Die Belichtung Italiens oder: „Auch ich in Arkadien!“ (J. W. Goethe)

„Den 3. September früh drei Uhr stahl ich mich aus dem Karlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen. Man merkte wohl, daß ich fort wollte. Ich ließ mich aber nicht hindern, denn es war Zeit.“ Als sich Johann Wolfgang von Goethe unter dem Namen Möller im Jahre 1786 aus dem böhmischen Badeort davonschlich, hatte er vor, seinem Leben eine komplett neue Wendung zu geben. Er reiste nach Italien, um Maler zu werden. Ihm machten es in den letzten Jahrhunderten viele deutsche Dichter, Künstler und Denker gleich, die den „Stiefel“ am Mittelmeer zum Traumreiseland schlechthin erkoren und immer wieder mit unterschiedlichen Zielen und Vorstellungen bereisten und neu entdeckten. Bereits im sechzehnten Jahrhundert begann der Jungadel Europas auf „Grand Tour“ zu gehen. Differenzierte kulturelle Ansichten und regional bedingt voneinander abweichende Italienbilder entstanden dadurch. Goethes „Italienische Reise“, das Resultat seiner „Selbstfindung“, ließ letztendlich die letzte Hemmschwelle brechen und schrieb den nach Süden Ziehenden ihr ganz spezielles Sehnsuchtsland in die Seele. Deutsche Bildungsbürger passierten von nun an die Alpen in Scharen. Man wollte erleben, was Goethes Arkadien geformt hatte und den von ihm beschriebenen Mythos vom leichten, unbeschwerten Leben im Süden nährte: Italiens Natur und Kunst, sein „ganz sinnliches Volck“ und vor allem die seit Johann Joachim Winckelmanns Schriften vergötterte klassische Antike.
Schon bald profitierte dieser Tourismus von der Erfindung der Fotografie, die im Nu die Druck-Grafik vom Souvenirmarkt verdrängte. Eine Auswahl historischer Aufnahmen wurde nun in diesem Prachtband wirkungsvoll in Szene gesetzt. Als verbindendes Glied fungieren neun, leider – und das ist auch schon der einzige Kritikpunkt – nur sehr kurze Auszüge aus der „Italienischen Reise“ unseres Dichterfürsten. Von Karlsbad aus rumpelt der Leser gemeinsam mit dem Herrn Geheimrat in einer Postkutsche stiefelabwärts. Er bewundert in den frühen Morgenstunden den Gardasee, schlendert an der Arena von Verona vorbei, lässt sich in einer Gondel über die Wasserstraßen von Venedig staken, erreicht nach einem Abstecher über Bologna das prächtige Florenz („Es ist hier alles zugleich tüchtig und reinlich, Gebrauch und Nutzen mit Anmut sind beabsichtigt, überall lässt sich eine belebende Sorgfalt bemerken“) und besteigt wie einst Goethe voller Ehrfurcht das Kapitol, „das wie ein Feenpalast in der Wüste dastand“. Er steht unter dem „ganz finster, finstern Schatten werfenden“ Triumphbogen oder vor der – heute unvorstellbar – menschenleeren Spanischen Treppe in Rom. Auf der Via Appia geht es hernach weiter nach Süden bis Neapel („Die Gebäude mit flachen Dächern deuten auf eine andere Himmelsgegend, inwendig mögen sie nicht sehr freundlich sein“). Von dort stattet er den Fischern von Capri einen Besuch ab und setzt letztendlich nach Sizilien über: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem.“
„Die Atmosphäre ward über den Wolken Herr und der Abend gar schön.“
Die historischen Aufnahmen strahlen durchweg eine gewisse Ruhe, ja beinahe Weltentrücktheit aus. 64 großformatige Fotografien aus dem 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert (die ältesten von 1865) enthält das schwergewichtige Buch. Bilder aus einer Epoche, als die Welt zum ersten Mal belichtet wurde: schwarzweiß, braunstichig und gelegentlich handkoloriert, von bekannten oder unbekannten Fotografen. Menschenleer sind die festgehaltenen Augenblicke zumeist, gelegentlich zuckeln Pferdefuhrwerke oder Eselskarren über leergefegte Straßen. Städte ohne Verkehrschaos und Lärm, beinahe wie eine Kulisse zu einem Theaterstück. Das lag jedoch an den damals noch unendlich langen Belichtungszeiten, die Bewegungen nur als verwischte Schatten erahnen lassen. Gebäude, die heute nicht mehr existieren, verbaut oder „zu Tode restauriert“ worden sind, erscheinen in diesen Aufnahmen herzerwärmend intakt und wecken im Betrachter des 21. Jahrhunderts nostalgische Gefühle. Morbide und bröckelnd erzeugen sie eine ganz eigene, äußerst reizvolle Atmosphäre.
Fazit: „Weit über Goethes eigene Absichten hinausreichend (…) liegt die Bedeutung der Grand Tour (…) genau in den Reizen der bruchstück- und ausschnitthaften Entdeckungen eines 'anderen', nicht mehr vorhandenen, in Raum und Zeit verschobenen Ortes.“, schreibt im Vorwort Andrea Amerio. Genau dies spiegelt das wunderbare, in Seide gebundene, edle Buch wider. „Ein Ort“, um noch einmal Amerio zu zitieren, „der mit zu Hause verglichen weniger attraktiv erscheint, aber in dem es möglich ist, sich fallen zu lassen, sich zu verlieren und Träumen nachzuhängen, um im Namen dessen, was einmal war, besser als jegliche Wirklichkeit zu sein“. Ein Buch zum darin Versinken und sich an Goethes Worten, die durchaus etwas ausschweifender hätten eingebracht werden können, zu ergötzen. Aber es bleibt immer noch das Original heranzuziehen und dann die visuelle, „arkadisch-sinnbildliche und saturnalische“, sentimentale Grand Tour noch einmal zu unternehmen. „Italien ist hier in diesen losen Bildern, diesen Ausschnitten, versammelt. Es sind Augenblicke, die eine Reise begleiten, die ihrerseits auch immer eine andere ist: eine Reise 'des anderen'“, wie Andrea Amerio treffgenau feststellt.

Andrea Amerio
Grand Tour
Mit Goethe durch das alte Italien
Hatje Cantz Verlag (Juni 2013)
144 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3775736182
ISBN-13: 978- 3775736183
Preis: 98,00 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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