Péter Esterházy, Keine Kunst, Titel der Originalausgabe: Semmi müvészet, Aus dem Ungarischen Terézia Mora, Berlin Verlag, Berlin (März 2009), 253 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3827008158, ISBN-13: 978-3827008152, Preis: 22,00 EURO
„Keine Kunst“ heißt der neue Roman Péter Esterházys, und schon der Titel des Buches lässt etwas von der Mehrdeutigkeit und dem inhaltlichen Anspruch erahnen. Denn der ungarische Autor erzählt keineswegs locker und leger die Geschichte seiner Familie und ganz speziell die seiner eleganten, kühnen und provokanten Mutter, auch wenn der unbeschwerte Plauderton, der zuweilen Tragisches und Ernstes in beinahe schockierender Leichtigkeit übermittelt, dies anfänglich vermuten lässt. Sondern der vielfach preisgekrönte Schriftsteller (u. a. 2004 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für sein Opus Magnum „Harmonia Caelestis“) hat sich – wie es scheint – eines äußerst anspruchsvollen Stilmittels aus der Opera buffa bedient: dem Parlando, einem schnellen „Singen“ mit gut artikulierter Aussprache und leichter Tongebung unter genauer Beachtung des Rhythmus. „Keine Kunst“ ist also alles andere als keine Kunst, sondern – im Gegenteil – allerhöchste literarische Kunstfertigkeit.
Dabei hat Esterházy ein ziemlich plebejisches Thema – den Fußball – mit der vornehmen Aristokratie seiner ehemals gräflichen Adelsfamilie und dem Aushängeschild derselbigen – seiner Mutter – verknüpft und dies vor dem Hintergrund des kommunistischen Ungarn der Nachkriegszeit angesiedelt. Kunstvoll verwebt er diese so ganz und gar nicht zueinander passenden Bereiche und generiert Lili Esterházy als autokratisches Verbindungsglied zwischen derber Vorstadtkickerei und stilvollem Anspruch, zusätzlich freundschaftlich verschränkt durch die Gestalt des ungarischen Fußball-Mythos Ferenc Puskás aus der Wunderelf von Bern.
Esterházy treibt dieses Spiel soweit, dass er seiner Mutter ebendiese Fußballliebe als einzig wahre infiltriert. „Es gab nichts, womit meine Mutter so eine Leidenschaft verband wie mit dem Fußball, weder mit meinem Vater noch mit ihren Kindern noch mit dem Herrgott.“ Und an dieser Leidenschaft entlang rankt er vielerlei ungarische Fußball-Legenden, aber auch allerhand politische Kalauer und Patei-Anekdoten aus der Zeit des Rákosi- und des Kádár-Kommunismus. Alles in allem geht es um das Leben und Sterben der Mutter, aber auch des Vaters und dessen Gefoltertwerden von der Stasi in der Nachkriegszeit. Der Autor berichtet von der politischen Enge, Unfreiheit und Angst der Ungarn in den 50ern und der „einzigen“ Freiheit durch das Spiel mit dem 21,5 cm (Durchmesser) runden Lederball.
Doch keine stringente Handlung führt zielsicher zu einer Pointe bzw. zum kulminierenden Höhepunkt, sondern Esterházy verlangt von seinem Leser Intellekt und vor allem hochgradige Geistesgegenwart, um seinen einfallsreichen, kreativen, schillernden, delphischen, mitunter seitenlangen, durch Klammereinschübe noch zusätzlich irreführenden Schachtelsätzen zu folgen und sie in ihrer Gesamtheit überhaupt zu erfassen und zu verinnerlichen. Nicht nur paralleles Wahrnehmen wird hier vorausgesetzt, sondern eine Triade oder gar vierspuriges Denken sind von Vorteil, um sich nicht im Gewirr der Sätze und Gedanken zu verlieren. Von einer entspannenden Nachmittags- oder Abendlektüre kann also bei Weitem nicht ausgegangen werden, sondern es gehört eine gehörige Portion Aktionismus und Willen dazu, sich aus diesem Wirrwarr zu befreien und die Bedeutung der Sprache, die über der der Handlung liegt, herauszuschälen.
Zwei Sätze aus dem Buch, in denen Esterházy seine Mutter bzw. seinen Vater charakterisiert, können gleichfalls auf den gesamten Duktus des Romans übertragen werden: „Meine Mutter verfügte über die seltene Gabe, die auch mit dem Alter kaum blasser wurde, mal unerwartet, Verhüllungen herunterreißend, mal ausdauernd und leise steigernd aufdeckend, ununterbrochen: den Reichtum der Dinge aufzuzeigen.« Der Vater: „Er klebte alles mit Worten voll. Nach dem Muster der Sexbesessenheit wurde er von der Wut des Benennens erfasst, streute die auf ihre Benennung wartenden Dinge mit Synonymen voll, er redete und redete.“
Fazit:
Ein postmodernes, fragmentarisches Puzzle, einen komplizierten Patchworkteppich voller bizarrer Muster, die allesamt Gedanken und Geschichten enthalten, die in den 50er Jahren des kommunistischen Ungarns angesiedelt sind, ein rastloses, multiples, schwindelerregendes Erinnern und Reflektieren ohne Struktur breitet Péter Esterházy in seinem neuen Roman vor dem Leser aus. „Keine Kunst“ ist zweifelsohne höchst kunstvoll. Dessen vertrackte Wortspiele hat Terézia Mora phantasievoll und kühn ins Deutsche übersetzt. Ob man jedoch die zahlreichen kleinen Perlen unter der „Kompliziertheit“ findet oder besser genießen kann, bleibt fraglich. Vielleicht beim zweiten oder dritten Lesen.
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