Dahrendorf-Hauses oder Luhmanns System-Theorie.
In Berlin schleppen Provinzler die Ureinwohner Marke Berlin – Tag und Nacht durch. Was wäre die Hauptstadt ohne Talentzufluss aus der Peripherie? Ein großer Misthaufen zwischen Potsdam und Fürstenwalde!
Gesamtschulen in Hamburg, Bremen, Dortmund, Köln und Berlin reichen vielleicht für das Studium von Teletubbies und Big Brother sowie der Zeitung, deren Redakteur lange Zeit Diekmann hieß und jeden zu Guttenberg-look-alike-Wettbewerb gewonnen hätte.
Die Komplexe bezüglich Herkunft fallen auf. Eigentlich sollten Psychotherapeuten die phobia provincialis erfinden – Hauptsymptom: Ekel vor sich selbst: es wäre überfällig. Dass sie bisher nicht darauf kommen, nachdem Burn-out und Fibromyalgie nicht als Unsinn abgelehnt worden waren – unverständlich.
Probe aufs Exempel
Ich wohne in Arnsberg. 75000 Einwohner, kein konkurrenzfähiges Theater, kein Sterne-Restaurant, man könnte uns abschreiben. In meiner Klasse, die nicht die einer Privatschule, sondern eines normalen Gymnasiums war, hatten wir in der Abiturientia 1997 zwei künftige Geschäftsführer von Weltmarktführern, einen Landtagsabgeordneten, zig Zahnärzte, Professoren und Rechtsanwälte.
Meine Freunde aus Barcelona et cetera, die ich in der Weihnachtszeit häufiger sehe, werden nicht müde, über ihre Herkunft kritisch zu reflektieren. „Du kriegst die Leute aus dem Dorf, aber das Dorf nicht aus den Leuten“ dichtete Thees Uhlmann von Tomte. So ist es. Der Komplex in den Neustädtern wabert wie die Paranoia bei Bruce Willis in 12 Monkeys. Es verselbständigt sich etwas, wozu es keinen Grund gibt.
Bei Gelegenheit sage ich meinen Freunden in Barcelona, Berlin oder Düsseldorf, dass es gerade eine Ausstellung von Bill Viola, William Kentridge, Francisco de Zurbaran oder Georg Baselitz (dieser kommt übrigens aus dem gleichnamigen Ort, jenseits von Berlin und New York) in ihren Städten gibt. In solchen Momenten gibt es dann ungläubiges Staunen, ohne Navid Kermani. Nicht selten sind die Namen der Künstler gänzlich unbekannt, die Kenntnis, dass es zwei Kilometer vom neuen Wohnort eine Ausstellung gibt oder gab: Fehlanzeige.
Mit einem Künstlerfreund, der selbst wie ich in Arnsberg-Neheim wohnt und im Pisskaff namens Siegen Kunst studiert hatte, gehe ich gern in die Guggenheim Museen, Momas und von der Heydt-Museen dieser Welt. Er hat unglaublich viel Ahnung, während die Kollegen in Frankfurt, Hamburg und Wien ihre hohen Mieten für ihre Mini-Butzen bezahlen, um kurze Wege zur Lieblings-Sushi-Bar zu haben und von der Welt der Kunst ahnungslos zu bleiben.
Wie unkultiviert: kein Wunder – Großstädter. Ist das nicht witzig?!?!?!?
Ein kleiner Fußtritt zum Ende noch: mit einem anderen befreundeten Künstler aus Neheim unterhielt ich mich, nachdem er von einer überregionalen Zeitung aus Hamburg interviewt worden war. Mir sagte er, der Interviewer habe seine Zeichnungen mit ungläubigem Staunen quittiert: „Ich dachte, sie malen hier nur Kühe“.
Fragt sich, wer die Kuh ist.
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