Deutsche Wirtschaft am Scheideweg – ifo Konjunkturprognose Winter 2024

dollarkurs weltwirtschaft aufschwung wirtschaft, Quelle: geralt, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

In diesem Jahr wird das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt voraussichtlich um 0,1% gegenüber dem Vorjahr zurückgehen. Damit tritt die deutsche Wirtschaft seit nunmehr fünf Jahren auf der Stelle.

Nachfrageschwäche und Strukturwandel belasten

In diesem Jahr wird das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt voraussichtlich um 0,1% gegenüber dem Vorjahr zurückgehen. Damit tritt die deutsche Wirtschaft seit nunmehr fünf Jahren auf der Stelle. Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und Deglobalisierung erfordern einen Umbau der Produktionsstrukturen, bei dem etablierte Geschäftsmodelle verschwinden und neue Produktionskapazitäten entstehen. Wirtschaftliche Analysen sind in solchen Phasen mit einer hohen Diagnoseunsicherheit behaftet. Denn aus der Veränderung wirtschaftlicher Kennzahlen lässt sich nicht unmittelbar ablesen, ob es sich um vorübergehende und damit konjunkturelle Schwankungen oder um eine dauerhafte Neuausrichtung der Produktionskapazitäten und damit um eine strukturelle Anpassung handelt.

Unternehmensbefragungen deuten auf beide Ursachen der schwachen Entwicklung hin. Konjunkturell belastet die schlechte Auftragslage der Unternehmen und damit die fehlende Güternachfrage. Die Straffung der Geldpolitik zur Bekämpfung der hohen Inflation und der inflationsbedingte Kaufkraftverlust in Deutschland und in vielen deutschen Absatzmärkten haben dazu beigetragen. Doch während sich die Volkswirtschaften weltweit allmählich erholen und die Nachfrage anzieht, profitiert die exportorientierte deutsche Industrie davon nur wenig. Vielmehr entkoppelt sich der deutsche Warenexport zunehmend von der weltwirtschaftlichen Entwicklung. Hier treten zunehmend strukturelle Ursachen in den Vordergrund. Insbesondere die Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes leiden unter dem spürbaren Verlust an Wettbewerbsfähigkeit vor allem auf den außereuropäischen Märkten. Um der Diagnoseunsicherheit Rechnung zu tragen, werden in der vorliegenden Prognose zwei Szenarien betrachtet.

Basisszenario: schleppende Entwicklung

Im Basisszenario wird davon ausgegangen, dass die schwache Entwicklung der vergangenen Jahre vor allem strukturell bedingt war und der Strukturwandel bereits sichtbare Spuren im Produktionspotenzial hinterlassen hat. Gleichzeitig wird unterstellt, dass es auch in den kommenden Jahren keine durchgreifenden Veränderungen geben wird. So zeichnet sich in diesem Szenario eine schleichende Deindustrialisierung ab, in deren Verlauf der Anteil der Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Bruttowertschöpfung dauerhaft zurückgehen wird. Industrieunternehmen verlagern ihre Produktion und damit auch ihre Investitionen ins Ausland. Das Produktivitätswachstum bleibt schwach, da Wertschöpfung in hochproduktiven Industriezweigen durch Wertschöpfung in Dienstleistungsbereichen mit geringem Produktivitätswachstum ersetzt wird. Dies spiegelt sich auch in der Beschäftigungsentwicklung wider. Zudem geht der Strukturwandel zwischenzeitlich mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit einher, da die in der Industrie freigesetzten Arbeitskräfte nicht unmittelbar in den Dienstleistungsbereichen eingesetzt werden können.

In diesem Szenario setzt sich die schleppende Entwicklung in den kommenden beiden Jahren fort und das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt wird lediglich um 0,4 bzw. 0,8% zulegen. Insbesondere vom Verarbeitenden Gewerbe gehen weiterhin keine positiven Wachstumsimpulse aus. Auch der Außenhandel und die Unternehmensinvestitionen entwickeln sich wenig dynamisch. Der private Konsum dürfte sich weiter erholen, aber nicht an Dynamik gewinnen. Zwar nehmen die real verfügbaren Einkommen und damit die Kaufkraft weiter zu. Allerdings bleibt die Sparquote vor dem Hintergrund der anhaltend großen Unsicherheit hoch. Die Baukonjunktur dürfte die Talsohle durchschritten haben und im Verlauf des kommenden Jahres wieder positiv zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beitragen.

Alternativszenario: optimistischer

Im optimistischeren Alternativszenario wird unterstellt, dass die Unternehmen den Standort nicht verlassen und ihre vorhandenen Produktionskapazitäten vorübergehend nur weniger ausgelastet haben als im Basisszenario. Zwar findet der Strukturwandel auch in diesem Szenario statt und verändert die Produktionsstrukturen. Er lässt aber nicht nur die alten Produktionstechnologien verschwinden, sondern auch neue im Verarbeitenden Gewerbe entstehen. Voraussetzung dafür sind verlässliche wirtschaftspolitische Weichenstellungen, die mit einer zügigen Verbesserung der Standortfaktoren im Prognosezeitraum einhergehen. Dazu zählen eine sinkende Steuerbelastung der Unternehmen sowie sinkende Bürokratie- und Energiekosten, der Ausbau der Digital-, Energie- und Verkehrsinfrastruktur und eine Erhöhung des Arbeitsangebots (z.B. durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Älteren oder Frauen, eine Ausweitung der Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten oder eine erleichterte Zuwanderung von Fachkräften). Gleichzeitig wird in diesem Szenario die hohe Unsicherheit über den wirtschaftspolitischen Kurs, die seit Jahren Investoren und Konsumenten hemmt, zurückgehen. Schließlich beschleunigt sich im Vergleich zum Basisszenario der Produktivitätsanstieg im Prognosezeitraum stärker, nicht nur als Folge der Erholung, sondern auch trendmäßig. Dazu trägt nicht zuletzt die Beschäftigungsentwicklung bei, die im Gegensatz zum Basisszenario im produktiven Verarbeitenden Gewerbe nicht abgebaut wird.

In diesem Szenario wächst das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt in den kommenden beiden Jahren mit 1,1% bzw. 1,6% mehr als doppelt so schnell wie im Basisszenario. Dazu trägt vor allem das Verarbeitende Gewerbe bei, das seine Exporte und Investitionen ausweitet. Auch der private Konsum gewinnt im Vergleich zum Basisszenario an Schwung, da die Arbeitseinkommen stärker steigen und die Sparquote schneller sinkt.

Inflationsdruck nimmt ab

Der Inflationsdruck nimmt in beiden Szenarien gleichermaßen ab. Allerdings dürfte die Inflationsrate im kommenden Jahr mit 2,3% in etwa auf dem Niveau des laufenden Jahres liegen und erst im Jahr 2026 weiter auf 2,0% zurückgehen. Dazu tragen im kommenden Jahr eine Reihe von Sondereffekten wie die Verteuerung des Deutschlandtickets, des Briefportos und der privaten Krankenversicherung bei. Im weiteren Verlauf dürften die Preissteigerungen bei den arbeitsintensiven Dienstleistungen im Einklang mit der nachlassenden Lohndynamik allmählich zurückgehen. Zwar sind die Lohnzuwächse im Alternativszenario höher als im Basisszenario. Entscheidend für die Inflationsdynamik ist jedoch, dass sich die realen Lohnstückkosten in beiden Szenarien ähnlich entwickeln, da die höheren Lohnzuwächse im Alternativszenario durch entsprechende Produktivitätssteigerungen kompensiert werden.

Finanzpolitik restriktiv ausgerichtet

Die Finanzpolitik ist in diesem und in den kommenden zwei Jahren restriktiv ausgerichtet. Im Basisszenario liegt das Finanzierungsdefizit des Staates im Jahr 2026 mit 2,5% des nominalen Bruttoinlandsprodukts genauso hoch wie im laufenden Jahr. Im Alternativszenario kommt es konjunkturbedingt zu Mehreinnahmen und Minderausgaben. Gleichzeitig wird unterstellt, dass Steuererleichterungen für Unternehmen verabschiedet und die Investitionsausgaben des Staates ausgeweitet werden. In diesem Szenario liegt das Finanzierungsdefizit im Jahr mit 2,2% des nominalen Bruttoinlandsprodukts niedriger als im laufenden Jahr.

Eckdaten der Prognose für Deutschland

2023 2024 2025
Basis-
szenario
2025
Alternativ-
szenario
2026
Basis-
szenario
2026
Alternativ-
szenario
Bruttoinlandsprodukt (Veränderung gegenüber Vorjahr in %) -0,3 -0,1 0,4 1,1 0,8 1,6
Erwerbstätige (1.000 Personen) 46.011 46.106 46.027 46.113 46.097 46.280
Arbeitslose (1.000 Personen) 2.609 2.788 2.959 2.833 2.903 2.610
Arbeitslosenquote (in % der zivilen Erwerbspersonen) 5,7 6,0 6,3 6,1 6,2 5,6
Verbraucherpreise (Veränderung gegenüber Vorjahr in %)
– Gesamtinflationsrate 5,9 2,2 2,3 2,3 2,0 2,0
– Kerninflationsrate (ohne Energie) 6,0 2,8 2,7 2,7 2,1 2,1
Finanzierungssaldo des Staates
 – in Mrd. EUR -107,5 -106,4 -87,0 -85,5 -114,9 -100,4
 – in % des Bruttoinlandsprodukts -2,6 -2,5 -2,0 -1,9 -2,5 -2,2
Leistungsbilanzsaldo
 – in Mrd. EUR 248,7 268,7 250,1 264,1 234,8 263,7
 – in % des Bruttoinlandsprodukts 5,9 6,2 5,7 5,9 5,2 5,7

Quelle: Statistisches Bundesamt; Bundesagentur für Arbeit; Deutsche Bundesbank; 2024 bis 2026: Prognose des ifo Instituts
© ifo Institut Dez. 2024

Euroraum und Weltwirtschaft

Im Euroraum nahm die Wirtschaftsleistung im dritten Quartal 2024 um 0,4% gegenüber dem Vorquartal bzw. um 0,9% gegenüber dem Vorjahr zu – der stärkste Anstieg seit zwei Jahren. Am dynamischsten erwies sich abermals die Konjunktur Spaniens, aber auch Frankreich verzeichnete einen robusten Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts, was teilweise positiven Impulsen durch die Austragung der Olympischen Sommerspiele geschuldet war. Die Industrieproduktion tendierte in den vergangenen Monaten jedoch abwärts und die Unternehmensstimmung ist weiterhin pessimistisch. Insbesondere die Auftragsbestände wurden deutlich niedriger eingeschätzt als zuletzt. Im Prognosezeitraum schlagen sich die Reallohnzuwächse allmählich in einer Belebung des privaten Konsums nieder. Dazu tragen der robuste Arbeitsmarkt und die gesunkene Inflation bei. Die Industriekonjunktur wird allerdings nur langsam Fahrt aufnehmen, auch weil die Investitionen erst allmählich anziehen. Insgesamt wird die Wirtschaftsleistung im Euroraum in den Jahren 2025 und 2026 um jeweils 1,2% zunehmen. Dabei bleiben die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsländern des Euroraums groß.

In China blieb die Konsumnachfrage aufgrund der Immobilienkrise verhalten. Die Leitzinssätze wurden sukzessive gesenkt und ein Unterstützungspaket der Regierung zur finanziellen Entlastung der regionalen Gebietskörperschaften geschnürt. Die Einkaufsmanagerindizes zuletzt sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungsbereich etwas nach, notierten aber weiterhin über der Expansionsschwelle. Im Prognosezeitraum bleibt die Inlandsnachfrage angesichts der Immobilienmarktkrise gedämpft, das lebhafte Exportwachstum stützt hingegen die Konjunktur. Insgesamt dürfte die chinesische Wirtschaft in den Jahren 2025 und 2026 jedoch nur um gut 4% wachsen.

In den USA expandierte die Wirtschaft im dritten Quartal 2024 kräftig, das BIP legte um 0,7% gegenüber dem Vorquartal und um 2,7% gegenüber dem Vorjahr zu. Der private Konsum blieb lebhaft, nicht zuletzt da die Inflationsrate auf 2,6% im Oktober gesunken ist und für steigende Realeinkommen sorgte. Die robuste Konjunktur zeigt sich auch auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote blieb mit 4,1% im Oktober gering, obgleich der Beschäftigungsaufbau seit über einem Jahr an Schwung verloren hat. Im Prognosezeitraum dürfte sich die Expansion angesichts der soliden Rahmenbedingungen unvermindert fortsetzen. Die Teuerung ist rückläufig und das Verbrauchervertrauen ungebrochen hoch. Die Anhebung der Handelszölle wird zwar die Verbraucherpreise steigern, eine weiterhin äußerst expansive Fiskalpolitik wird die gesamtwirtschaftliche Entwicklung jedoch begünstigen. Insgesamt dürfte die Wirtschaftsleistung der USA im Jahr 2025 um 2,5% und im Jahr 2026 um 2,4% zulegen.

Alles in allem dürfte die Weltkonjunktur in den Jahren 2025 und 2026 auf ihrem moderaten Expansionskurs bleiben. Höhere Handelszölle dürften nicht sofort nach Amtsantritt des neuen Präsidenten der USA, sondern erst im Laufe des kommenden Jahres in Kraft treten und bestehende Handelsumlenkungen verstärken. Dies betrifft vor allem den bilateralen Handel der USA mit China, der auf andere Länder verlagert wird. Die Zollanhebungen dürften Vorzieheffekte mit sich bringen, sodass der Welthandel in der ersten Jahreshälfte 2025 anzieht, dann aber allmählich nachlässt. Insgesamt dürfte die gesamtwirtschaftliche Produktion der Welt in den Jahren 2025 und 2026 um jeweils 2,6% und damit so schnell wie im laufenden Jahr zulegen. Die Expansion des Welthandels dürfte sich im kommenden Jahr auf gut 3% beschleunigen und sich im Jahr 2026 auf 2,5% abschwächen.

Risiken

  • Handelspolitik der kommenden US-Regierung
  • Krieg im Nahen Osten
  • Wirtschaftspolitik und Strukturwandel in Deutschland

Finanzen