Am 11. Februar 2022 feierte die französische Ordensfrau und älteste Europäerin Lucille André Randon ihren 118. Geburtstag.
Ihr Leben, ein Geschichtsbuch, von Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Man könnte auch sagen: Ein Säkulum voller Wirren und Irrungen, die auch an Schwester Lucille André Randon FdC nicht spurlos vorübergegangen sind. Geboren 1904 im Süden Frankreichs waren es zwei Weltkriege, ungezählte Regierungen und zehn Päpste, die die heute 118-jährige Ordensfrau überlebt hat; ebenso die Massenverbrechen Stalins an allem, was nur den Anschein von Kirche, Christentum und Klosterleben erweckte. „Selbst unter französischen Kommunisten sorgten die roten Verbrechen an katholischen Klerikern zu Beginn der 1930er Jahre für Entsetzen, als nach und nach Details eines Jahrhundertverbrechens durchsickerten und das Bild von der Sowjetunion geraderückten“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin. Mit der Folge, dass sich selbst der frühere Kommunist und sozialistische Staatspräsident François Mitterand deren – letztendlich erfolgreiche – Zerstörung durch Aufrüstung zum Ziel setzte. Unvergessen sind Schwester André auch die vielen Toten und Versehrten im spanischen Bürgerkrieg, die in Südfrankreich ab 1936 Zuflucht suchten und oft genug an Hitler-Deutschland ausgeliefert wurden. Viele starben in den Konzentrationslagern von Buchenwald, Dachau und Mauthausen, andere überlebten und sagten später als Zeugen bei den Nürnberger Prozessen gegen ihre vorherigen Peiniger aus. Recht und Unrecht, Hoffnung und Verzweiflung, die Ingredienzen wohl so mancher Lebensläufe, sie bildeten den Rahmen dessen ab, was sich in der Mitte Europas und im Ordensleben der geistig noch immer wachen Schwester abgespielt hat.
Geschundener Kontinent
Nachdem Deutschland und Frankreich 1919 in Versailles einen mehr als fragilen Frieden geschlossen hatten, war Schwester André 15, und als Hitlers Wahn vom Lebensraum in einer Apokalypse endete 41. Hunger, Bombenangriffe und die Verfolgung französischer Juden hatte sie sehenden Auges erlebt, oft versunken im Gebet und ohnmächtig, dagegen zu opponieren. Wie viele Europäer konnte auch die junge Ordensfrau André Randon nur sprachlos zusehen, wie ab 1940 in Frankreich Willkür, Gewalt und Zerstörung zu Koordinaten einer verbrecherischen Politik mutierten, an deren Ende ein zerstörter Kontinent und ein traumatisierter Globus standen. „Wir wollten leben, überleben und am Aufbau einer besseren Welt mitwirken“, so beschrieb Schwester André die Befindlichkeit vieler, v.a. junger Menschen ihrer Generation nach 1945. Das unter Hitler Geschehene schoben viele beiseite, verdrängten es nach hinten; auch weil es galt, in den Trümmern des tausendjährigen Reiches zu überleben, will sagen: ein wenig Ordnung zu schaffen zwischen all dem Geröll der Bombennächte über Lyon, Rouen und Perpignan. Viele, ja fast die meisten Wegbegleiter Schwester Andrés sind längst verstorben, und „übriggeblieben“ sei sie wohl nur deshalb, weil „der Herr mich nicht will“, so notierte ein belgischer Journalist an ihrem 115. Geburtstag. Die Gebrechen des Alters trage sie gelassen, sagen Leute aus ihrem Umfeld, von Gott getragen und vielen Mitmenschen geliebt. Die gegenwärtig älteste Europäerin und Ehrenbürgerin Toulons müsse gefüttert, gewaschen und zu Bett getragen werden. Ihr Augenlicht, so heißt es, sei stark geschwächt, und doch sei sie für ihr Alter erstaunlich fit und zugewandt. Sie möge es, bei warmen Wetter im Rollstuhl in den klostereigenen Garten gefahren zu werden, berichtet eine Pflegerin. Auch wenn Schwester André die Blütenpracht im Frühling wohl mehr erahnen als tatsächlich sehen könne, fügt die Frau hinzu. Ein von Papst Franziskus geweihter Rosenkranz sei ihr ein und alles, wird erzählt. Fast täglich nehme Schwester André auch noch am Gottesdienst ihrer Gemeinschaft teil und könne Besucher empfangen, „soweit es die Umstände zulassen“.
Suche nach Spiritualität
Als die dem Vincentinerinnenorden seit 1944 angehörende Schwester 1979 in den Ruhestand trat, lagen bewegte Lebensjahre hinter der damals 75-jährigen. Die Tochter eines französischen Volksschullehrers aus Alès verdingte sich in jungen Jahren als Kinderfrau, unter anderem bei der Familie des Automobilherstellers Peugeot, bevor sie 1923 zum römisch-katholischen Glauben konvertierte und den Wunsch verspürte, ein „vertieftes, sinnerfülltes Leben in Gottes Nähe“ zu führen. Warum Schwester André zwanzig Jahre später ihrem Mutterkloster Maison des Filles de la Charité in Paris den Rücken kehrte und sich den Vincentinerinnen anschloss, bleibt ein wohl gehütetes Geheimnis, zu dem sich keiner äußern möchte. Aufgewachsen war die hochbetagte Ordensfrau in einem Umfeld, wo Religion weitgehend ohne Spiritualität gelebt wurde, wo es an Tiefe, Gottesnähe und Rückbindung an das Innere des Menschen gefehlt habe, sagt sie. „Und wo es statt Witzen wohl eher Fachbücher über das Lachen gegeben haben dürfte“, beschreibt der Historiker Stephan Oelker bildhaft die religiöse Atmosphäre in der französischen Provinz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erst die Erfahrungen zweier Kriege und diverse Schicksalsschläge, darunter der frühe Tod ihrer jüngeren Schwester, ließen in der jungen Frau die Gewissheit heranreifen, dass das irdische Leben oft nur der sündenbehaftete Abklatsch dessen ist, was Gott von seinen Schützlingen erwartet. Ihre spätere Entscheidung, als Pflegekraft in einem Krankenhaus zu arbeiten, war für Schwester André denn auch mehr Berufung als Beruf, wie viele ihrer früheren Kollegen bestätigten.
Kontakte nach Deutschland
Jahrzehntelang hat sich Schwester Randon für Kranke, Gebrechliche und sozial Randständige eingesetzt, wissen Mitarbeiter in der Presseabteilung des Touloner Stadtverwaltung zu berichten. Vor Verleihung der Ehrenbürgerwürde mussten sie sich quasi von Amts wegen intensiv mit dem Leben der hochbetagten Ordensfrau beschäftigen. Und haben dabei so manche Anekdote befördert, die zeigte, wie sehr sich Schwester André als Dienerin Gottes und der Menschen sieht, egal ob jung oder alt, gebildet, mit oder ohne Schulbildung. Einmal, kurz vor Kriegsende soll sie einem jungen deutschen Wehrmachtssoldaten, der in alliierte Gefangenschaft geraten war, auf Französisch einen Brief an dessen ebenfalls katholische Eltern geschickt haben, woraus nach dem Krieg eine intensive Freundschaft erwuchs – lange bevor Charles de Gaulles und Bundeskanzler Konrad Adenauer im Pariser Elysee-Palast einen Vertrag unterzeichneten, der aus Feinden Freunde machte und einen Herzenswunsch der bis heute zweitältesten Erdenbewohnerin schon vor sechzig Jahren in Erfüllung gehen ließ.