Philippe Claudel, Brodecks Bericht, Titel der Originalausgabe: Le rapport de Brodeck, Aus dem Französischen von Christiane Seiler, Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg (Juli 2009), 336 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3463405555, ISBN-13: 978-3463405551, Preis: 19,90 EURO
„Ich selbst bin ein Nichts, aber ich tue mein Nichts mit einem Stückchen von allem zusammen.“ Das schreibt 1840 der französische Schriftsteller Victor Hugo in seiner „Rheinreise“ und 169 Jahre später wählt diesen Satz ein gleichfalls französischer Autor als voranführendes Zitat seines neuen Romans. Philippe Claudel, der bereits mit „Die grauen Seelen“ (2004) oder „Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung“ (2006) das Thema des Krieges, der Vertreibung, der Fremde zum Gegenstand seiner Erzählung wählte, gelingt erneut ein eindrucksvoller, beklemmender und erschütternder Roman. „Brodecks Bericht“ erhielt 2008 den „Prix Goncourt des Lycéens“, stand monatelang auf den Bestsellerlisten und wurde zum Lieblingsbuch der französischen Buchhändler gekürt.
„Ich heiße Brodeck, und ich kann nichts dafür.“ In diesem kurzen, aber gleichwohl äußerst expressiven Satz, der Claudels Roman einrahmt – er beginnt und endet mit diesen Worten – wird knapp, aber vollendet das gesamte Hauptthema umrissen: Schuld, Verantwortung, Unrecht, Trauer, Leiden, Scham, Schweigen, Renitenz, Animositäten und Wut. Der französische Autor erklärt in einem Interview wie es zu diesem Beginn kam: „Ich bin eines Morgens mit einem Satz im Kopf aufgewacht und ich hatte keine Ahnung, wohin er führen würde. (…) Es war wie ein geträumter Satz und ich begann sofort zu schreiben, weil ich sehr neugierig war auf den Namen Brodeck und warum dieser Mann sagt, dass er nichts dafür kann.“
Schwergewichtige Parabel
Ebenso schlicht wie dieser lapidare Satz erscheint zunächst auch die Handlung – zumindest auf den ersten Seiten. Doch weit gefehlt, entstanden ist eine schwergewichtige Parabel über den Krieg und seine Folgen, das Vergessen und Erinnern sowie die Definition des Heimatbegriffs. „Die Wahrheit kann grausam sein“, sinniert der Ich-Erzähler Brodeck, „und sie fügt uns bisweilen Verletzungen zu, die nie wieder heilen….“ Er – der Studierte – ist von den Dorfbewohnern – die Handlung spielt ein Jahr nach dem Krieg in einem kleinen elsaß–lothringischen Ort im Grenzgebiet zwischen den Bergen – auserkoren worden, einen Bericht, eine Chronik der Ereignisse über ein schreckliches „Vorkommnis“ zu schreiben und somit die Schuld und Sühne der Menschen abzuwaschen und ihr Vergehen als ein gerechtes, ja notwendiges Agieren zu deklinieren. Es geht um den gewaltsamen Tod, den Mord an einem geheimnisvollen und vieldeutigen Mann, der als „Fremder“, „Anderer“, als „Hergekommener“ in die Gemeinschaft „eingebrochen“ ist und ihr homogenes, abgegrenztes Gefüge empfindlich gestört hat, indem er ihr einen Spiegel vor die Nase hält und ihre Schuld durch die Betrachtung der eigenen „Fratze“ an die Oberfläche holt.
Brodeck wurde dereinst selbst Opfer (un)menschlicher Verhaltensweisen der Dorfbewohner, als es darum ging während der deutschen Besatzung das Dorf zu „säubern“. Denn auch er kam dereinst – zwar noch ein Kind – als „Fremder“ in diese Gegend. Durch einen Verrat verbrachte er zwei Jahre in einem Konzentrationslager, wo er nur überleben konnte, indem er sich ständig demütigen ließ.
Während er an dem offiziellen Bericht schreibt, brechen alte Wunden auf. Brodeck erinnert sich und verfasst nebenher ein zweites, wesentlich längeres Schriftstück: ein literarisches Dokument der Geschehnisse und Reflexionen. Er benennt das Unbenennbare, versucht Worte und Erklärungen für das Unerklärliche zu finden. Und dies ist sogleich Philippe Claudels Buch. „Die kleine Gemeinschaft erlaubt mir, die große Gemeinschaft abzubilden“, so der Autor. „Es ist ein Roman im Kontext des Krieges, wo plötzlich viele Dinge aufbrechen: die dunkle Seite der Menschen oder die erhabene Seite, die Tatsache, dass Menschen tatsächlich sehr gut oder sehr böse sein können. Das ist eine chemische Reaktion, die durch den Krieg ausgelöst wird“.
Erschreckend aktueller, fiktiver Roman
In unsteten Rückblenden, unregelmäßiger zeitlicher Abfolge, beinahe gestaltloser Form, mit kurzen, knappen Sätzen und einfachen Worten, jedoch einer ungeheuer intensiven und wunderbaren Sprache, sanft und gleichzeitig kraftvoll, poetisch und hintergründig, ein Gemisch aus Gerüchen, Geräuschen und visuellen Reizen, die Christiane Seiler wunderbar ins Deutsche übertragen hat, erzählt Philippe Claudel alias Brodeck seine Geschichte und setzt sie wie ein Puzzle oder bizarres Mosaik nach und nach zusammen. Sein Schreiben hat zuweilen etwas Gehetzes, wie „ein wildes Tier, das wegrennt, Haken schlägt und versucht, die Hunde und Jäger auf deinen Fersen in die Irre zu führen. Was ich schreibe, ist ein großes Durcheinander, und ich erzähle von meinem Leben. Das Schreiben ist Balsam für meine Seele und meinen Körper.“
Der Zweite Weltkrieg, die deutsche Okkupation, Pogromnacht und Holocaust sind die – ohne klar benannt zu werdenden – deutlich erkennbaren, alles bedrohlich überschattenden Themen. Claudel wählt dafür metaphorische Bezeichnungen. So sind die deutschen Besatzer die „Fratergekeime“ und der „Kazerskwir“ ist eindeutig als Konzentrationslager zu erkennen. „Ich habe deutsche Worte genommen, die ich ein bisschen deformiert und wieder zusammengeflickt habe, die dem Leser ein pittoreskes Deutsch vermitteln“, erklärt Claudel. Denn letztendlich kann dieser fiktive Roman überall auf der Welt angesiedelt sein und ist leider auch heute noch erschreckend aktuell. „Ein Roman wie 'Brodeck' untersucht die Rolle des Individuums gegenüber dem Kollektiv“, so der Autor. „Und die Schuld der Völker. Die Schuld der Völker ist real, das heißt, es gibt immer Verrückte unter uns, aber wir sind es, die ihnen die Mittel geben, noch verrückter zu sein, oder die, im Gegenteil, entscheiden, sie rechtzeitig zu stoppen.“
Fazit:
„Nicht immer gibt es die Dinge wirklich, die man in Büchern findet. Manchmal lügen die Bücher…“, stellt der „Andere“ in einem Gespräch mit Brodeck fest. Philipp Claudels Buch kommt trotz seiner Fiktion der Wahrheit erschreckend nahe. Denn derMensch ist zwar groß, aber manchmal ist er sich selbst nicht gewachsen.
Ein eindringliches, ein großartiges Buch.
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