Die Vision von einer „rassisch reinen“ Türkei
Dieses Bild ist grauenerregend. Es zeigt armenische Mädchen, von Soldaten des jungtürkischen Regimes ans Kreuz genagelt. Um ihres Glaubens willen. Es ist eines der raren Fotos, das Augenzeugen aus dem Kriegsgebiet schmuggeln konnten. Am 24. April jährt sich der Beginn dieses Genozids. Vor genau 104 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern.
Das Armenien, das bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts existierte, ist ausgelöscht. Das Bild der armenischen Mädchen, gekreuzigt – es ist symbolisch. Und es ist unerträglich. Es ist eine Originalquelle. So sah es, wer sehen wollte, vor etwas mehr als hundert Jahren überall in West- und Zentralarmenien, einem Gebiet, das heute als „Nordost-Anatolien“ bezeichnet wird. Wobei die Männer in aller Regel ausnahmslos ermordet wurden, während Frauen und Mädchen oft nicht gequält und ermordet, sondern entweder als Sklavinnen verkauft oder zu sexueller Ausbeutung missbraucht wurden.
Der Völkermord im Vorgängerstaat der heutigen Türkei verfolgt uns bis heute. In Herford ließen Verantwortliche im letzten Jahr anlässlich des Gedenkens an Gallipoli in der DITIB-Moschee eine ganze Reihe von Kindern aufmarschieren, mit Plastikgewehren. Die Jungens paradierten in militärischem Gleichschritt vor einer übergroßen türkischen Fahne und ließen sich dann theatralisch zu Boden fallen – wie getötete Soldaten. Mit dieser makabren Vorführung sollte an die gewonnene Schlacht erinnert werden, war aus der Moschee zu hören. Und angesichts massiver Proteste in der Öffentlichkeit setzte man hinzu, dass es bereits „personelle Konsequenzen“ gegeben habe. Die Nachfrage von Journalisten, worin denn diese Konsequenzen bestünden, wurde lapidar beantwortet: Der Betreffende sei „ermahnt“ worden.
Der Aufschrei in der Öffentlichkeit blieb weitgehend aus. Die Moschee ist nicht geschlossen, es gibt keine Ermittlungen wegen Volksverhetzung, ja, nicht einmal die Unterbringung der betroffenen Kinder in Einrichtungen, in denen sie nicht derart missbraucht werden, scheint erwogen worden zu sein. Liegt es daran, dass die DITIB von der Türkei kontrolliert wird?
Gallipoli war nur ein Anfang
Unmittelbar auf den Sieg der Hohen Pforte und der Mittelmächte auf der Halbinsel Gallipoli folgte der Angriff auf die Armenier im ganzen osmanischen Reich. Das ist vom Kalkül her logisch, weil das jungtürkische Regime sich im Aufwind sehen konnte. Nach dem Sieg war die Gefahr äußerer Einmischung denkbar gering, und die Waffenbrüder aus dem Deutschen Kaiserreich halfen sogar noch willig beim Völkermord an ihren eigenen christlichen Brüdern. Das ist auch von der Geographie her logisch, weil Gallipoli als Halbinsel der Stadt Istanbul vorgelagert ist, sie militärisch bedeckt. Und dort, in der großen Stadt, wohnten zehntausende Armenier. Sie waren teils aus ihrer armenischen Heimat in die große Stadt geflohen, weil sie da in der Menge nicht aufzufallen hofften. Doch nun wurden sie auch von hier ausnahmslos vertrieben, und in Armenien selbst ging das Morden nur umso schlimmer weiter. Es ging um nichts weniger als die Vision von einer rassisch „reinen“ Türkei.
Die Vorstellung ist in der heutigen Wirklichkeit von der Vorstellung abgelöst worden, es müsse eine religiös gesäuberte, hundertprozentig dem sunnitischen Islam anhängende Bevölkerung geben. Atatürk war offenbar nur die laizistische Ausnahme. Aber die Flamme der Hoffnung, die das uralte christliche Volk der Armenier trägt, konnte nicht einmal der türkische Völkermord löschen. Auch heute gibt es einen armenischen Staat. Die Tradition eines christlichen Staatswesen in Armenien ist dabei bekanntermaßen älter als diejenige in Rom. Und als alle Lehren vom mohammedanischen „Allah“ sowieso.
Das Vaterunser in der Sprache Jesu
Nicht vergessen seien die Aramäer, die weiter südlich in Kleinasien ihre Heimat hatten, bis der türkische Völkermord auch sie traf. Ihre Tradition ist noch älter, sie reicht bis zur Urkirche des 1. Jahrhunderts zurück, ihre Liturgiesprache ist dieselbe, die Jesus sprach. Wer hören möchte, wie das Vaterunser aus dem Mund Jesu Christi geklungen hat, möge in eine aramäische Kirche gehen. Es gibt solche Kirchen auch in Deutschland, denn hunderttausende Aramäer wurden durch die türkischen Machthaber aus Kleinasien vertrieben.
Im Schatten der Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges wurde die Bestrafung der Verantwortlichen nicht einmal versucht, bis 1921 wurde schließlich auch noch in regionalen Konflikten weitergekämpft; und nachdem im Jahre 1922 und 1923 im Zuge der Gründung der heutigen Türkei weitere schreckliche Menschheitsverbrechen zu beklagen waren, vor allem an den seit knapp 3.000 Jahren in Westanatolien ansässigen Griechen, geriet der entsetzliche Völkermord aus dem Fokus. Die Vertreibung der Pontos-Griechen aus dem mehrheitlich griechischen Smyrna, dem heutigen rein türkischen Izmir, und die völkermordartige „Säuberung“ von Adrianopel, dem heutigen Edirne, mögen beispielhaft stehen. Der rassereine Staat eines türkischen „Herrenvolkes“ wurde schon 1923 zu bauen begonnen. Und ein deutscher Diktator hat sich dieses Experiment gut angeschaut.
Ein Volk, ein Reich, ein Sultan
Der Völkermord an den Armeniern blieb völkerrechtlich praktisch ungesühnt. Das haben Stalin und Hitler wohl bemerkt. Im Dritten Reich war die Auslöschung wesentlicher Teile Armeniens, war der türkische Völkermord sogar Vorbild und Blaupause für die Planung des Menschheitsverbrechens schlechthin, den Holocaust. Doch die Grundlage für die Schaffung des Staates am Bosporus war zu allen Zeiten der Islam, auch wenn der Atatürk von 1923 an den Laizismus propagierte. Seit jüngster Zeit wandelt sich die Türkei folgerichtig zurück und wird strikt islamisch, ja, islamistisch. Der neue Atatürk hat nach der letzten Wahl sein Ermächtigungsgesetz bekommen.
Samuel Zurlinden beschreibt anschaulich, was im Vorgängerstaat der heutigen Türkei vor nur 100 Jahren möglich war: „Donnerstag, den 1. Juli (1915), wurden alle Straßen von Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett bewacht, und das Werk der Austreibung der Armenier aus ihren Häusern begann. Gruppen von Männern, Frauen und Kindern mit Lasten und Bündeln auf dem Rücken wurden in einer kleinen Querstraße in der Nähe des Konsulats gesammelt und, sobald etwa hundert zusammengekommen waren, wurden sie von Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett am amerikanischen Konsulat vorüber in Hitze und Staub auf der Straße nach Erzerum hingetrieben. (Eine solche Szene, vielleicht sogar exakt diese, zeigt übrigens das obige Bild – d. Red.) Außerhalb der Stadt ließ man sie halten, bis etwa 2.000 beisammen waren; dann schickte man sie weiter. Drei solcher Gruppen, zusammen etwa 6.000, wurden während der ersten drei Tage verschickt und kleinere Gruppen aus Trapezunt und der Umgebung, die später deportiert wurden, beliefen sich auf weitere 4.000. Das Weinen und Klagen der Frauen und Kinder war herzzerreißend.“
„Es gab Städte und Dörfer, in denen die armenische Bevölkerung voll Mitleid ihren, in bejammernswertem Zustand durchziehenden Stammesgenossen Hilfe und Unterstützung bot, ohne zu ahnen, daß in Konstantinopel schon Tag und Stunde festgesetzt war, da auch sie an die Reihe kommen und in das gleiche Elend hinausgestoßen werden sollten. (…) Mit dieser feigen und gemeinen Brutalität, die den Militarismus – und nicht nur den türkischen – auszeichnet, hat man das armenische Volk zuerst wehrlos gemacht und dann massakriert.“
Christenverfolgung damals – und heute?
„Der durch die Proklamierung des ‚Heiligen Krieges’ – des Dschihad, d. Red. – entfesselte Religionsfanatismus der Moslem hat in unsern Tagen eine Christenverfolgung hervorgebracht, welche alle ähnlichen Perioden der Weltgeschichte tief in den Schatten stellt“, so schreibt Zurlinden, und so erleben wir es heute. Und weiter: „Daß man vor allem das Christentum und die Christen treffen wollte, beweist schon die lange Liste von Namen armenischer Bischöfe und Metropoliten, welche eingekerkert, gefoltert, ausgewiesen, gehängt, lebendig verbrannt oder ertränkt wurden, zum Teil ehrwürdige Greise bis zu neunzig Jahren, die auch der größte Lügen-Virtuose der deutsch-türkischen Propaganda (…) nicht als einer Verschwörung fähig und schuldig erklären würde. Es beweist dies der Hohn der mohammedanischen Henkersknechte, welche Jesus lästerten und ihre röchelnden Opfer fragten, ob ihr Prophet ihnen nun helfen könne. Dafür sprechen auch die Schändungen der christlichen Kirchen, von denen die Kreuze heruntergerissen wurden, die man plünderte, verunreinigte oder als Markthallen und Läden zum Verkaufen der Effekten der getöteten Verbannten verwendete.“
„In manchen Städten und Dörfern wurden die christlichen Kirchen sofort in Moscheen umgewandelt (in Erzerum auch die katholische Kirche); in Gürün hörte noch während des Auszugs der Deportation die dem Tode geweihte Schar, wie die Mollahs von den Dächern der christlichen Kirchen zum Gebet der (muslimischen – d. Red.) Gläubigen riefen. In Erzingian machte man aus der armenisch-gregorianischen Kirche einen öffentlichen Abort. In Tarmeh, zwischen Samsun und Unjeh, wurde nach der Verwandlung der Kirche in eine Moschee dem armenischen Priester zum Spott ein Turban umgewickelt. Alsdann mußte er den Namas machen (das mohammedanische Gebet) und den muhammedanischen Gottesdienst halten. Die Frage, ob ein Armenier ‚schuldig’ oder ‚unschuldig’ ist, (…) existiert für das Bewußtsein eines Mohammedaners nicht, da es sich um Christen handelt.“
Wo wird das nächste Armennien sein?
Ja, es ist wahr: historisch gesehen gehört die heutige Türkei den Türken nur zu einem kleinen Teil – wenn überhaupt. Ein wichtiger Hinweis in dieser Sache: Nicäa, wo das christliche Glaubensbekenntnis formuliert wurde, liegt mitten in Anatolien. Nicht nur die Armenier und die Aramäer, nein, das gesamte, neutestamentarisch fundierte christliche Glaubensgebäude hat seinen Bauplatz in Kleinasien. Hier ist es errichtet worden. Genau dort also, wo heute die Türkei die absolute Macht beansprucht und nicht einmal den Bau christlicher Kirchen zulässt.
Das Armenien, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte, ist ausgelöscht – das heutige Armenien ist nur noch ein kleiner Teil dieser uralten Kulturnation, und der Völkermord von türkischer Hand hat von Grund auf das verändert, was „Armenien“ genannt wird, auch wenn Tradition und Glauben – beide übrigens um Äonen älter als alle türkische Tradition – natürlich ungebrochen sind. Mehmet II. Fatih, der Eroberer des christlichen Konstantinopel, scheint das Vorbild heutiger Tage zu sein. Fatih bedeutet „der Eroberer“, und nach ihm sind zahlreiche DITIB-Moscheen in Deutschland benannt. Atatürk war, nicht zuletzt aus diesem Blickwinkel, nur ein laizistischer Schlenker in der muslimisch-osmanisch-türkischen Geschichte. Und ein neuer Sultan möchte nun, im 21. Jahrhundert, das erschaffen, was noch nie existierte: eine rassisch-religiös reine Türkei unter dem Banner des Propheten, der die Missionierung mit dem Schwert befohlen hat. Der heutige Sultan, der über das historische West-Armenien herrscht, heißt Recep Tayyib Erdogan. Gott sei den Christen in ihren uralten, angestammten Gebieten in Kleinasien gnädig.