Wer bin ich? Das wusste der Schriftsteller Erich Kästner, 1899 in Dresden geboren, 1974 in München gestorben, selbst nicht so genau. Identitätskrise? Welcher Künstler, auch was: welcher Mensch kennt die nicht? Kästner war vieles: Lyriker, Satiriker, Dramatiker, Journalist, Feuilletonist. Romancier auch. Und – „Emil und die Detektive“, „Die Konferenz der Tiere“, „Pünktchen und Anton“ – geliebter Kinderbuchautor. Mit „Dr.“-Titel. „Do the six E. K.`s know one another?“, fragte Thornton Wilder 1957 seinen in München lebenden Kollegen Erich Kästner. Kannten sie sich, die „sechs E. K.s“? Wer weiß. Kennt „man“ Erich Kästner überhaupt? („Man“ – das ist nicht die Literaturwissenschaft, die E. K. bereits weidlich analysierte, sondern Otto Normal-Leser.) Die große Erich-Kästner-Schau in der Galerie des Münchner Literaturhauses (bis 14. Februar) kann Fakten liefern, aus denen jeder Besucher sein eigenes E. K.-Bild gewinnen mag.
Rasante Laufbilder auf übermannshohen, gewichtigen Kuben, die „umwandert“ werden können (falls einem nicht schwindelig wird von den unentwegt flimmernden alten Schwarzweißfilm-Ausschnitten), ziehen gleich bei Eintritt alle Aufmerksamkeit auf sich. Ach ja: E. K., der so gerne von Trubel und Trara umgebene Großstadtmensch. Auf Dresden folgten Leipzig und Berlin, ab 1947 München. Da war überall und jederzeit was los. Auf Straßen und Plätzen. In Büros und Redaktionsstuben. Kästner, als Lehrer ausgebildet, aber nicht dazu berufen, war Teil dieses umtriebigen, aufreibenden Lebens. Ein Unruhegeist. Einer, der sich den Erfolg erkämpfte. Mit Gedichten, Erzählungen, journalistischen Arbeiten. Immer auf den Spuren von Kurt Tucholsky. Kästner, dessen Werke 1933 von den Nazis verbrannt wurden. Kästner, der dennoch nicht Hitler-Deutschland den Rücken kehrte. Der sich durchschlug, auf Pseudonyme auswich und Gefahr lief, sich selbst zu verlieren …
Die Kuratoren Karolina Kühn und Laura Mokrohs wurden für ihre Präsentations-Ideen trefflich unterstützt von Florian Wenz und Costanza Puglisi. Die Gestalter der Ausstellung machen`s dem Besucher nicht leicht, sich, wenn so gar nicht vorinformiert, auf Anhieb zurechtzufinden. Geht er um die „lebendigen“ Flimmer-Kuben herum, findet er, worein er sich, eine ganze Stunde oder länger, vertiefen kann: chronologisch nach Lebensstationen geordnete Halte-Punkte. Neben papierenen und fotografischen auch Ton-Dokumente. Briefe, Notizen, Korrespondenzen, Reliquien, Erstausgaben – der bibliophile Insider erlebt Wiedersehensfreude. Auch für das junge Volk gibt`s viel original Kästner`sches zum Lachen und Rätseln. Der für E. K. bedeutsame, 80 Jahre alte Schweizer Atrium-Verlag gab manch grafische Schätze aus der Feder von Erich Ohser oder Walter Trier dafür her.
Das Literaturhaus-Versprechen, Neues über Erich Kästner, den Identität-Sucher, Schreib-Wüterich, Medien-Autor, nicht nur ein, sondern mehrere Doppelleben Führenden aufzudecken, wird da und dort eingelöst, nachdem man den Nachlass, den das Deutsche Literaturarchiv Marbach hütet, vollständig erschlossen hat und an Fotos herangekommen ist, die bisher öffentlich unzugänglich waren. Die wichtigste neue Sicht auf den Erfolgsautor E. K.: Er zog sich als Schriftsteller, bei aller Selbstinszenierung, entschieden öfter in Zweifel als bisher bekannt war. Und er war ein, pardon, Womanizer. Lockere Bindungen an Frauen, auch in der Gleichzeitigkeit, gehörten bisher nicht zum E. K.-Image. Oder wurden hinter vorgehaltener Hand weitergegeben.
Der widersprüchliche Erich Kästner kann jetzt in München neu entdeckt werden. Das „Literaturhaus München“-Heft Nr. 7 ist ihm gewidmet: 58 Seiten, illustriert, 6 Euro. Das breit angelegte, vielseitigeBegleitprogramm wird laufend ergänzt (s. www.literaturhaus.muenchen.de).Hans Gärtner
Foto (Hans Gärtner)
Erich Kästner und sein Publikum auf dem Titelblatt von „Ein Mann gibt Auskunft“ (Atrium Verlag).
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