Am 10. Dezember 1927 wurde Professor Ludwig Quidde der Friedensnobelpreis verliehen; er erhielt ihn, zusammen mit dem französischen Pädagogen und Pazifisten Ferdinand Buisson, vor allem als Anerkennung seiner unermüdlichen Arbeit zur friedlichen Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. (Die Nobelpreis-Reden sind im Internet nachzulesen unter der Adresse www.nobel.se.) Im Jahr zuvor, 1926, war der Preis den beiden Außenministern Gustav Stresemann und Aristide Briand für ihre Verdienste um den Vertrag von Locarno zuerkannt worden. Ein deutliches Zeichen der Bedeutung, die man in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts den deutsch-französischen Beziehungen für den Frieden in Europa, ja, für den Weltfrieden beimaß. Und eine Herausforderung an die Politik von heute, die deutsch-französische Allianz für Frieden und Sicherheit im Rahmen der Europäischen Union neu zu beleben.
Kaum jemand erinnert sich heute noch an Ludwig Quidde, einen von vier deutschen Friedensnobelpreisträgern seit 1901, seit es diese hohe Auszeichnung gibt. Gustav Stresemann war der erste, danach erhielten ihn außer Quidde 1936 der von den Nazis verfolgte und zu Tode geschundene Carl von Ossietzky und 1971 der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt. Gerade angesichts der blutrünstigen Kriege des letzten Jahrhunderts, die Deutschland wesentlich mitzuverantworten hat, sollte ein Mann der Erinnerung wert sein, der Jahrzehnte seines Lebens, alle Fährnisse und Rückschläge nicht achtend, unermüdlich für den Frieden und die Verständigung zwischen den Nationen gekämpft hat; dessen Leistungen indes international bisher angemessener gewürdigt wurden als von seinem eigenen Vaterland. – Wer also war Ludwig Quidde? Dreierlei hat sein Leben bestimmt: zum einen die Historische Wissenschaft, dann die liberale Politik und schließlich der Pazifismus. Berühmt, in manchen Kreisen auch berüchtigt, wurde er 1894 durch die Veröffentlichung des „Caligula“, einer „Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“, die freilich auf Kaiser Wilhelm II. und die devoten bürgerlichen Oberschichten im Deutschen Reich gemünzt war. Doch dazu später.
Quidde wurde am 23. März 1858 in Bremen geboren. Er wuchs in einem großbürgerlichen Kaufmannshause auf und genoß eine humanistische „Erziehung in Freiheit zur Freiheit“. Die politische Atmosphäre in seiner Familie und seinem Freundeskreis war von republikanischem, antipreußischem Denken gekennzeichnet. Den Gymnasiasten behinderte eine Sprachhemmung; indessen überwand er sein Stottern aus eigener Kraft. Schon vor dem Abitur kam der Sproß selbstbewußt denkender und handelnder Bürger mit einem aufgeklärten philosophischen Weltbild in Berührung, das ein Leben lang Grundlage seines Handelns bleiben sollte.
Im Jahr 1912, als Quidde längst zu Prominenz und Ansehen gelangt war, veröffentlichte er in Friedrich Naumanns „Patria“-Jahrbuch einen Aufsatz mit dem Titel „Die demokratische Idee“, in dem er sein zu einer politischen Positionsbestimmung gereiftes Weltbild zusammenfaßte. Seine vernunftbestimmte, säkulare Auffassung von Freiheit und Verantwortung menschlichen Handelns kennzeichnet er mit folgendem Satz: „Nur nach unserem eigenen Erkenntnisvermögen können wir uns unser Weltbild gestalten, eine darüber hinaus reichende Sicherheit gibt es nicht; und den einzigen Verpflichtungsgrund für alle uns bindenden Sittengesetze und für unser Handeln bietet die Stimme unseres eigenen Gewissens.“ Deutlich ist der Einfluß Immanuel Kants erkennbar, dessen Kategorischer Imperativ das gewissenhafte sittliche Handeln bestimmen soll; freilich verzichtet Quidde auf eine religiöse Orientierung, er nimmt keinen Gott mehr an, dem der Mensch eine allem Irdischen übergeordnete Kompetenz zuerkennen könnte. Er wendet sich gegen metaphysische oder ideologische Spekulation und formuliert sein Ideal einer humanen Gesellschaft wie folgt: Des Menschen „Ideal muß sein eine freie Gemeinschaft sittlich freier Menschen, und er muß alles fördern, was den einzelnen dazu befähigt, sich seine Überzeugung, frei von den störenden Einflüssen äußeren Zwanges und innerer Hemmungen, frei von den Täuschungen der Überlieferung wie von denen der Leidenschaften selbst zu bilden.“ Diese aufgeklärte Form eines liberalen Individualismus blieb stets Quiddes Bekenntnis, das seinem Handeln, was immer er anstrebte, zugrundelag.
Der Historiker
1877 begann Quidde sein Studium in Straßburg; er belegte Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie. Sein akademischer Lehrer war der Nationalliberale und spätere Bismarck-Kritiker Hermann Baumgarten, der den jungen Studenten in mancher Hinsicht prägte. Vor allem die Vorbehalte Baumgartens gegenüber der undemokratischen Entwicklung des Kaiserreiches und dem konservativen Wissenschaftsbetrieb haben Quiddes kritische Haltung befördert. 1878 ging er auf seines Lehrers Anraten nach Göttingen, um sein Studium bei dem Mediävisten Julius Weizsäcker fortzusetzen. Dort wurde sein Interesse an der Geschichte des späten Mittelalters geweckt; 1881 promovierte er mit einer Dissertation über den römisch-deutschen König Sigmund (1368 – 1437). Weizsäcker beteiligte ihn daraufhin an der von ihm verantworteten Edition der spätmittelalterlichen Reichstagsakten. Daneben arbeitete der junge Wissenschaftler an einer Reihe anderer Projekte. Bis 1885 erschienen drei wichtige Untersuchungen, eine davon, zur „Geschichte des Rheinischen Landfriedensbundes von 1259“, sollte später seine pazifistischen Ideen beeinflussen.
Quidde verstand die historische Forschung auch als politische Arbeit. Die Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte war für ihn vor allem von politischen Entscheidungen und Entwicklungen abhängig und nur in diesem Rahmen zu verstehen. Damit gehörte er zu einer Gruppe von Historikern, die sich von der traditionellen, beschreibenden Darstellung geschichtlicher Ereignisse bewußt absetzte und kritische Untersuchungen zu den politischen Bedingungen historischer Entwicklung anstellte. Folgerichtig wurde vor allem die Monarchie kritischer Betrachtung unterzogen, was dem seinerzeit üblichen, unterwürfigen Untertanen-Habitus der historischen Wissenschaft keineswegs entsprach. Später führte diese Haltung zu Quiddes kämpferischer Auseinandersetzung mit dem dynastischen System und zu seinem demokratischen Alternativ-Entwurf.
Quidde hatte die Vorarbeiten für seine Habilitation und für eine Reihe anderer Forschungen bereits geleistet, zum Beispiel zur Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Frankfurt, als er seine Hochschul-Karriere 1885 unvermittelt zurückstellte. Der Grund lag in seiner Tätigkeit für die Edition der Reichstagsakten, die zu einer vertraglichen Bindung an die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Trägerin des Editionsprojektes, führte, und die ihm kaum noch Zeit für andere Arbeiten ließ. Endgültig gab er die Universitäts-Karriere zugunsten der publizistischen Verpflichtungen auf, als im gleichen Jahr sein Vater starb und ihm ein großes Vermögen vererbte. 1887 wurde er außerordentliches Mitglied der Historischen Kommission und 1889, nach Weizsäckers Tod, übernahm er mit 31 Jahren die Gesamtleitung für die „Ältere Reihe“. Nun gründete er auch eine eigene Zeitschrift, die „Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, die bis heute vor allem wegen ihrer methodologischen Beiträge, ihres glänzenden Rezensionsteiles und ihrer internationalen Ausrichtung in Fachkreisen hohe Anerkennung findet. Bald hieß sie nur noch „Quiddes Zeitschrift“, und sie betonte ihre Alleinstellung vor allem, wie sich der Historiker Reinhard Rürup ausdrückt, durch ihr „linksliberales Gepräge“ und durch ihr politisches Verständnis von Geschichtswissenschaft, die dem „Fortschritt im Sinne der demokratisch-liberalen Ideen“ verpflichtet sei. Ein aus seinen editorischen und publizistischen Arbeiten resultierendes Angebot für eine außerordentliche Professur in Kiel lehnte Quidde ab.
1890 wurde ihm aufgrund seines Ansehens, das er inzwischen unter Historikern genoß, die Leitung des Preußischen Historischen Instituts in Rom übertragen und vom Preußischen Kultusminister der Professoren-Titel verliehen. Seine Editionstätigkeit und seine Zeitschrift führte er weiter, was einen enormen Arbeitsaufwand und häufiges, anstrengendes Reisen bedeutete. Aus diesen und aus persönlichen Gründen bat er schon 1892 um seine Entlassung als Instituts-Leiter; im gleichen Jahr wurde er zum außerordentlichen Mitglied der Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt. In der Folgezeit engagierte er sich neben seinen beiden wichtigsten Projekten auch bei der Vorbereitung und Durchführung des ersten deutschen Historikerkongresses und bei der Gründung des Deutschen Historikerverbandes. Er wandte sich in diesem Zusammenhang entschieden gegen die preußischen Bestrebungen, den Geschichtsunterricht stärker den Zielen des monarchischen Staates zu verpflichten und ihn zugleich als Waffe gegen die Ausbreitung sozialistischer Ideen zu benutzen. Auf dem Historikerkongreß 1893 in München gelang es ihm, eine Schluß-Resolution durchzusetzen, die alle politischen Auflagen für den Geschichtsunterricht entschieden zurückwies.
Bei der Vorbereitung des Historikertages von 1894 in Leipzig engagierte Quidde sich ein letztes Mal als Mitglied des Historikerverbandes gegen die übliche devote Haltung der Wissenschaftler zu Krone und Regierung. Er spottete über Huldigungsschreiben und Byzantinismus in den Kongreß-Beiträgen und wandte sich vor allem gegen die unterwürfige Bismarck-Verehrung der historischen Zunft. Jedoch waren seine Möglichkeiten schon 1894, spätestens aber 1895, als er noch einmal die Entwicklung der Historikertage zu beeinflussen versuchte, wegen der „Caligula-Affäre“ nur noch gering. Nahezu alle seine Fachkollegen behandelten ihn wie einen Aussätzigen, Quiddes vielversprechende Karriere als Historiker endete abrupt und endgültig. Was war geschehen?
Schon früher waren Quidde gelegentlich Parallelen aufgefallen zwischen dem vermutlich geisteskranken römischen Kaiser Caligula (12 – 41 n.Chr.) und Wilhelm II. Näher befaßte er sich damit, als er in Rom erfuhr, daß der deutsche Kaiser besonders vertrauten Personen ein Konterfei ihrer Majestät zu schenken beliebte, auf dem die Parole des Caligula „oderint dum metuant“ (Mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten.) zu lesen war. Quidde begann nun mit der Formulierung einer Polemik, die – wissenschaftlich abgesichert – nichts als den schizophrenen Charakter und die größenwahnsinnigen Untaten des Caligula darzustellen schien, für jedermann erkennbar aber auf den eitlen Byzantinismus Wilhelms II. und seiner Umgebung zielte. 1894 veröffentlichte er seinen kurzen Text unter dem Titel „Caligula – eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“ in der Monatsschrift „Die Gesellschaft“ und gleichzeitig als Broschur. Binnen kurzer Zeit erlebte sie mehr als dreißig Auflagen; die 36. erschien 2002 in der Edition Temmen. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts lasen mehr als eine Million Menschen die Satire, über die auch ausländische Zeitungen lebhaft berichteten. Freilich hat Quidde einer Übersetzung in andere Sprachen zunächst nicht zugestimmt, er wollte die Auseinandersetzung um den „Caligula“ in Deutschland geführt wissen. Erst 1917 und 1928 wurde sein Text ins Englische bzw. Französische übertragen.
Das Publikum verstand die Schrift nahezu ausschließlich als heftigen Angriff auf den Kaiser, während sie doch mindestens in gleichem Maße eine fundamentale Kritik am Geist (oder Ungeist) der deutschen Gesellschaft, vor allem der oberen bürgerlichen Schichten, darstellte. Der „Cäsarenwahnsinn“ kommt nicht von ungefähr, denn: „Der spezifische Cäsarenwahnsinn ist das Produkt von Zuständen, die nur gedeihen können bei der moralischen Degeneration monarchisch gesinnter Völker oder doch der höher stehenden Klassen, aus denen sich die nähere Umgebung der Herrscher zusammensetzt. (…) Kommt dann noch hinzu, daß nicht nur die höfische Umgebung, sondern auch die Masse des Volkes korrumpiert ist …: so ist es ja wirklich zu verwundern, wenn ein so absoluter Monarch bei gesunden Sinnen bleibt.“ Die Quiddesche Untersuchung diagnostizierte einen ernsten Krankheitszustand der deutschen Gesellschaft aufgrund von Untertanen-Gesinnung, Duckmäusertum und mangelnder Zivilcourage. – Das dynastische System mit seinen Mechanismen von Unterdrückung und Manipulation, so könnte man Quiddes Meinung zusammenfassen, wird den Forderungen der Zeit und dem Anspruch der Menschen, sich die angemessene Staatsform für die Organisation ihrer Interessen selbst zu schaffen, nicht gerecht; deshalb muß es verändert werden, nicht mit revolutionären Mitteln, wohl aber durch das politische Engagement aller aufrechten Bürger, denen es um die Verwirklichung von Recht und Freiheit geht.
Quidde hatte offenbar den Nerv der Zeit getroffen. Seine Schrift führte zu einer Welle vaterländischer Empörung vor allem bei den Berufskollegen. Man verstieß und ächtete ihn. Die Edition der Reichstagsakten wurde ihm vorübergehend entzogen, seine Zeitschrift gab der Verlag etappenweise in andere Hände, sie wurde 1898 in „Historische Vierteljahresschrift“ umbenannt. Friedrich Meinecke schrieb von einem „Machwerk“, das der „Caligula“ darstelle, der „Ehrenname des Gelehrten“ sei Quidde deshalb abzusprechen. Die meisten anderen sahen es genauso. Nur wenige vor allem aus seinem politischen Umfeld hielten ihm die Treue. Er wurde erst 1907 rehabilitiert, als man ihn zum ordentlichen Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wählte.
Auch die Justiz interessierte sich für den Fall Quidde. Der Staatsanwalt ermittelte gegen den frechen Nestbeschmutzer; da aber im „Caligula“ nicht ein einzigesmal von Wilhelm II. die Rede war, konnte man seinem Autor juristisch nichts anhaben. Erst zwei Jahre später kam es aufgrund eines geringfügigeren Anlasses zur Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung. Quidde mußte für drei Monate ins Gefängnis Stadelheim. Am 10. Oktober 1896, dem Tag seiner Entlassung, reiste Quidde nach Ulm, um dort eine Parteitagsrede mit den Worten zu beginnen: „Ich komme, wie Sie wissen, aus dem Gefängnis, wegen einer Majestätsbeleidigung, die ich nicht begangen habe. Das schmerzt mich, wenn ich daran denke, eine wie schöne Majestätsbeleidigung man für drei Monate Gefängnis schon hätte verüben können.“
Sein Humor verließ ihn nicht, freilich waren seine Absichten durchaus ernsthafter Art. Er selbst beschrieb sie später wie folgt: „Das deutsche Volk zu warnen vor den Gefahren, die in der unberechenbaren, einer konsequenten Politik unfähigen und oft an die Grenze geistiger Abnormität streifenden Persönlichkeit des Kaisers lagen, gleichzeitig den Byzantinismus, die Charakterlosigkeit und den Servilismus zu bekämpfen, mit dem nicht nur … die nächste Umgebung des Kaisers, sondern große Teile der Bevölkerung das Selbstbewußtsein und die tolle Überhebung des Monarchen förmlich züchteten und seine Unberechenbarkeit erst zu einer das Leben des Reiches bedrohenden Gefahr machten.“
Als Historiker ist Quidde fortan nicht mehr hervorgetreten, was freilich nicht bedeutet, daß er seine Arbeiten auf diesem Gebiet ganz und gar einstellte. 1923 hielt er Vorlesungen zur deutschen Verfassungsgeschichte in der von Friedrich Naumann gegründeten und von Ernst Jäckh geleiteten „Deutschen Hochschule für Politik“ in Berlin; 1930 veröffentlichte er Vorträge, die er für die Carnegie-Stiftung in Paris an der Akademie für internationales Recht gehalten hatte: „Histoire de la paix publique en Allemagne au moyen-age“.
Der liberale Politiker
Da ihm das wissenschaftliche Betätigungsfeld nun fast ganz verschlossen war, galt Quiddes Engagement in den nächsten Jahren vor allem der Politik. Schon als Student hatte er sich politisch engagiert. Daß er in Straßburg bei Hermann Baumgarten, dem Programmatiker der Nationalliberalen, studierte, mag auch politische Gründe gehabt haben; in Göttingen dann bezog er Position gegen den bei Professoren und Studenten grassierenden Antisemitismus. Heinrich von Treitschke hatte 1880 die sogenannte Antisemitenpetition der Professoren initiiert, die den insbesondere im Finanzwesen stark engagierten Juden einen gewichtigen Teil der Schuld an der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre zuschreiben wollte. Dieser Petition sollte eine studentische Unterschriftenliste angefügt werden, um ihr zusätzliches Gewicht zu verleihen. Quidde indessen stellte sich nachdrücklich gegen die antisemitischen Bestrebungen und gegen den Versuch, die deutschen Studenten dafür in Anspruch zu nehmen. Er organisierte eine Protestversammlung und verfaßte eine Kampfschrift mit dem Titel „Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft“. Sie erschien 1881 in zwei Auflagen und bezichtigte die Unterzeichner der Petition, von den wahren Gründen der Krise, nämlich den allgemeinen gesellschaftlichen und ökonomischen Problemen aufgrund des feudalen Systems, ablenken und einen Sündenbock brandmarken zu wollen.
Bemerkenswert ist die Analyse der deutschen Studentenschaft, die Quidde vornimmt. Er wirft seinen Kommilitonen vor, die liberalen und demokratischen Ideale von 1848 vergessen oder gar verraten zu haben. Bismarck-Kult sowie die Folgen der „Gründer- und Schwindelperiode“ hätten sie politisch entmündigt. Sein Resumé: „So wächst, wenn nicht alles täuscht, eine Generation von meist national-chauvinistisch und [katheder-]sozialistisch angehauchten gemäßigt konservativen Realpolitikern heran, soweit nicht eine energische Charakteranlage oder starker Einfluß durch Familien- und andere Beziehungen nach einer anderen Richtung treiben.“ Quiddes Engagement blieb nicht folgenlos, national gesinnte Studenten machten publizistisch Front gegen ihn, sogar einer Duellforderung mußte er sich stellen. Der Zweikampf endete glücklicherweise unblutig.
In den nächsten Jahren wahrte Quidde Abstand zur Politik und widmete sich ausschließlich seinen wissenschaftlichen Interessen; erst 1893 schloß er sich in München der „Deutschen Volkspartei“ an, einer Vereinigung süddeutscher Demokraten, die strikt republikanisch und antipreußisch orientiert war. (Nicht zu verwechseln mit der nationalliberalen „Deutschen Volkspartei“ Stresemanns in der Weimarer Republik!) Im gleichen Jahr, noch vor dem „Caligula“ also, erschien anonym seine Analyse des „Militarismus im heutigen Deutschen Reich“, in der Quidde schonungslos eines der Grundübel im Staate anprangerte: den militärischen Untertanen-Geist, der alle Bereiche des öffentlichen, ja, des privaten Lebens infiziert habe. Er nannte seinen Text eine „Anklageschrift“, Reinhard Rürup nennt ihn „eine der glänzendsten zeitgenössischen Analysen des Militarismus, bestechend in der Argumentation, scharf und zupackend in der Form – eine Analyse, wie sie von einem deutschen Historiker dieser Jahre kaum zu erwarten war.“ Gewissermaßen die Illustration zu Quiddes Untersuchung findet sich in literarischen Arbeiten jener und späterer Jahre, etwa in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ und noch in Carl Zuckmayers Groteske „Der Hauptmann von Köpenick“.
Quidde sah im Militarismus den größten Widersacher individueller Freiheit und den „Gegner aller Stände, die ihre Selbständigkeit behaupten wollen, … Gegner der bürgerlichen Gesellschaft“; er nannte ihn eine „kulturfeindliche Macht“. Er befördere einen blinden Nationalismus und werde so zum Hemmnis für internationale Verständigung und Zusammenarbeit. Auch ein typischer Unterschied zwischen den einerseits liberal und andererseits demokratisch Gesinnten des 19. Jahrhunderts wurde deutlich: „Die Liberalen, die dem Militarismus vorsichtig ausweichen und ihn ängstlich hätscheln, … sind noch immer die Gefoppten gewesen. Jede Stärkung des Militarismus kommt schließlich reaktionären Bestrebungen zugute.“ Von den Demokraten verlangte Quidde eine entschiedenere Haltung: „Der Militarismus ist hart, und nur vor fremder Härte hat er Respekt, nur durch Härte kann man ihm etwas abgewinnen. Wer sich vor ihm beugt und dann auf gnädige Behandlung hofft, wird vor den Triumphwagen gespannt, um später geopfert zu werden.“
Mit der Kritik am Militarismus hatte Quidde sein zentrales Thema gefunden. Zwar trat es zunächst noch hinter tagesaktuelle Erfordernisse der regionalen politischen Arbeit zurück, später aber, im Zuge des immer umfangreicher werdenden Engagements für den Pazifismus, rückte es mehr und mehr in den Vordergrund. Er wandte sich mit seiner Parteinahme auch gegen die im kaisertreuen Bürgertum weit verbreitete, bis heute gelegentlich anzutreffende Ansicht, von der niederen Politik müsse man sich tunlichst fernhalten, denn sie verderbe den Charakter: „Man lasse sich … nicht dadurch irre machen, … daß ‘die Politik den Charakter verderbe’. Leute, die mit dieser Begründung die Parteinahme in politischen Fragen ablehnen, haben oft keinen Charakter, der verdorben werden könnte; ihre moralischen Bedenken sind ein Deckmantel der politischen Charakterlosigkeit. Die nicht zu leugnenden schweren Mißbräuche der Partei- und Geschäftspolitik beweisen natürlich nichts gegen das Prinzip.“ – Sätze, die aus unseren Tagen stammen könnten.
Nach seinem Beitritt zur „Deutschen Volkspartei“ gründete Quidde im Jahre 1894 zusammen mit dem Vorsitzenden des Münchener „Demokratischen Vereins“, Adolf Kröber, eine eigene demokratische Tageszeitung für Oberbayern, die „Münchener Freie Presse“, die unter seiner Herausgeberschaft bis 1900 erschien. Er nutzte sie als Plattform für die Verbreitung seiner politischen Ansichten, etwa zur Agitation gegen die um sich greifende Bismarck-Verehrung oder zur Argumentation gegen die Todesstrafe; immer ging es ihm indessen um den Kampf für eine demokratische politische Kultur. Drei Tage nach dem Tod Bismarcks am 30. Juli 1898 schrieb Quidde: An seiner Politik hafte „ein moralischer Niedergang unseres Volkstums, eine Verwüstung unseres öffentlichen Lebens, eine Erziehung zur Knechtseligkeit und zur Anbetung der hohlen Götzen von äußerer Macht, Gewalt und Erfolg. Ohne innere Fühlung mit wahrhaft idealen Bestrebungen, kulturfeindlich in seinem innersten Wesen, hat dieser Mann uns wohl politische Macht verschaffen können, aber unserer Kulturentwicklung schaden müssen.“ Der Historiker Hans Kohn hat diese Auffassung 1962 in seinem Buch „Wege und Irrwege – Vom Geist des deutschen Bürgertums“ nachdrücklich unterstrichen und durch seine Forschungen bestätigt.
Quidde betätigte sich bald über München hinaus für die Ziele der „Deutschen Volkspartei“ und war wesentlich beteiligt sowohl an der Gründung eines eigenen Landesverbandes als auch an der Formulierung eines politischen Programms. Nachdem Adolf Kröber im April 1896 gestorben war, wurde Quidde zum Landesvorsitzenden der Partei gewählt. Das Programm der bayerischen „Deutschen Volkspartei“ von 1895 trägt seine Handschrift. Niemals wieder hat er die Gelegenheit gehabt, sich programmatisch so dezidiert profilieren zu können. In den grundsätzlichen vier Artikeln kommen Selbstverständnis und Ziele der deutschen Demokraten im 19. Jahrhundert pointiert zum Ausdruck:
„I. Die Deutsche Volkspartei ist eine Partei des politischen Fortschritts; sie bekennt sich zu den demokratischen Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit und verlangt die gleichartige Mitwirkung aller Staatsbürger bei Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, die Durchführung der Selbstregierung des Volkes im Staate.
- Die Volkspartei ist eine Partei der nationalen Gemeinschaft und der bundesstaatlichen Selbstverwaltung. Sie tritt ein für die unverbrüchliche Einheit des deutschen Vaterlandes, wie für die Erhaltung der Selbständigkeit und der Gleichberechtigung der deutschen Volksstämme.
III. Die Volkspartei ist eine Partei der sozialen und wirtschaftlichen Reformen. Sie anerkennt, daß die staatlichen und gesellschaftlichen Fragen untrennbar sind, und daß die wirtschaftliche und soziale Hebung der arbeitenden Klasse und die Verwirklichung der politischen Freiheit sich gegenseitig bedingen. Sie erstrebt den friedlichen Ausgleich der sozialen Gegensätze in einer die Freiheit des einzelnen verbürgenden Gesellschaftsordnung.
- Die Volkspartei ist eine Partei des Friedens. Sie erkennt im Kriege und im Militarismus die schwerste Schädigung des Volkswohlstandes, wie der Kultur und der Freiheitsinteressen. Sie erstrebt einen Friedens- und Freiheitsbund der Völker.“
Es handelte sich um ein demokratisches, föderales, den sozialen und internationalen Ausgleich forderndes, nationalstaatliches Programm. Damit legten sich die Deutschen Demokraten gewissermaßen fest auf die Zusammenarbeit mit linksliberalen und sozialdemokratischen Partnern. Konsequenterweise hat Quidde bis zum Ende der Weimarer Republik die Auffassung vertreten, daß eine wirkliche Demokratisierung von Staat und Gesellschaft nur gemeinsam mit den demokratischen Sozialisten zu erreichen sei. Diese Position war im Kreis der liberalen, freisinnigen und demokratischen Parteien durchaus umstritten, was bis zum Beginn der dreißiger Jahre zu immer neuen Auseinandersetzungen und Abspaltungen führte.
Quidde selbst hat im bereits zitierten „Patria“-Aufsatz von 1912 die unterschiedlichen Akzentuierungen bei Liberalen und Demokraten auf einen kurzen Nenner gebracht: „Demokratie und Liberalismus sind … zwei Ausprägungen des gleichen Grundgedankens; … Die Demokratie legt den Nachdruck auf die Selbstregierung des Volkes … Der Liberalismus betont die Freiheit der Persönlichkeit.“ Während es also den Liberalen vor allem um individuelle Freiheit geht, betonen die Demokraten auch die sozialen Bedingungen. Eine in der Theorie zwar unbedeutend anmutende, in der Praxis aber häufig folgenreiche Unterscheidung, die bis heute in den politischen Auseinandersetzungen, insbesondere innerhalb der Freien Demokratischen Partei Deutschlands, zu beobachten ist.
Vorerst gelang es Quidde nicht, sich für seine inhaltlichen Ziele auch als Volksvertreter zu engagieren. Die Bewerbung um eine Landtagskandidatur 1899 scheiterte, 1903 lehnte er ein Angebot Conrad Haußmanns ab, statt seiner in Württemberg für den Reichstag zu kandidieren. Erst 1907 wurde er in den Bayerischen Landtag gewählt, dem er bis 1918 angehörte. Von 1902 bis 1911 wirkte er als Mitglied des Münchener Gemeindekollegiums in der Kommunalpolitik. Da er sich aber immer stärker für die Friedensbewegung einsetzte, mußten seine parteipolitischen Anstrengungen bald zurückstehen. Dennoch nahm er an den Diskussionen und Abstimmungsprozessen auf allen Ebenen maßgeblich teil; etwa 1910, als die linksliberalen und demokratischen Parteien sich im Reich nicht ohne schmerzliche personelle Verluste und gegen das Votum Quiddes zur Fortschrittlichen Volkspartei zusammenschlossen. Danach freilich wurde er in den Zentralausschuß der neuen Partei gewählt, in dem er auch die Friedensbewegung repräsentierte.
Während des Krieges stand Quidde stets auf der Seite derjenigen, die einen Verständigungsfrieden anstrebten. Nach der Kapitulation war er zunächst Vizepräsident des Provisorischen Nationalrates in Bayern und wurde dann für die neu gegründete „Deutsche Demokratische Partei“ (DDP) in die Verfassunggebende Nationalversammlung der Weimarer Republik gewählt. Mit seinen linksliberalen Forderungen gehörte er indessen meist zur Minderheit; mit seinem Plädoyer gegen die Todesstrafe zum Beispiel konnte er sich nicht durchsetzen. Auch innerhalb der Partei fand er keine Mehrheiten für seine pazifistischen Positionen; zwar hatte seine Stimme durchaus Gewicht, aber zu politischer Wirksamkeit gelangte er nur selten. So war es konsequent, daß er bei der Listenaufstellung für die Reichstagswahlen nicht berücksichtigt wurde. Dennoch blieb er auch auf Reichsebene aktiv, obwohl man gelegentlich gar seinen Parteiausschluß betrieb. 1925 stellte Paul Rohrbach, ein ehemaliger Vertrauter Friedrich Naumanns, den Antrag, Quidde wegen seiner angeblichen Nähe zu radikalen Mitgliedern der Pazifistenorganisationen aus der DDP auszuschließen. Jedoch sprach sich die Führung der Partei für Quidde und für die Notwendigkeit aus, die Friedensbewegung in wichtigen Gremien der DDP repräsentiert zu wissen, so daß am Ende Rohrbach und nicht Quidde aus der Partei ausschied.
Quidde vollzog diesen Schritt mit anderen prominenten Linksliberalen zusammen erst 1930, als sich die DDP in einer Art Verzweiflungsakt mit dem national gesinnten „Jungdeutschen Orden“ zur „Deutschen Staatspartei“ zusammenschloß, um den rapiden Stimmenschwund bei den letzten Wahlen zu stoppen. Freilich gelang dies ebensowenig wie der neuen „Radikaldemokratischen Partei“, der Quidde sich angeschlossen hatte, Erfolg beschieden war. Die zersplitterten liberalen Parteien der Weimarer Republik und mit ihnen die „zornigen alten Männer“ des Linksliberalismus hatten den reaktionären nationalistischen Tendenzen nichts mehr entgegenzusetzen. Nun rächte sich, daß der deutsche Liberalismus nach dem Krieg zu keiner einheitlichen Linie gefunden hatte. Viele demokratische Politiker mußten sich der nationalsozialistischen Verfolgung durch Flucht ins Ausland entziehen; Ludwig Quidde ging im März 1933 ins Exil nach Genf.
Der Pazifist
Als 1892 in Berlin die „Deutsche Friedensgesellschaft“ gegründet wurde, war Ludwig Quidde daran noch völlig unbeteiligt. Doch schon im Jahr darauf konnte ihn Karl Mühling, der Schriftführer der Gesellschaft, für die Arbeit der Pazifisten gewinnen. Quiddes demokratischer Überzeugung war von Anfang an auch das Engagement für ein friedliches Zusammenleben der Menschen eigen. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ führte er des öfteren als die Leitschnur seiner pazifistischen Überzeugungen an. Insofern lag es nahe, daß er bald für die Friedensgesellschaft aktiv wurde und diese Aktivität mit seiner parteipolitischen Arbeit zu verknüpfen suchte. 1894 gründete Quidde in München eine Ortsgruppe der Friedensgesellschaft, die später in die „Münchner Friedensvereinigung“ überging; bis 1933 war er ihr Vorsitzender.
Quidde war keineswegs ein schwärmerischer Friedensfreund, ganz im Gegenteil. Ihm ging es um rationale Arbeit zur Verhinderung von Krieg und Gewalt. Dies hielt er für möglich durch die Schaffung internationaler Institutionen wie eines Weltschiedsgerichtshofes und durch die Ausgestaltung eines internationalen Kriegsrechtes im Rahmen einer wirksamen Verpflichtung aller Staaten auf das Völkerrecht. Daneben bedürfe es der effektiven Vermittlung zwischen den Staaten bei Interessenkonflikten, um kriegerischen Auseinandersetzungen vorzubeugen – eine nicht nur von Quidde favorisierte Idee, die auch der in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, nach zwei Weltkriegen, ins Leben gerufenen „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) zugrundeliegt. Quidde artikulierte die Anliegen der Pazifisten auf internationalen Kongressen und auf Regierungskonferenzen, die Vorschläge für Abrüstungsverträge und Strategien zur Friedenssicherung entwickeln sollten. Die Haager Konferenz von 1899, die ein Abkommen zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten verabschiedete, war eine solche Zusammenkunft, von der Quidde sich nachhaltige Wirkungen für den Frieden erhoffte. Wir wissen heute, daß diese Hoffnung zunächst eine Illusion bleiben mußte.
Indessen engagierte Quidde sich mehr und mehr in den pazifistischen Organisationen. Seit 1901 war er deutscher Vertreter im „Internationalen Friedensbüro“ in Bern, dessen Leitung er später übernahm. Auf den Weltfriedenskongressen führte er die deutsche Delegation an, und seit 1907 beteiligte er sich auch an der Arbeit der „Interparlamentarischen Union“, des Zusammenschlusses der pazifistischen Parlamentarier aller Länder. Im gleichen Jahr organisierte er in München den ersten pazifistischen Weltkongreß auf deutschem Boden. Im Frühjahr 1914 wurde er dann, eher der Pflicht als der Neigung gehorchend, zum Vorsitzenden der „Deutschen Friedensgesellschaft“ gewählt. Hervorzuheben aus seinen vielfältigen Arbeiten in dieser Zeit ist der „Entwurf zu einem internationalen Vertrag über Rüstungsstillstand“, den der Weltfriedenskongreß und die 18. Interparlamentarische Konferenz 1913 in Den Haag berieten. Darin war das Szenario eines schrittweisen, realistischen Prozesses aufgezeigt, der mithilfe von Abrüstung und internationaler Verständigung schließlich die Möglichkeit böte, Recht an die Stelle von Gewalt treten zu lassen, so daß der Krieg am Ende ebenso überwunden würde wie die Fehde im späten Mittelalter.
Während der Katastrophe des Ersten Weltkrieges, der die internationale pazifistische Bewegung ins Mark traf, kämpfte Quidde trotz aller Widerstände beharrlich für die Propagierung eines gerechten Friedens unter Wahrung der deutschen Interessen. Im Jahre 1915 trat er als Verfasser einer Denkschrift gegen die überzogenen deutschen Kriegszielforderungen hervor. Sein hartnäckiger Einsatz gegen den Krieg und die Ziele eines Siegfriedens trug ihm 1918 die Ausweisung aus Berlin und den Entzug des Passes ein; seine Agitationsarbeit indes setzte er von München aus fort.
Nach dem Krieg gründete sich die Friedensbewegung in Deutschland praktisch neu. Neben der „Deutschen Friedensgesellschaft“ etablierten sich Organisationen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichen Zielen. Einen besonderen Zuwachs erhielten die Pazifisten durch den Sinneswandel der Sozialisten, die sich bisher selbst als Friedensbewegung verstanden wissen wollten und spezielle Pazifisten-Organisationen deshalb ablehnten. Nunmehr aber arbeiteten sie in der Friedensbewegung mit, was allerdings das Entstehen einer ideologischen Gruppe zur Folge hatte, die den Frieden durch die Errichtung sozialistischer oder kommunistischer Herrschaft herstellen wollte. 1921 gründete sich eine Dachorganisation aller Pazifisten-Verbände, das „Deutsche Friedenskartell“; Quidde wurde ihr Vorsitzender. Seine unermüdliche publizistische Arbeit gegen den wieder um sich greifenden militärischen Ungeist in Deutschland, speziell gegen die friedensvertragswidrigen Vorgänge um die sogenannte „Schwarze Reichswehr“, führte 1924 zu seiner zweiten Inhaftierung in Stadelheim wegen des Verdachtes auf Landesverrat. Indessen ließ man ihn aufgrund internationaler Proteste, vor allem aus London, bald wieder frei.
In welchem Maße die unterschiedlich motivierten, ja, fallweise gegensätzlichen pazifistischen Anstrengungen eine insgesamt erfolgreiche Arbeit der Friedensbewegung erschwerten, hat Carl von Ossietzky, Quiddes Sekretär in der „Deutschen Friedensgesellschaft“, mit einem satirischen Beitrag im „Tage-Buch“ vom 4. Oktober 1924 bissig illustriert: „Alljährlich im Herbst findet ein deutscher Pazifistenkongreß statt. Diese Veranstaltung dient vornehmlich der körperlichen Ertüchtigung der Teilnehmer. Es ist halt schwierig, ein ganzes Jahr hindurch ununterbrochen Friedensmensch zu sein. Schließlich müssen doch wenigstens einmal jährlich die bellikosen Staubecken entleert werden. Einmal im Jahr muß auch der prinzipienfesteste Antimilitarist die leider Gottes immer fortwuchernde militaristische Darmfauna fortspülen. So kommt es, daß diese Kongresse ausgeprägt den turbulierenden Instinkten dienen. Sie sind ein ungeheures Blutbad, eine massenweise Absäbelung von Führerköpfen. Ein Sperrfeuer von Anklagen, Bezichtigungen, Mißtrauensvoten. Der in Paris geschätzte Herr von Gerlach wird in Berlin als Verräter behandelt, als schwachköpfiger Opportunist, wird demoliert. Herr Hiller schwingt den tintentriefenden Tomahawk; er ruft zum heiligen Krieg gegen die Zweifler an seiner Autorität – ein Pobjedonozew der Friedensbewegung. Er sagt Menschheit und meint Stuhlbein. – …und wenn man sich genug ertüchtigt hat, geht man wieder nach Hause und ist ein ganzes Jahr lang friedlich. Die Rachegeister legen sich vollgesogen zur Ruhe. Der Philosoph der Langweiligkeit versinkt im gewohnten Tran.“
Im internen pazifistischen Kampf für unterschiedliche Interessen und Ziele war Ludwig Quidde so etwas wie der ruhende, ausgleichende Pol. Seiner Autorität und Integrität war es zu verdanken, daß bis zum Ende der zwanziger Jahre ein Bruch der Friedensbewegung vermieden werden konnte. Vor allem seine Anstrengungen, die deutsch-französischen Beziehungen zu verbessern, wurden weltweit anerkannt. Insbesondere in den internationalen pazifistischen Organisationen, in denen Quidde mitwirkte, bemühte er sich gemeinsam mit Gesinnungsfreunden aus Frankreich um eine Aussöhnung beider Staaten und um eine Verständigung auf der Basis zeitgerechter Anpassung des Versailler Vertrages. Das führte 1927 zur Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn und Ferdinand Buisson. Längst hatte Quidde eine solche Ehrung verdient, indessen veranlaßte sie die politische Rechte, die jeglicher „Erfüllungs- und Revisionspolitik“ des Versailler Vertrages den Kampf angesagt hatte, zu einer verleumderischen Schmäh-Kampagne. Auch die eigenen Mitkämpfer, wenigstens viele von ihnen, begegneten der Auszeichnung mit Kritik, vor allem weil der inzwischen vornehmlich von Einkünften aus publizistischer Arbeit lebende Quidde die finanzielle Zuwendung, die mit dem Preis verbunden war, zur Absicherung des Auskommens seiner Familie verwandte.
Quidde hatte in den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht mehr die Kraft, weder die immer heftiger werdenden Konflikte innerhalb des Friedenskartells auszugleichen, noch sich der politischen Angriffe von rechts zu erwehren. 1929 legte er den Vorsitz der Friedensgesellschaft nieder, sein Nachfolger als geschäftsführender Vorsitzender wurde einer seiner Widersacher aus der ideologischen Gruppe radikaler Pazifisten, Fritz Küster; Paul Freiherr von Schoenaich wurde Präsident. Quidde bezeichnete die Auseinandersetzungen, die seinem Rücktritt vorangegangen waren, verbittert als „einen Kampf, nicht der Willkür gegen Ordnung, sondern der Freiheit gegen Terrorisierung“. 1930 trat er gar zusammen mit Hellmut von Gerlach und vielen anderen aus. Zwar unternahm er 1932 noch einmal die Gründung eines „Deutschen Friedensbundes“, aber dieser Versuch war angesichts der politischen Verhältnisse von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Nach der „Machtergreifung“ Hitlers ging Quidde in die Emigration nach Genf. Er war praktisch mittellos, sein Vermögen durch die Weimarer Inflation entwertet; anfangs lebte er im wesentlichen von einer schmalen Rente, die ihm die Nobel-Stiftung aussetzte, später von Zuwendungen pazifistischer Freunde und kleineren publizistischen Arbeiten, aber auch von den Einkünften als Korrektor bei einer Druckerei und aus gelegentlichen Gartenarbeiten. 1936 votierte er für die Verleihung des Friedensnobelpreises an den inhaftierten Carl von Ossietzky, nicht ohne anzumerken, daß auch Fritz Küster den Preis verdient hätte. Gefragt, wann er nach Deutschland zurückkehren werde, antwortete er 1940 entschieden: „Sobald das Hitler-Regime gestürzt ist.“ 1938, zu seinem achtzigsten Geburtstag, wurde in der von seinem langjährigen Mitstreiter Hans Wehberg herausgegebenen „Friedenswarte“ eine Reihe von Würdigungen seiner Person und seines Engagements aus der Feder internationaler Persönlichkeiten veröffentlicht. Quidde arbeitete zu der Zeit an einer Darstellung über den Pazifismus im Ersten Weltkrieg, die erst 1979 aus dem Nachlaß herausgegeben werden konnte. Am 5. März 1941 starb Ludwig Quidde in Genf.
Karl Holl, der Autor einer großen Quidde-Biographie und Herausgeber von Quiddes „Geschichte des Pazifismus im Ersten Weltkrieg“, kennzeichnet den Friedensnobelpreisträger wie folgt: „Ludwig Quidde ist von einem bestimmten Punkt seines Lebens an Außenseiter gewesen, er hat sich vorgezeichneten Bahnen wenig angepaßt, festen Kategorien politischer und sozialer Art kaum eingefügt, so daß für keine politische Gruppierung Anlaß bestand, ihn ganz für sich zu reklamieren, so daß auch keine Quidde-Legende, sei es im positiven, sei es im negativen Sinne, entstehen konnte, die seine emotionale Vereinnahmung gesichert hätte.“ Auch sein ausgesprochen rationales und pragmatisches Engagement, die Ablehnung jeglichen Extremismus und jeglicher ideologischen Dogmatik, die Distanz zu aller Schwärmerei oder Schwarzmalerei, lassen ihn nicht geeignet erscheinen etwa als Kult-Figur oder als Idol. Andererseits ist kaum jemand sonst zu seiner Zeit konsequenter und glaubwürdiger für Demokratie, Recht und Humanität eingetreten. Mag ihm das Charisma des populären Politikers gefehlt haben, an Grundsatztreue und an Mut, für seine Ideale zu kämpfen, fehlte es ihm nicht. Was er in einem simplen Satz über den Pazifismus sagte, kann als Motto für sein ganzes Leben gelten: „Der Pazifismus will eine neue Welt aufbauen, erfüllt von der Idee des Rechtes, getragen von den solidarischen Interessen der Menschheit.“
Seit einigen Jahren gibt es erfreulicherweise wieder Bestrebungen, das Wirken Quiddes zu würdigen. 2002 wurde in Bremen die „Ludwig Quidde Stiftung“ (inzwischen in Verwaltung der „Deutschen Stiftung Friedensforschung“) gegründet; sie vergibt alle zwei Jahre den „Ludwig Quidde Preis“; in Nordrhein-Westfalen bietet das „Ludwig-Quidde-Forum“ politische Veranstaltungen an, die freilich nicht unbedingt immer in die liberal-demokratische Gedankenwelt Quiddes passen. Auch publizistisch ist wieder auf den Friedensnobelpreisträger aufmerksam gemacht worden. Neben der umfassenden Biografie von Karl Holl sind einige Publikationen zum Leben und zu den Werken Quiddes sowie Neuauflagen seiner wichtigsten Schriften erschienen.