Dichter der Sintflut, des Weltuntergangs: Zur DDR-Rezeption Gottfried Benns

Der Berliner Lyriker Gottfried Benn (1886-1956), der die Jahre 1935/45 als Arzt in der „Wehrmacht“ überstand und mit seinen späten Gedichten in den Nachkriegsjahren zu unerhörtem Ruhm fand, blieb DDR-Lesern mehr als zwei Jahrzehnte unbekannt. So war er in dem von Günther Deicke und Uwe Berger edierten „Deutschen Gedichtbuch“ (Aufbau-Verlag, Berlin 1959) mit keiner Zeile abgedruckt! Zeitgenossen aber aus seiner expressionistischen Schaffensphase vor dem Ersten Weltkrieg wie Ernst Stadler (1883-1914), Georg Heym (1887-1912) und besonders Georg Trakl (1887-1914) waren jeweils mit vier bis acht Gedichten vertreten, wie auch die Nicht-Expressionisten Hugo von Hofmannsthal (1879-1929) und Rainer Maria Rilke (1875-1926) keineswegs fehlten. Wenn man freilich im Vorwort liest, dass die Auswahl deutscher Lyrik an das Kriterium geknüpft war: „das Überkommene vom Standpunkt der Arbeiterklasse prüfend“, dann versteht man vielleicht, dass Gottfried Benn hier nicht mehr tragbar war.
Nachdem die DDR-Archive zugänglich sind, kann man auch nachvollziehen, wie diese Anthologie erarbeitet und welche Autoren aufgenommen wurden. Danach stand die Auswahl der aufzunehmenden Lyriker unter der Aufsicht des DDR-Kulturministers Johannes. R. Becher (1891-1958), der selbst ein expressionistischer Lyriker gewesen war und der am 11. Oktober 1958 verstarb. Mitbeteiligt und nach dem Tod des Ministers verantwortlich war sein Stellvertreter Erich Wendt (1902-1965), der seit 1958 auch Vizepräsident des 1945 gegründeten „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ war, also einer der höchsten Entscheidungsträger in Sachen Kulturpolitik, der durchaus erwogen hatte, auch Stefan George und Gottfried Benn in diese Anthologie aufzunehmen, diese Entscheidung aber wieder verworfen hat.

In dieser ideologisch begründeten Ablehnung, wie sie im Vorwort der Anthologie zu lesen war, teilte Gottfried Benn also das Schicksal Stefan Georges (1868-1933), der in dieser Anthologie auch fehlte, von dem aber 1987 im Leipziger Reclam-Verlag, erarbeitet und mit einem Nachwort versehen von Horst Nalewski, Germanist an der Leipziger Karl-Marx-Universität, eine Auswahl von 143 Seiten erschien.
Bei Gottfried Benn freilich, dem Agnostiker und Nihilisten, war die Situation viel komplizierter. Wenn ihn schon die Leser nicht kennen durften, so kannten ihn doch die Germanisten und Lexikonverfasser, die ihn aus der deutschen Literaturgeschichte auszugrenzen suchten. So konnte man in der ersten Auflage des „Deutschen Schriftstellerlexikons“ (Volksverlag, Weimar 1960) über ihn lesen: „bürgerlicher Dichter, unter den dekadenten Schriftstellern einflussreichster Lyriker, absoluter Nihilist“, ein vernichtendes Urteil, das erst in der vierten Auflage (Leipzig 1967) revidiert wurde. In allen Auflagen aber wird, was nicht falsch ist, auf seine vorübergehende Nähe zum Nationalsozialismus verwiesen : „Benn begrüßte anfangs ostentativ den Nazistaat als schicksalhaften Vorgang, im Glauben, (er)…würde den Nihilismus der spätbürgerlichen Dekadenz überwinden“ (1967). In der Auflage von 1972 klang der Vorwurf der Kumpanei mit dem NS-Staat schon etwas verhaltener: „Benn wandte sich – seinen Irrtum erkennend – Ende 1934 von der nazistischen Herrschaft ab (die durch sein Wirken mit vorgebildet und vorbereitet worden war) und geriet in immer stärkere Isolierung“, was wohl heißen sollte, dass er leider den Weg zur revolutionären Arbeiterklasse nicht finden konnte.

Mit der Akzeptanz Gottfried Benns durch die SED-Kulturpolitik verhielt es sich ähnlich wie mit der Rezeption der Werke Franz Kafkas (1883-1924): Während von Helmut Richter in Leipzig 1959 und von Klaus Hermsdorf in Ostberlin 1961 zwei Dissertationen veröffentlicht wurden, waren die Prosatexte des Prager Autors verbotene Literatur bis in die sechziger Jahre hinein. Von Helmut Kaiser lag 1962 die Ostberliner Dissertation „Mythos, Rausch und Reaktion. Der Weg Gottfried Benns und Ernst Jüngers“ gedruckt vor, während die Texte beider Autoren, mit denen sich der Doktorand auseinander zu setzen hatte, offiziell nirgendwo greifbar waren. Es schien, als sollten mit wissenschaftlichen Arbeiten zunächst einmal die von Gottfried Benn in seinen Gedichten transportierte Ideologie unschädlich gemacht werden, ehe man es wagen konnte, die Texte selbst zur Veröffentlichung freizugeben.

So hieß es beispielsweise in einer vom Greifswalder Ordinarius Hans Jürgen Geerdts und einem Verfasserkollektiv erarbeiteten „Deutschen Literaturgeschichte in einem Band“ (Berlin 1965) über den Dichter: „der Blut und Ekel der Krebsbaracken naturalistisch-zynisch ausmalt.“ Ausführlicher war da die gleichfalls 1965 im Leipziger Reclam-Verlag von einem sechsköpfigen Verfasserkollektiv veröffentlichte Darstellung „Deutsche Literatur im Überblick“, worin der Dichter etwas sachlicher, wenn auch ablehnend interpretiert wurde: „Einer der markantesten Vertreter solcher bürgerlichen Verfallskunst war der Arzt Gottfried Benn (1886-1956), in dessen `Morgue`-Gedichten (1912) sich das Bild des Menschen in eine abstrakt klinisch und nihilistisch gesehene Folge von Kadaverwiderwärtigkeiten auflöste.“ Und später hieß es über die „Statischen Gedichte“ von 1948: „Der ehemalige Faschist bemühte sich darum, die Situation der bürgerlichen Intellektuellen radikal nihilistisch auszudrücken: Zersplitterung des Individuums, Geschichtslosigkeit, die aus allen Zeiten und Kulturen nur beziehungslose Splitter holt, Neigung zu Untergang und Tod montierte er zu lässig gesprochenen Gebilden, die viele Intellektuelle fasziniert haben.“

Es waren also politische Gründe, die den in Sellin/Neumark als Pfarrerssohn aufgewachsenen Dichter, der 1905/10 in Berlin Medizin studiert hatte, aus dem Kanon deutscher Lyrik ausschlossen. In seinen Rundfunkreden „Der neue Staat und die Intellektuellen“ (24. April 1933) und „Antwort an die literarischen Emigranten“ (24. Mai 1933) hatte er sich , der seit 1932 auch der „Preußischen Akademie der Künste“ angehörte, ausdrücklich zum Nationalsozialismus bekannt. Die Distanzierung erfolgte allerdings schon im Sommer 1934, die Ausgabe seiner „Ausgewählten Gedichte“ (1936), zum 50. Geburtstag erschienen, wurde von der SS-Wochenzeitung „Das Schwarze Korps“ am 7. Mai 1936 in niederschmetternder Weise diffamiert. Schließlich wurde der Autor 1938 aus der „Reichsschrifttumskammer“ ausgeschlossen, obwohl er zur gleichen Zeit in der „Wehrmacht“ Karriere machte und 1939 zum Oberstleutnant (Oberfeldarzt) befördert wurde.

Seit dem Jahr 1968 aber setzte, auf merkwürdigen Umwegen, eine langsame Revision dieses harten Urteils über den politischen „Sündenfall“ von 1933/34 ein, von dem das lyrische Werk, das in Westdeutschland zunehmend anerkannt und geschätzt wurde, immer mitbetroffen war. Hatte noch 1952 der kommunistische Schriftsteller Johannes R. Becher (1891-1958) in Ostberlin, auch er einst expressionistischer Lyriker, in einer Zuschrift an den Westberliner „Tagesspiegel“ dem im Westteil der Stadt lebenden Kollegen vorgeworfen, sich 1933 „auf eine widerwärtige Art“ den neuen Machthabern „angebiedert“ zu haben, und hatte er noch 1957, inzwischen DDR-Kulturminister geworden, in seinem Buch „Das poetische Prinzip“ einen Abgesang auf den „Sänger der Sintflut, des Weltuntergangs“ angestimmt, so erschien elf Jahre später im Leipziger Reclam-Verlag ein Nachdruck der klassischen Sammlung „Menschheitsdämmerung“ (1919) von Kurt Pinthus, in der 23 Dichter verzeichnet waren, darunter auch Gottfried Benn (acht Gedichte) und Johannes R. Becher. Die Einleitung stammte von Werner Mittenzwei, Germanist am „Zentralinstitut für Literaturgeschichte“ in Ostberlin, der den Grundtenor dieser expressionistischen Dichtung „menschenfreundlich, humanistisch“ nannte, was freilich auf einen Autor nicht zuträfe: „Die Ausnahme heißt Gottfried Benn. Dieser Dichter ist der große Außenseiter des Expressionismus. An die Stelle des zynisch lebensbejahenden oder todverfallenen Gesangs auf den Menschen tritt im Frühwerk Benns der kalte Zynismus…Die weltanschauliche Aussichtslosigkeit schlägt bei Benn in schrankenlose Menschenverachtung und Menschenverneinung um. Als Gegenstand der Dichtung erscheint bei ihm der Mensch oft erst im Stadium der Verwesung seiner physischen Substanz.“ Ob das stimmt, soll dahingestellt bleiben, immerhin verfügten die DDR-Leser jetzt über acht frühe Gedichte des Berliner Arztes, darunter auch das berühmte „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“

Schroffe Ablehnung dieser Art von Lyrik, wie sie der in Westberlin lebende Arzt Gottfried Benn vorführte, bekundete auch der Germanist Gerhard Wolf (1928), Ehemann der Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011), in seinem Buch „Deutsche Lyrik nach 1945“, erschienen 1964 im Ostberliner Verlag „Volk und Wissen“. In drei Abschnitten behandelte er die „Deutsche Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1949)“, die „Lyrik in Westdeutschland (1949-1962)“ und die „Lyrik in der DDR (1949-1962)“. Dem Dichter Gottfried Benn widmete er dort knapp zwei Seiten und warf ihm „Untergangsstimmung“ vor und „Leugnung der Geschichte und des Entwicklungsgedankens“, schließlich bemängelt er, dass „an Stelle der Erkenntnis“ ein „dumpfer Mythos“ träte.

Ein Jahr nach dem Nachdruck der „Menschheitsdämmerung“ erschien eine weitere Anthologie, kein Nachdruck, sondern eine DDR-spezifische Auswahl von Martin Reso, Silvia Schlenstedt und Manfred Wolter unter dem Titel „Expressionismus. Lyrik“ (1969) im Umfang von 664 Seiten. Diese neue Sammlung, die 60 Autoren anbot, war wesentlich breiter angelegt und sollte vor allem die linken Strömungen in dieser Lyrik, die bei Kurt Pinthus nicht oder zu schwach vertreten waren, sichtbar machen. Hier war Gottfried Benn mit zehn Gedichten aus den Jahren 1912/26 vertreten. Im umfangreichen Nachwort (41 Seiten) der Ostberliner Germanistin Silvia Schlenstedt, worin die Kriterien der Auswahl dargelegt wurden, kam er allerdings nicht vor.

Aber mit dem Abdruck dieser 18 Gedichte 1968/69 wurde sein lyrisches Werk nun auch von der marxistischen Literaturgeschichtsschreibung gewürdigt, zumal es inzwischen auch DDR-Lyriker gab, die den bis 1968 unerwünschten Autor „schöpferisch“ gelesen hatten und ihn in Stil und Sprachmelodie nachahmten, wie man beispielsweise an Franz Fühmanns (1922-1984) Gedicht „Der Nibelunge Not“ nachvollziehen kann. In der zwölfbändigen „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“, die in den siebziger Jahren im Ostberliner Verlag „Volk und Wissen“ erschien, wurde Gottfried Benn in drei Bänden vorgestellt, im neunten (bis 1917),im zehnten (1917-1945) und im zwölften Band (1945-1956). Während es im zehnten Band noch vorwurfsvoll hieß: „Nach anfänglicher Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Regime erfolgte in den nächsten Jahren der völlige Bruch…“, wurde für die Nachkriegszeit von einer „Ideologie des ästhetizistischen Hochmuts“ gesprochen, „die es erlaubt, sich mit dem wie immer gearteten Weltlauf gleichgültig abzufinden.“

Drei Jahre nach Erich Honeckers Machtantritt 1971 erfolgte durch Peter Reichel die Generalabrechnung mit dem „Dichter des Untergangs“. In seinem Buch „Künstlermoral. Das Formalismus-Programm spätbürgerlicher Dichtung in Gottfried Benns `gereimter Weltanschauung`“ (112 Seiten), das bezeichnenderweise als Band 42 in der von Manfred Buhr herausgegebenen Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“ 1974 im Ostberliner Akademie-Verlag erschien, zog er in zehn Kapiteln alle Register marxistisch-leninistischer Verwerfung eines ideologisch anrüchigen Autors. Daß hier nicht literaturwissenschaftlich, sondern politisch argumentiert wurde, zeigten die Kapitelüberschriften wie „Erkenntniskrise und Weltekel“, „Mechanistische Geschichtsbetrachtung“ und „Menschenverachtung“. An einfühlsamer Werkanalyse und Gedichtinterpretation war Peter Reichel nicht interessiert!

Zum 100. Geburtstag Gottfried Benns 1986 aber erschien, was niemand mehr erwartet hatte, ein schon seit 1984 vorbereiteter Auswahlband „Einsamer nie“ im Ostberliner Verlag „Volk und Welt“ mit über 90 Gedichten. Das kluge und einfühlsame Nachwort stammte von Joachim Schreck, einem unbekannten Germanisten, der sich ernsthaft mit der Lyrik des verfemten Dichters auseinander gesetzt hatte. Auch er ging auf die Jahre 1933/34 ein, fand aber leisere Töne für den Zwiespalt, in dem der Dichter damals lebte: „ Und 1934 beginnt der Rückzug; wenigstens für seine Person begreift Benn, dass er einem entsetzlichen Irrtum aufgesessen ist…Ein Mitläufer der Nazis im einschichtigen Sinn, ein Karrierist, auf Posten und öffentliches Ansehen im ´neuen Reich´ spekulierend, ist Benn sicher nicht gewesen…Doch seine radikalistische Zivilisationskritik hat ihn in die gleiche Richtung und an das nämliche Tor geführt, hinter dem auch die Vernichtung alles Geistigen anhebt und vor dem er schließlich erschrocken haltmacht.“

Enthalten war in diesem Band auch das vielgerühmte Gedicht „Nur zwei Dinge“, dessen letzte Strophe lautete: „Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich. Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnet Ich“. Drei Jahre nach Veröffentlichung diesen Buches fiel die Berliner Mauer.

Über Jörg Bernhard Bilke 263 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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