Es schwingt natürlich viel Hoffnung mit, wenn Sozialdemokraten und nicht wenige publizistische Beobachter beim Blick auf den 24. September 2017 gerne an das Wahljahr 1998 erinnern. Damals hätten die Deutschen vom „ewigen“ Helmut Kohl einfach genug gehabt. Das habe den Weg für die Kanzlerschaft Gerhard Schröders geebnet. So werde es 2017 auch sein: Angela Merkel werde abgewählt und Martin Schulz ihr Nachfolger.
Der Schulz-Hype ist nach dem eher mageren SPD-Ergebnis an der Saar inzwischen abgeflacht. SPD-Funktionäre hatten dem Volk vormachen wollen, der Trump aus Würselen könne über Wasser gehen. Jetzt ist der „Gottkanzler“ in der Saar richtig nass geworden. Gleichwohl: Mit Schulz hat die wie gelähmt wirkende SPD neuen Schwung bekommen. Hatte die CDU/CSU bei der Sonntagsfrage zu Beginn des Jahres noch rund 10 Punkte vor der SPD gelegen, so haben die Sozialdemokaten inzwischen zur Union aufgeschlossen. Ende März lagen beide Parteien gleichauf bei 32 oder 33 Prozent. Und eine rot-rot-grüne Mehrheit ist in allen Umfragen in greifbarer Nähe.
Die Ausgangslage im März 1998
Schon zu Beginn des Wahljahres 1998 war die Union in der Defensive. Der „Kanzler der Einheit“ galt ungeachtet seiner Verdienste als verbraucht, die Öffentlichkeit hatte ihn sozusagen satt. Die wirtschaftliche Lage war mit weit über 4 Millionen Arbeitslosen alles andere als rosig. Zudem wurde der CDU/FDP-Koalition ein Reform- und Modernisierungsstau vorgehalten. Dort, wo sie Reformen angepackt hatte wie bei der Rente und in der Gesundheitspolitik, wurden deren Ergebnisse als „sozial ungerecht“ kritisiert.
Außenpolitisch hatten Kohl und die CDU/FDP-Koalition 1997 große europapolitische Erfolge zu verzeichnen. Seinem Ziel, die Einheit Europas durch den Euro unumkehrbar machen, war Kohl greifbar nahe. Das nutzte ihm allerdings nicht viel, weil die Deutschen bei Bundestagswahlen sich in erster Linie von innenpolitischen Motiven leiten lassen. Das war nur einmal anders: bei der „Willy“-Wahl von 1972, als die Ostpolitik Brandts zur Abstimmung stand.
Besonders nachteilig: Die Union ging keineswegs geschlossen in den Wahlkampf. Nicht wenige führende CDU-Politiker machten keinen Hehl aus ihrer Meinung, Wolfgang Schäuble wäre der aussichtsreichere Kandidat gewesen. Der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ließ ebenfalls gerne durchblicken, dass Kohl den Stab besser an ihn übergeben hätte.
Demgegenüber stand eine SPD, die geschlossen wirkte wie lange nicht. Nachdem Gerhard Schröder bei der niedersächsischen Landtagswahl im März die absolute Mehrheit errungen hatte, rief ihn sein ewiger Rivale Oskar Lafontaine zum Kanzlerkandidaten aus. Schröder lagen nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch große Teile der Medien zu Füßen. Das schlug sich in den Umfragen nieder. Ende März wollten 42,7 Prozent SPD wählen. Die CDU/CSU fiel dagegen auf 32,1. Ihren Vorsprung gab die SPD nicht mehr ab. Zudem ergänzten sich Schröder und Lafontaine im Wahlkampf bestens: Ersterer warb mit dem Thema Innovation erfolgreich um die „neue Mitte“, Letzterer hielt mit dem Ruf nach Gerechtigkeit die Stammklientel bei der Stange.
Die Ausgangslage im März 2017
Die wirtschaftliche Lage ist heute ungleich besser als zu Beginn des Wahljahres 1998: Ein Beschäftigungsrekord jagt den anderen, die Löhne steigen wieder, die Staatsfinanzen sind in Ordnung. Was objektiv für die Union spricht, könnte sich aber als Handikap erweisen: In einer wirtschaftlich guten Situation neigen Menschen eher zu Experimenten als in unsicheren Zeiten.
Bei Angela Merkel sind zudem Abnutzungserscheinungen unverkennbar. Ihre 12 Jahre gelten in unserer schnelllebigen Zeit als genauso lang und bleiern wie Kohls 16 Jahre; sie wirkt verbraucht. Zudem hat sie ihren Nimbus als kühle und pragmatische Sachwalterin deutscher Interessen in der Flüchtlingskrise verloren. Die Angriffe aus der CSU haben überdies das Gefühl der Merkel-Dämmerung verstärkt. Die öffentliche Zustimmung zu ihrer Flüchtlingspolitik war ein Strohfeuer. Die meisten, die ihr damals zustimmten, haben nie CDU gewählt und werden es auch 2017 nicht tun. Die Kanzlerin selbst wirkt seit ihrem Ja zur vierten Kandidatur keineswegs optimistisch oder gar angriffslustig. Es scheint eher so, als verrichte sie ihre Aufgabe mehr aus einem Pflichtgefühl heraus als mit Begeisterung.
Der Absturz in den Umfragen von 42 Prozent im September 2015 auf inzwischen 32 oder 33 Prozent verunsichert die Union, ebenso die Tatsache, dass Merkel ihren Spitzenplatz in den Umfragen längst verloren hat. Zudem hat sich die Lage für die Union dadurch verschlechtert, dass mit der AfD eine neue Partei rechts von ihr entstanden ist. Sie ist unter anderem ein Sammelbecken für Konservative und Bürgerliche, die der „sozialdemokratisierten“ CDU längst den Rücken gekehrt hatten und sich an den völkischen und rechtsradikalen Tönen in der AfD nicht stören. „Merkel muss weg“ ist für diese Wähler das Wichtigste.
„Weiter so“ versus „Zeit für Gerechtigkeit“
Wer lange regiert, wuchert mit den Pfunden des bisher Erreichten und der eigenen Erfahrung. Das war 1998 so, das wird 2017 nicht anders sein. Schröders „Innovation und Gerechtigkeit“ klang fortschrittlicher als das eher bräsige „Weiter so“ der Union. Schröder war die unverbrauchte Alternative zum ewigen Kohl. Das ist jetzt ähnlich: Schulz, unbelastet von jeglicher großkoalitionärer Regierungsverantwortung, verspricht einen neuen Anfang, ja einen Aufbruch.
Schulz‘ Vorteil ist nicht nur sein Status als „the new kid on the block“. Er hat vor allem ein Thema: Gerechtigkeit. Wie immer man dazu stehen mag, dass er Deutschland als einig Jammertal karikiert, in dem viele Menschen aus Angst vor dem Morgen nicht schlafen können: Schulz hat die SPD als Partei der Kümmerer positioniert und damit wieder auf Augenhöhe zur Union gebracht. Keine geringe Leistung, wenn man sich an die 22 Prozent-Ausgangslage der SPD zu Beginn des Jahres erinnert.
Mit „Zeit für Gerechtigkeit“ ist die SPD auch für Wähler wieder attraktiv geworden, die zur Linken abgewandert sind, Und weil es beim Thema Gerechtigkeit stets auch um „die da oben“ geht, finden sogar Wutwähler der AfD die SPD plötzlich wählbar. Wer „Merkel muss weg“ ruft, der kann das mit einer Stimme für die SPD sogar eher erreichen als mit einer für die AfD.
Die CDU/CSU dagegen hat (noch) kein zündendes Thema. Als „Flüchtlingskanzlerin“ kann Merkel nicht mehr punkten. Für das Thema Sicherheit, stets eine Unionsdomäne, fehlt ein Politiker, der „Recht und Ordnung“ auch glaubwürdig verkörpert. Innenminister Thomas De Maizière ist mehr Verwalter und Beamter, weniger ein Sheriff. Die Warnung vor Rot-Rot-Grün als zentrales Argument für eine vierte Amtszeit Merkels dürfte jedenfalls nicht ausreichen.
Auch das erinnert stark an 1998. Damals klagte Schäuble: „Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass wir in erster Linie gegen Rot-Grün marschieren. Wir müssen den Eindruck erwecken, wir marschieren in erster Linie für die Zukunft.“ Das könnte er heute wörtlich wiederholen. Wobei man trefflich darüber streiten kann, ob man die derzeitigen Aktivitäten der Bundes-CDU überhaupt als Marschieren bezeichnen kann.
Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich
Ja, es gibt zweifellos auffällige Parallelen zwischen 1998 und 2017. Doch nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Außenpolitisch ist die Lage zum Beispiel ganz anders als vor 19 Jahren. Europas Zusammenhalt ist gefährdet, die Euro-Krise keineswegs ausgestanden. In Washington wie in Moskau haben wir es mit zwei völlig unberechenbaren Politikern zu tun. Trump fehlt jedes Gespür für die Bedeutung der transatlantischen Zusammenarbeit und er spielt mit dem Gedanken an einen Handelskrieg. Putin wiederum scheint fest entschlossen zu sein, von der alten Sowjetunion so viel wie irgend möglich wiederherzustellen – auch um den Preis völkerrechtswidriger Annektionen wie auf der Krim. Unter Wahlkampfaspekten könnte das für die CDU/CSU eher von Vorteil sein: Krisenzeiten sind Kanzlerzeiten. Aber noch haben wir es nicht mit einer spürbaren Krisensituation zu tun.
Schlüsse aus der 1998er-Perspektive könnten sich noch aus einem anderen Grund als vorschnell erweisen. Von den 42,7 Prozent für die SPD im März blieben 40,9 Prozent, aus den 32,1 der CDU/CSU wurden noch 35,1 Prozent. Ähnlich war es bei der Wahl 2005. Die CDU/CSU lag damals im Juni mit 47 Prozent fast uneinholbar vor der SPD mit 27 Prozent. Am Ende retteten sich Merkel und die CDU/CSU nur knapp mit 35 zu 34 Prozent ins Ziel.
Inzwischen sind die Wähler noch mobiler als 1998 oder 2005. Immer mehr Bürger entscheiden sich erst unmittelbar vor der Wahl, wem sie ihre Stimme geben. Außerdem spielt die Frage der Mobilisierung eine immer wichtigere Rolle, wie auch der Wahlkampf an der Saar gezeigt hat. Bei der Schröder-Wahl 1998 betrug die Wahlbeteiligung 82 Prozent; 2013 waren es dagegen nur 72 Prozent. Bei all diesen Unwägbarkeiten bekommen alte Fußball-Weisheiten politisch Gewicht: Das Spiel dauert 90 Minuten. Und: Entscheidend ist auf’m Platz.
Veröffentlicht auf www.tichyseinblick.de
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