Ein Roman von Nicholson Baker (Rowohlt 1994)
„Da war diese Frau, die über den Marktplatz lief, als habe sie es eilig. Aber es war ein Zögern in ihrem Schritt, das dem geübten Beobachter nicht verborgen blieb. Sie setzte alle Kraft daran, geradeaus zu schauen, auf den Weg, auf irgendein Ziel. Ich wartete am Nordzugang des Platzes. Als ich vor sie trat, blieb ich stumm. Ihr Blick verbat mir, auch nur ein Wort zu suchen. Ich legte meinen Mittelfinger auf ihren Handrücken… Sie drehte sich um. Wir überquerten den Platz in die entgegengesetzte Richtung, betraten das Hotel und legten im Zimmer Stück für Stück, im Wechsel, wie Gegner, die sich noch mißtrauen, auf den Teppich.“
Keine Einladung ins Cafè, kein Seelenvergleich, kein Alibi der kleinen Schritte: aus der hilflosen Anonymität des öffentlichen Platzes tritt der Sex mit einer wortlosen Plötzlichkeit in die anonyme Intimität eines fremden Zimmers. Ein Fest des Augenblicks ohne das Wissen um Gestern und ohne das Versprechen von Morgen. Ein Fest der Körper. Das sind die niederen Instinkte, das ist das Verschwinden der Seele – würden diejenigen ausrufen, die so gern vom „moralischen Notstand“ unserer Zeit sprechen. Aber erstens stammt diese Szene aus keinem Baker-Text und zweitens erscheint sie gegenüber Bakers sexuellen Phantasien eher konservativ, geradezu als ein moralisches Idyll.
Schon in Nicholson Bakers vorletzten Roman „Vox“ (engl. 1992, dt. 1992) konnten viele nur das niedere Treiben zweier „Telefonferkel“ sehen (vgl. „Ein Volk im Schweinestall“ im „Spiegel“ 2/1993). „Vox“ ist der rund 190 Seiten lange Mitschnitt eines Telefongesprächs, in dem ein Herr an der Ostküste und eine Frau an der Westküste der USA sich ihre Masturbationsphantasien und -erlebnisse erzählen: ein stundenlanges Vorspiel für den „gemeinsamen“ Orgasmus zweier Menschen, die sich nie begegnen. Bakers neuer Roman (wieder von Eike Schönfeld übersetzt und im gleichen Jahr der amerikanischen Ausgabe deutsch erschienen) greift das Phänomen der abwesenden Anwesenheit des Sexualpartners auf. Mit der eingangs geschilderten Szene teilt er zwar den Reiz der Plötzlichkeit und anonymen Intimität, aber dieser Reiz wird nur von einem Partner erfahren: der andere ist lediglich da, nicht anwesend. Es gibt nicht das Zimmer, in dem zwei fremde Menschen plötzlich ihre Kleider ablegen, es gibt nur Arno Strine, der kraft einer besonderen Fähigkeit die Zeit anhält und die zu Marionetten erstarrten Frauen auszieht, um sie anzuschauen. Die Zeit bleibt stehen im gesamten Universum, niemand wird um den Ruhepunkt im Lauf der Geschichte jemals wissen. Arno Strine aber lebt in dieser Fermate und altert genau um die Minuten und Stunden, die der Stillstand der anderen dauerte. Seine eigentliche Geschichte spielt sich in der angehaltenen Zeit, in der „Furche“ ab. Das sexuelle Erlebnis ist hier geschichtslos nicht nur, weil es keine Vergangenheit und keine Zukunft hat, es hat auch keine Gegenwart. Schon dieser schwierigen Konstellation wegen ist Bakers Roman wieder nicht bei Beate Uhse, sondern bei Rowohlt erschienen.
Beginnen wir anders. Nicholson saß in einer Bar in Greenwich Village. Er beobachtete die Leute im Raum, nippte an seinem Zitronenwasser (nur altmodische Männer wie Humphrey Bogart oder Armin Müller Stahl umgeben sich noch mit Drinks und Zigaretten). Plötzlich tritt die Frau ein, zu der er Ja sagt, noch bevor sie ihn ansieht. Ihr Blick gleitet an ihm vorbei, bleibt an einem Typen mit Robert-Redford-Augen im hinteren Teil der Bar hängen. Nicholson ist trotzdem der Schweiß ins Gesicht getreten. Vielleicht treibt ihm das soeben erinnerte Wissen um seine Halbglatze und sein etwas rundes Gesicht das Wasser aus den Poren. Vielleicht ist es die Gewißheit, wie die Sache mit der Frau und dem Redford-Typen weitergehen wird. Als Redford den Oberkörper strafft und in Richtung Tresen schaut, greift Nicholson sich verunsichert und verbittert an die Brille, die auf dem nassen Nasenrücken runtergerutscht war. Er wünschte sich, er könnte durch diese Bewegung die Bilder verrücken und ganz anders arrangieren. In diesem Moment wurde sein neuer Roman geboren. – Was würde er denn tun, wenn mit dem Griff zur Brille wirklich die Zeit stehenbliebe und alle zur Salzsäule erstarrten, alle außer er? Er würde zu jener Frau hintreten, ihre Bluse öffnen und ihre Brüste in die Hand nehmen. Er würde sie schließlich ganz ausziehen (was etwas schwierig wäre, weil sie im Moment des Zeitstops gerade zum Schritt angesetzt hatte) und sich unter ihre Beine legen. Oder nein, er würde sie nicht ausziehen! Er würde ihre Handtasche öffnen, in der er ein Buch von Mary E. Braddon fände mit der handschriftlichen Notiz: „Erotik von Männern, die in der Öffentlichkeit die Uhr abnehmen“. Er würde sich ihre Adresse notieren, eine Kerze auf seinen Tisch stellen, in die Apotheke auf der anderen Straßenseite gehen, um ein Abführmittel zu holen. Wenn Redford dann auf der Toilette sitzt und Luisa in seine Richtung schaut, wird er die linke Hand heben, um mit aufreizender Langsamkeit am Bandende seiner Uhr zu ziehen, bis der winzige Dorn der Schnalle aus dem leicht länglichen zweiten Loch freikommt. Wie ein Stripper, der den letzten Entkleidungsschritt hinauszögert, wird er die losgeschnallte Uhr eine Zeitlang so halten wie sie war, wobei er das Handgelenk langsam in seiner gelösten Umschlingung dreht; schließlich wird er die Schnalle vom Band herabschieben und das Gehäuse der Uhr auffangen, als sie ihm vom Arm fällt. Einige Tage später wird er vor Luisas Haus stehen. Er folgt ihr durch mehrere Straßen, hält kurz vor ihrem Betreten einer Buchhandlung die Zeit an, um an ihr vorbei in den Laden zu schlüpfen und sie mit einem Buch von Mary E. Braddon in der Hand zu erwarten. Als sie sich dem Regal nähert, schaut er sie zunächst stirnrunzelnd an und zeigt nach einigen Sekunden die Geste des Erkennens, wobei er das Buch so hält, daß seine Uhr voll sichtbar ist… Wie es nach dem anschließenden „Waren-Sie-nicht-vor-ein-paar-Wochen-in-Ricks-Bar?“-Dialog weitergeht, kann man sich unschwer vorstellen.
Wir sind mitten im Text. Die Fähigkeit, die Zeit anzuhalten, gibt natürlich Anlaß zu den kuriosesten Geschichten, und ein so phantasiereicher und detailbesessener Autor wie Baker versteht es, in einer Mischung aus Sachlichkeit und Obszönität seinen Lesern 400 Seiten lang zu unterhalten. Arno rächt sich an Straßenräubern, die großkotzig sein Geld fordern, er schreibt den Kunden einer Buchhandlung obszöne Sätze in die Bücher, die sie gerade aus dem Regal ziehen wollen, er tauscht während eines Higwayflirts der Fahrerin im Nachbarauto die Susanne-Vega-Kassette gegen eine Porno-Kassette aus, er steckt einer fremden Frau einen Vibrator in die Tasche usw., usw. Zugegeben, einige Seiten weniger hätten dem Roman nicht geschadet. Die Grundidee verleitet dazu, eher Episoden zu sammeln, als einen zusammenhängenden Plot zu entwickeln, und so hagelt es lauter Samenergüsse, statt daß ein Kind gemacht würde. Dennoch verweist der Leser, der gelangweilt pornographische Monotonie beklagt, eher auf seine eigene Hilflosigkeit vor dem Text. Denn die „Fermate“ ist wie jeder gute pornographische Roman auch ein philosophischer.
Baker schreibt über einen Sex, der dem Zeitalter der elektronischen Medien und der Aids-Gefahr angemessen zu sein scheint: es gibt kaum noch die körperliche Vereinigung der Partner, Sex läuft vorwiegend im Kopf ab. Das wirkt zugleich wie eine Antwort auf die „sexuelle Revolution“ der 70er Jahre, die mit der Enttabuisierung der Sexualität auch zu deren Entsublimierung führte und den Sex zu einer Art Sport verkommen ließ. Gegen diese Animalisierung setzte Baker in „Vox“ die Rückkehr der Phantasie: bedeutsam wird das Reden über Sex. Die Telefonierenden gewinnen ihre Lust aus der Einbildungskraft, die den kalten Buchstaben im Rezeptionsprozeß belebt und sinnlich erwärmt. In dieser Verwandlung des Wortes in Bilder wird zugleich das ästhetische Vermögen des Menschen angesprochen. Der Rezeptionsprozeß ist ein Symbol für die Befreiung des Menschen aus der Tyrannei des Hier und Jetzt, an die alle anderen Lebewesen stets gebunden bleiben. Wer das Fazit des Romans deswegen darin sieht, daß die menschliche Gattung sich in der wortreichen Masturbation des Telefonsexes weit mehr feiert als in der stummen Ausführung des Beischlafes, muß allerdings noch den Schluß erklären, in dem die „gemeinsame“ Masturbation am Telefon auf einer sehr poetischen Beischlaf-Phantasie basiert. „Vox“ ist, bei aller pornographischen Eindeutigkeit, am Ende ein sehr ambivalenter Roman. Man wird ihm jedoch keineswegs gerecht, indem man die „unsauberen“ Wörter zählt, die in einem solchen Gespräch über Sex gehäuft auftreten. Damit übersieht man, daß die Telefonpartner in ihrem mehrstündigen Dialog eine Beziehung zueinander aufbauen, die mehr Intimität und weniger Egoismus aufweist als manche Begegnung in nächtlichen Schlafzimmern.
Der Sex außerhalb des Beischlafes scheint für Baker zu einer Obsession geworden zu sein und bestimmt auch seinen neuen Roman. Während der Sex in „Vox“ an die Sprache gebunden war, liegt er jetzt im Blick. Dieser Wechsel bringt einen wesentlichen Unterschied mit sich: Arno Strine steht seinem Sexualpartner zwar leiblich gegenüber, aber es gibt keinen sexuellen Dialog mehr. Seine Lust ist die des Voyeurs. Wie vielschichtig der Voyeurismus jedoch eingesetzt ist, zeigt ein Text, den Arno selbst im Roman schreibt. Dieser Text beschreibt den „lastergenerierten Orgasmus“ (186) einer Frau, der aus dem Zusammentreffen eines Dildos mit der Unebenheit eines Feldweges und der „Stotterbremse“ eines LKW's resultiert. Die Geschichte ist originell und, wie der gesamte Roman, voller Witz und Augenzwinkern. Das eigentlich Interessante jedoch ist die Funktion, die sie im Roman einnimmt.
Arno schreibt seine Pornogeschichte in der „Furche“ für eine Frau, die am Strand halbnackt und bewegungslos vor ihm liegt. Um sich zu inspirieren, zieht er der Frau mitunter das Bikinihöschen aus und setzt sich auf sie, um „Arsch an Arsch mit meiner künftigen Leserin […] fast eine Form der Kommunikation“ zu spüren (167). Er läßt sie den fertigen Text im Sand neben sich finden, beobachtet ihre Lektüre aus einiger Entfernung mit dem Fernglas und masturbiert dabei: „Jede Zeile, die sie las, war für mich ein persönlicher Triumph; jedesmal, wenn sie eine Seite weiterblätterte, war ich im siebten Himmel“ (188). Die Frau, die sich als heimliche Leserin fremder pornographischer Phantasien scheinbar voyeuristisch verhält, ist in Wirklichkeit selbst Objekt eines Voyeurs in zweifacher Hinsicht: als eigentliche Heldin des Textes und als Leserin. Ihr stillgestellter, halbnackter Körper war Ausgangsort der Schreibphantasie, ihre Rezeption dieser Phantasie ist nun Ausgangsort für die Masturbationsphantasie. Sie wird jedoch ein weiteres Mal zum Objekt, als der Romanheld ihr nach Hause folgt und ihre von seiner Phantasie verursachte Masturbation beobachtet. Er verstärkt ihren Objektstatus noch dadurch, daß er sie mitten im Orgasmus anhält, um „ihr Höhepunktgesicht aus jedem Winkel“ zu betrachten und sich „sein kurzlebiges extremes Aussehen einzuprägen“ (199).
Die sexuelle Lust des Romanhelden basiert hier schließlich auf der Beobachtung sexueller Lust, die selbst aus der Beobachtung sexueller Lust resultierte. Der vom Leser beobachtete Arno Strine beobachtet seine Leserin, die die Figuren des gefundenen Textes beobachtet. In dieser raffinierten Anordnung verschiedener Handlungs- und Erzählebenen treffen sich die pornographische und die philosophische Seite des Romans; unter der Oberfläche obszöner Wörter und Szenen wird die Objekt-Subjekt-Frage verhandelt.
Arno Strine ist ein Mann, der Frauen beobachtet. In dieser allgemeinen Formulierung ist der Satz banal; er verweist auf ein altes Thema. Der Feminismus hat den männlichen Blick verschiedentlich diskutiert und die Geschlechterdifferenz mit den Formeln Sehen und Gesehen-Werden beschrieben: während der Mann in diesem Zusammenhang oft als „Jäger“ bezeichnet wird, bleibt der Frau der Opferstatus reserviert. Mit dieser simplifizierten Verteilung der Objekt-Subjekt-Positionen entmündigt der Feminismus selbst die Frauen und sorgt dafür, seine stärksten Gegner immer wieder im eigenen Geschlecht zu finden. Denn die meisten Frauen und Männer wissen, daß der Beobachtete immer auch zurückblicken kann. Von dieser Macht des „Objekts“ spricht Roland Barthes, wenn er den ritualisierten Tanz beim Striptease als eine „Maske aus Gesten“ bezeichnet, die die nackte Frau unausgesetzt bekleidet: während die Stripteuse sich gleichsam in das Gewand ihrer Gewandtheit hüllen kann, ist es der an diesem Ort fremde Beobachter, der sich unter der Beobachtung der Tänzerin unsicher fühlt. Das Wortspiel zwischen Gewandtheit und Gewand besitzt freilich seinen tieferen Sinn über das Milieu des Striptease-Lokales hinaus. Nacktheit und Objekthaftigkeit ist keine Frage der Kleidung, sondern der Souveränität. Das „Objekt“ des Blicks kann die Beobachtung beobachten und den Voyeur selbst zum Objekt einer Szene machen, die er nicht mehr beherrscht. (Ebenso wie der „Verführte“ den „Verführer“ einer Prüfung unterstellt, um die dieser weiß.) Die Machtfrage wird nicht an der Oberfläche entschieden. Wie aber entkommt der Voyeur der Beobachtung? Indem er sein Auge dem Auge entzieht. Arno besitzt diese Fähigkeit; in der „Furche“ setzt er alle anderen Augen im Universum außer Kraft. Daß er im Zimmer seiner Leserin schließlich direkt auf die fest geschlossenen Augen der erstarrten Frau „kommt“, wirkt abstoßend, ist in dieser Struktur von Sehen und Gesehen-Werden aber nur konsequent. Sein Samen auf ihren Augenlidern ist das unüberbietbare Zeichen seiner Macht.
Arno will die Situation bestimmen. Als er einmal für längere Zeit seine „Furchenfähigkeit“ verloren hat, beklagt er seine Lage mit den Worten: „Entsetzlich. Ich wollte kontrollierte Nacktheit, und zwar sofort“ (130). Daß heißt nicht, daß er die Blicke anderer fürchtet. Er sucht sie regelrecht, um sich ihnen bewußt auszuliefern. In seiner eigenen Nacktheit äußert sich dabei nur ein weiteres Mal sein Festhalten an der Machtposition. Baker beschreibt dies in einer unüberbietbar grotesken Szene, in der Arno unter den Augen einer Ärztin und ihrer beiden Assistentinnen masturbiert. Das ganze geschieht innerhalb einer Magnetresonanztomographie, wird computergesteuert aufgezeichnet und soll den Zusammenhang seiner Handgelenkschmerzen mit dem Rhythmus der Masturbationsbewegung klären. Arno verführt nicht nur die Ärztin zu dieser Untersuchung, er beherrscht auch die Situation, erzählt eine pornographische Geschichte und hält zwischendurch die Zeit an, um erfreut feststellen zu können, daß Frau Dr. Orowitz-Rudmans Brustwarzen sich aufgerichtet haben.
Die Gewißheit der absoluten Kontrolle kann Arno in der traditionellen Sexualität nicht haben. Er muß die Zeit anhalten, er muß seine Partner stillstellen. Seine Exfreundin Rhody nennt die Lust der „Furche“ eine „implizite Nekrophilie“ (229) und lehnt sie mit den Worten ab: „Was du da erzählst, ist so statisch. Ich will verführt werden. Das ist es nämlich. Ich will verführt werden“ (222). Das ist es nämlich, in dieser Formulierung spricht die „Beute“ als Subjekt: sie will verführt werden. Karl Kraus pointierte die Macht des Unterworfenen einmal von der anderen Seite her: „Der Sklave! Sie macht mit ihm rein was er will.“ Und wenn sie genau das will?! Das Spiel aus Täuschung und Verdacht läßt sich unendlich weiterspinnen. So lange sich Sexualität als Dialog ereignet, gibt es eine klare Trennung von Beherrschen der Situation und Sich-Ausliefern nicht. Macht und Unterwerfung gehen ineinander über, umlauern sich, lösen einander ab. Die völlige Kontrolle kann es nur in der „Furche“ geben.
Aber wer wie Arno immer die Fäden in der Hand behält, wer im Subjekt-Objekt-Roulette immer unangefochtener Sieger bleibt, ist schließlich so einsam wie Gott. Oder so einsam wie der Single-Souverän der heutigen Gesellschaft. In der seelischen Struktur des überzeugten Single findet die „Furche“ ihr reales Analogon. Im Grunde schreibt Baker mit seinen 400 Seiten sexueller Phantasien über die moderne (amerikanische) Gesellschaft. Und insofern ist er, wie die Los Angeles Timesschrieb, tatsächlich ein Anwärter auf die Nachfolge Updikes – ein Nachfolger freilich, der in einer anderen Zeit anders an die aktuellen Themen herantritt. Arno Strine ist ein Held unserer Zeit; einer Zeit, die nicht zuletzt durch Genmanipulation und Schönheitsoperationen die absolute Kontrolle über das Unwägbare zu erringen sucht.
Die Einsamkeit ist für Arno, wie er sagt, zwar kein beklagenswerter Zustand, trotzdem sieht er eine Beziehung zwischen ihr und der „Furche“: „Meine Fertigkeit, die Zeit zu tauen, hängt vielleicht sogar von einem fließenden Emotionsgemisch ab, darunter Neugier, sexuelles Begehren und Liebe, die alle im Lösungsmedium Einsamkeit suspendiert sind“ (81). Da betrachtet Arno die „Furche“ noch als einen Ausgleich der Einsamkeit seines Realdaseins. Im Innersten weiß er aber schon, daß sie nur deren Verlängerung ist. Vermutlich fängt er deswegen an, seine Erlebnisse aufzuschreiben (der gesamte Roman ist ja nichts anderes als eine Autobiographie). Im Schreiben findet er zumindest die Möglichkeit, sich mitzuteilen und kann das Bewußtsein der Einsamkeit hinauszögern. Bisher gab seinem Leben die „Furche“ Halt genug. Dort konnte er seine sexuelle Lust wie ein unbeschränkter Herrscher ausleben, dort konnte er seine sexuellen Erlebnisse in der Realität arrangieren (wie etwa die Begegnung mit Rhody, die auf die Erotik abgenommener Armbanduhren steht). Ohne die „Furche“ ist Arno eher hilflos, was sicher auch damit zusammenhängt, daß er als 35jähriger Zeitarbeiter (sein Job ist es, Geschäftsbriefe u. ä. vom Band abzutippen) nicht gerade auf eine glänzende Karriere verweisen kann. Sein Selbstvertrauen ist dementsprechend schwach. Als er etwa seine Arbeitskollegin Joyce, deren Texte er tippen muß, zum Essen einladen will, fehlt ihm der Mut, da sie gerade „mit einem witzigen, charmanten, stellvertretenden Direktor“ redet (79). Das Risiko einer Ablehnung will Arno nicht eingehen, sie würde ihn zum Objekt machen. Die „Furche“ hilft Arno über seine Komplexe hinweg, sie ist seine Souveränität. Bevor er, am Ende des Romans, Joyce schließlich doch zum Essen einlädt, überlegt er deswegen, ob er sie zunächst in der „Furche“ ausziehen solle, denn dann, das bekennt er, würde er seine „Bitte um einen Abend mit ihr mit mehr Selbstvertrauen formulieren“ (369). Er tut es nicht, und man könnte dies den ersten Schritt zur Besserung nennen. Überhaupt ändert sich durch die nähere Bekanntschaft mit Joyce einiges für Arno.
Arno erzählt Joyce von der „Furche“. Er erzählt ihr auch, daß er sie schon einmal im Büro ausgezogen hat, daß er mit ihrem Schlüssel in ihre Wohnung eingedrungen war, daß er sie liebt. Er liefert sich aus. Er nimmt sie schließlich in die „Furche“. Das geschieht dadurch, daß beide miteinander schlafen, um der „Furche“ ein Individuum vorzutäuschen. Da der Kontakt total sein muß, kommt ein Kondom nicht in Frage. Auch darin steckt ein Moment der Auslieferung. Als sie sich küssen, wird Arno zugleich klar, daß es keinen zufriedenstellenden autoerotischen Ersatz für einen Kuß gibt. Mit dieser Feststellung verläßt die Lust das Gehirn und siedelt sich erneut im Fleisch an. Über Arnos und Joyce' Erlebnisse in der „Furche“ erfahren wir kaum etwas. Arno muß sie nicht mitteilen, da sie nichts mehr mit seiner früheren Einsamkeit zu tun haben – sein Leben hat eine neue Richtung bekommen. Arno nimmt sich die Unterlagen für seine Magisterarbeit wieder vor und denkt mit Joyce laut über das Heiraten nach. Der Roman zielt auf ein plötzliches happy end – und da es sich um Arnos Autobiographie handelt, verwundert es gar nicht, daß der Text sehr schnell endet, geradezu abbricht.
Arno wird partnerfähig, als er beginnt, sich Joyce auszuliefern. Die Pointe besteht darin, daß er durch einen Zufall seine Furchenfähigkeit auf Joyce überträgt. Nun ist sie es, die über die „kontrollierte Nacktheit“ verfügt, nun kann sie Arno zum Objekt der Beobachtung machen, nun beherrscht sie, wie Arno dem Leser noch kund gibt, das sexuelle Spiel zwischen beiden. Da Joyce ihn jederzeit ausziehen und die verdecktesten Wahrheiten seines Körpers und seiner Wäsche erfahren kann, hat Arno alle Macht verloren. Aber das bereitet ihm keine Probleme, denn er liebt Joyce; der vormalige Meta-Souverän hat sich aufgelöst. Arno genießt das Glück, ein Objekt zu sein, er genießt das Glück, einen „Gott“ zu haben. Bakers obszöner Roman läuft, eindeutiger als „Vox“, in ein moralisches happy end aus.
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