Der Virtuose der Distanzerklärungen oder doch nur ein musikalischer Skandalmacher

Sein „Grundzug ist Gutmütigkeit, ein gewisses Phlegma, beides aber nur solange, als sich nichts ereignet oder … begegnet, was … schlummernde Leidenschaften auslöst. Es liegt hierin ein scheinbarer Widerspruch, man kann es aber nicht anders bezeichnen, als daß Phlegma und Leidenschaft unvermittelt nebeneinander ruhen.“ In dem Ausbruch seiner Leidenschaft liegt „eine ungeheure Beharrlichkeit“. Sein Wille zeigt die gleiche Beschaffenheit. „Man hat oft dies Unvermittelte für Jähzorn gehalten, ich möchte es mehr als eine äußerst heftige Willensbetätigung bezeichnen, wozu sich ein unentwegtes Festhalten an einem einmal gefaßten Entschluß gesellt.“ Nein, hier handelt es sich nicht um eine der vielen Korrespondenzen der europäischen Geheimdienste über den politischen Flüchtling Richard Wagner, sondern diese Zeilen, die sich beinahe wie ein Charakterbild des „Meistersinger“-Komponisten lesen, stammen aus einer Literaturstudie von Andrea Steinfeld „Kampfhunde. Geschichte, Einsatz, Haltungsprobleme von Bull-Rassen“. Doch wenn man den vielen Biografen und ihren Einschätzungen glauben darf, so sind sich beide – Bulldogge und auch Wagner – wohl nicht unverwandt.
Tiere und vor allem Hunde waren aus dem Leben Richard Wagners nicht wegzudenken. Ohne die katastrophale Schiffsreise von Pillau nach London hätte es wohl nie den „Fliegenden Holländer“ gegeben. Seinem Zwergspaniel Peps sang und spielte er alles vor. Und nicht zuletzt spürte er in seinen Hunden das, was er bei seinesgleichen oft vermisste. „Es ist ein Vorurteil der Biographen, zu glauben, bei den jeweils Nächsten eines Menschen handele es sich wiederum um Menschen.“, stellt Kerstin Decker fest, die bereits im letzten Jahr einen intensiven Blick auf die Verbindung Friedrich Nietzsches zu Wagner geworfen hatte. Dieses Mal wagt sie sich an ein recht ungewöhnliches Unterfangen: Ihr Buch blickt auf den Jahrhundertkomponisten aus der Sicht derer, die ihn wahrscheinlich am besten kannten: seiner Hunde. Jener Philosoph, zu dem ihn eine gewisse Zeit eine äußerst intensive Freundschaft verband, fasste dies einst treffend in Worte: „Da ist ein Musiker, der mehr als irgend ein Musiker darin seine Meisterschaft hat, die Töne aus dem Reiche leidender, gedrückter, gemarteter Seelen zu finden und auch noch den stummen Thieren Sprache zu geben.“
Beginnend mit seinem Seelengefährten, dem Neufundländer Robber, den er von Riga über London bis nach Paris mitnimmt. Über Peps, der geboren wurde als Wagner seinen „Rienzi“ ans Licht holte und der, nebst Graupapagei Papo, mit dem „Sächsisch Königlichen Hofkapellmeister“ auf die Dresdner Barrikaden stieg, aber genauso schnell wieder hinab, wollte man doch nicht wie die anderen Revolutionäre in der Festung Königstein auf sein Todesurteil warten. Man lernt die Bulldogge Leo in Biebrich am Rhein kennen, die Wagner erst aus der Hand fraß und später in den Finger biss. Wahrscheinlich erkannte sie seinen „schäbigen Charakter“, wie ihn Thomas Mann einmal titulierte. Doch ganz so niederträchtig kann der dann wohl doch nicht gewesen sein, denn der alten Pohl im Wiener Hietzing zieht die Treue zu ihm der seines eigenen Herren vor. Wenn da nur die permanenten Geldsorgen des Notenzauberers nicht wären, die Wagner ein ums andere Mal zur Flucht vor seinen Gläubigern zwingen. Bis ihn ein junger König liest und hört. Fortan möchte er ihn auf seinem Schloss Neuschwanstein um sich haben. Pohl kann nicht mit, der ist zu alt. Also folgt Russ, wieder ein Neufundländer. Die Hunde wechseln, die Orte gleichfalls, doch die wesentlichen Motive seines Denkens nimmt er immer mit.
Kerstin Decker zeichnet ein Bild Richard Wagners aus den Augen seiner Hunde. Diese stellen sich mit der nötigen kritischen Distanz zu den menschlichen Dingen als genaue Beobachter heraus. Mit Charme, Esprit und geistvollem Witz ist der von mir sehr geschätzten Autorin erneut ein Blick in einen Künstler gelungen, der wohl der Inbegriff der Fremdheit eines Jahrhundert war, „dessen vollster Ausdruck er doch ist“. Alles hat seinen Preis und wäre Richard Wagner „die Revolution des eigenen Lebens geglückt, er hätte wohl nicht auf dem Papier eine Ersatzrevolution beginnen müssen.“ Decker fragt sich: „Hat einer, der nicht bei sich bleiben kann, nicht noch mehr Grund, aus sich herauszugehen? Die Welt nennt das auch Virtuosentum. (…) Die einen verfassen 'Kommunistische Manifeste', er schreibt den 'Tristan' – zwei Weisen des Angriffs auf die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft.“ Tief dringt die Autorin bei ihrer Antwortsuche ins Innere ihres Protagonisten vor. Sie verschiebt ihre Beobachtungsperspektive in die Augen seiner Hunde und erzählt dem Leser aus deren Blickwinkel. Wiederum baut sie „Gedankenschiffe“ und umsegelt ganz im Sinne ihres Protagonisten dessen geistige Welt.
Letztendlich hat es wieder einmal Friedrich Nietzsche so treffend auf den Punkt gebracht: „Er war der vollste Mensch, den ich gekannt habe.“ Das ist absolut richtig. „Richard Wagner besaß eine Neufundländerseele“. Und diese lebt in seinen Werken weiter. „Wir haben die Kunst, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen?“, schließt die Autorin ihr sich durch Tiefe und Substanz auszeichnendes Buch. „Sieben Jahre nach Russ' Tod erklingt im Karfreitagszauber des 'Parsifal' das Lied von der Einheit der Schöpfung. Jeder kann hören, dass 'in den Thieren das Gleiche atmet was uns das Leben gibt'.“

Kerstin Decker
Richard Wagner
Mit den Augen seiner Hunde betrachtet
Berenberg Verlag (März 2013)
288 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3937834613
ISBN-13: 978-3937834610
Preis: 25,00 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.