Der Todesschuss mit der „glatten, braunen Geliebten“ – Zum Suizid des Schriftstellers Ernest Hemingway

kuba mariel havanna der alte mann und das meer, Quelle: BarbeeAnne, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Der Suizid von Ernest Hemingway verdient unter allen Schriftsteller-Selbstmorden eine besondere Beachtung. Jeder Suizid ist etwas Einmaliges und Besonderes, egal ob man berühmt ist oder nicht. Und wenn der Selbstmörder ein berühmter und erfolgreicher Schriftsteller ist, dann hat er meist über viele Jahre aufschlussreiche Spuren hinterlassen, die auf den späteren Suizid hindeuten oder ihn verstehbar erscheinen lassen. Jean Amery, selbst ein bekannter Schriftsteller, der „Hand an sich legte“, drückte dies treffend mit den folgenden Worten aus: „Selbstmörder ist man lange bevor man sich umbringt.“ Dieses Motto könnte auch für Ernest Hemingway passen.

Zwei Besonderheiten ragen beim Suizid von Hemingway deutlich hervor: er war der erste Literaturnobelpreisträger in der Geschichte, der sich umgebracht hat. Und in seiner Familie gibt es fünf Suizide – sehr vergleichbar mit der Familie von Thomas Mann, in der sich auch fünf Familienmitglieder umbrachten (vgl. Csef  2018).  Als Ernest Hemingway 29 Jahre alt war, suizidierte sich sein Vater Clarence Edmonds Hemingway, der in Oak Park als Landarzt tätig war. Nach dem Suizid von Ernest Hemingway im Jahr 1961 suizidierten sich auch seine jüngere Schwester Ursula (fünf Jahre später, 1966) und sein Bruder Leicester (im Jahr 1982).  Den fünften Suizid  der Familie Hemingway beging seine Enkelin Margaux im Jahr 1996. Zufall oder Fügung – oder doch Genetik des Suizids?

Kurzes biographisches Porträt

Ernest Hemingway wurde am 21. Juli 1899 in Oak Park im US-Staat Illinois geboren. Sein Vater war Landarzt, seine Mutter war Opernsängerin und stammte aus einer wohlhabenden englischen Kaufmannsfamilie. Ernest war das zweite von sechs Kindern der Arztfamilie. Die Familie Hemingway war in Oak Park sehr angesehen und zählte zu den Honoratioren der Stadt. Der Großvater väterlicherseits war ein mit Orden ausgezeichneter Veteran des Sezessionskrieges. Der Vater wurde als beliebter Arzt im Jahr 1911 zum Präsidenten der Medizinischen Gesellschaft von Oak Park gewählt. Er hat sich mit 57 Jahren umgebracht. Ernest Hemingway hat nicht studiert, sondern wurde mit 18 Jahren Journalist in Kansas City, jedoch nur kurze Zeit, denn bereits im Frühjahr 1918 meldete er sich als Freiwilliger für den Kriegsdienst und war Fahrer des Roten Kreuzes an der italienischen Front. In der Piave-Schlacht in Fossalta di Piave in Venetien wurde er durch eine Granate schwer verwundet. Nach einer Operation lag er mehrere Monate in einem Krankenhaus in Mailand. Dort verliebte er sich in eine amerikanische Krankenschwester. Diese Liebesgeschichte beschrieb er im Jahr 1929 in dem bekannt gewordenen Roman „In einem anderen Land“. Nach seiner Rückkehr war er in Amerika wieder einige Jahre als Reporter tätig. Im Jahr 1921 heiratete er Hadley Richardson und zog mit ihr nach Paris. Nach zwei Jahren Ehe wurde der Sohn John geboren.

Die Ehe hielt nicht lange und wurde 1927 geschieden

Die Ehe hielt nicht lange und wurde 1927 geschieden. Im selben Jahr heiratete er seine zweite Frau Pauline Pfeiffer. Die Zeit in Paris war für Ernest Hemingway hinsichtlich seiner Schriftstellerkarriere sehr prägend. Zu dieser Zeit lebten in Paris sehr renommierte amerikanische Schriftsteller, mit denen er sich befreundete und von denen er viele wertvolle Anregungen erhielt. Vor allem F. Scott Fitzgerald, Getrude Stein und Ezra Pound waren für ihn die wichtigsten Pariser Weggefährten. Mit der zweiten Frau Pauline hatte er zwei Kinder. Von 1939 bis1960 lebte Ernest Hemingway mit seiner Familie überwiegend auf Kuba. Er hatte jedoch in dieser Zeit zahlreiche Aufenthalte in anderen Ländern. Von 1933 an war er als Großwildjäger auf Safaris in Afrika. Mit seinem mehr als zehn Meter langen Fischerboot „Pilar“ machte der lange Segeltörns durch die Karibik und zeigte sich auf zahlreichen Fotos als erfolgreicher Hochseefischer mit riesigen gefangenen Fischen. Im Zweiten Weltkrieg war er als Kriegsreporter in Europa. 1944 erlebte er in Paris die Befreiung von den deutschen Besatzern. Im Jahr 1940 heiratete Hemingway zum dritten Mal. Seine vierte Ehe begann im März 1946.

Von Preisen überhäuft

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt er die größtmöglichen Literaturpreise für einen amerikanischen Schriftsteller: 1953 den Pulitzer-Preis und 1954 den Literaturnobelpreis. Ebenfalls im Jahr 1954 war er zu einer Safari in Uganda und überlebte dort zwei schwere Flugzeugabstürze. Je älter Hemingway wurde, desto mehr überschatteten Depressionen und Alkoholexzesse seine psychische Befindlichkeit. In den Jahren 1960 und 1961 hatte er mehrere längere stationäre Psychiatrie-Aufenthalte, darunter zwei Aufenthalte in der Mayo Clinic in Minnesota. Dort wurden Elektrokrampftherapien durchgeführt, die seinen Zustand eher verschlechterten als verbesserten. Abgemagert, abgestumpft und vorgealtert wurde er wieder entlassen. Zwei Tage nach seiner Entlassung erschoss er sich am 2. Juli 1961 mit seiner Schrotflinte. Die von ihm genannte „glatte, braune Geliebte“ hatte ihm ihren letzten Dienst erwiesen.

Literarisches Oeuvre

Ernest Hemingway ist vor allem durch seine Romane und Novellen berühmt geworden. Lyrik und Essays waren nicht sein Metier. Den ersten großen Roman schrieb er nach dem Ersten Weltkrieg in Spanien. Er ist 1926 erschienen, trägt den Titel „Fiesta“ und handelt vom Stierkampf, von seiner unglücklichen Liebe im Kriegslazarett und von der Nachkriegsgeneration in Europa. Die mit ihm befreundete Getrude Stein hatte den Begriff „lost generation“ für diese junge Generation gewählt. Die „verlorene Generation“ hat in den meisten europäischen Staaten in der Kultur und im sozialen Gefüge vieles durch den Krieg verloren und war auf der Suche nach einer neuen Identität. „Fiesta“ zählt auch heute noch zu den wichtigsten Romanen Hemingways und wird in der Liste der 100 besten englischsprachigen Romane in der ersten Hälfte genannt. Bereits drei Jahre später erschien als weiterer Erfolgsroman „In einem anderen Land“, in dem er nochmals und ausführlicher seine Kriegserfahrungen und die Liebesgeschichte im Lazarett erzählt. Der Roman „Wem die Stunde schlägt“ (1940) und die Novelle „Der alte Mann und das Meer“ (1952) sind die beiden ausgezeichneten Spätwerke, für die ihm der Pulitzer-Preis (1953) und der Literaturnobelpreis (1954) verliehen wurden. Danach ging es ihm wie vielen anderen Literaturnobelpreisträgern: sie erlitten eine mehr oder weniger lange Schaffenskrise. Ernest Hemingway verfiel zunehmend seiner Alkoholsucht und in Depressionen, die zu seinem Suizid führten. Bis dahin hat er kein nennenswertes Werk mehr geschrieben.

Ein neuer Schreibstil – das Eisberg-Prinzip

Bereits in seiner Pariser Zeit erhielt Ernest Hemingway durch Getrude Stein, seinen Freund F. Scott Fitzgerald und Ezra Pound Anregungen zu einem schnörkellosen, klaren, wenig pathetischen Schreibstil mit kurzen Sätzen. Er kultivierte immer mehr die Kunst des Weglassens. In Kommunikationstheorien von verschiedenen Psychologen wurde damals das Eisberg-Prinzip diskutiert, das auch bei Sigmund Freud bereits auftauchte. Freud verwendete die Eisberg-Metapher für seine Bewusstseinstheorie: 20 Prozent der Kommunikation seien bewusst, 80 Prozent unbewusst. Im Eisberg-Prinzip von Hemingway beabsichtigte dieser als Schriftsteller, durch Weglassen von emotionalen, atmosphärischen oder beschreibenden Inhalten den Leser dazu zu animieren, das Weggelassene oder Fehlende selbst zu konstruieren. Seine kurzen und knappen Sätze regten den Leser zu gedanklicher Eigenaktivität an. Ganze Generationen der nach Hemingway folgenden Schriftsteller waren von diesem Schreibstil fasziniert. Der deutsche Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll lobte und feierte diesen Stil. Unter den zeitgenössischen deutschen Schriftstellern sind vor allem Clemens Meyer und Juli Zeh von diesem Schreibmodus beeinflusst.

Die Krankheiten und der Suizid

Ernest Hemingway litt über viele Jahre unter Alkoholsucht und Depressionen. Von manchen Psychiatern wurde seine Depressionsform als bipolare Störung oder manisch-depressive Erkrankung eingeschätzt. Diese hat im Vergleich zu anderen Depressionsformen ein relativ hohes genetisches Potential. Die Häufung von Depressionen und Suiziden in der Familie Hemingway spricht für diese Hypothese. Der Psychiater Andrew Farah geht in seinem Buch „Hemingway’s Brain“ davon aus, dass dieser durch kumulative und häufige erworbene Hirnschädigungen das Krankheitsbild einer „chronisch traumatischen Encephalopathie“ entwickelte. Hemingway erlitt Kriegstraumata, überlebte zwei Flugzeugabstürze, hatte mehrere schwere Autounfälle und zusätzliche Gehirnerschütterungen. Hinzu kamen sein Lieblingssport Boxen und der Alkoholabusus. Die Summation dieser Vorschädigungen ist für die Funktion und Stabiliät der Gehirnvorgänge sicherlich sehr ungünstig. Vermutlich waren die zusätzlichen Elektroschocks in der Psychiatrie für dieses stark vorgeschädigte Gehirn einfach zu viel (Martin 2006). Die später zur Verfügung stehenden Antidepressiva wie das Imipramin gab es zu Hemingways Zeiten noch nicht.

Zwei Gesichter – die beiden Seiten der Persönlichkeit von Ernest Hemingway

Liest man die Biografien oder Charakterisierungen von Hemingway, so fallen zwei extreme Bilder oder Gegensätze auf. Vordergründig war er ein großer, starker und kräftiger Mann, ein Macho-Typ mit Heldenposen. Er ließ sich gerne mit den Trophäen seiner Hochseefischerei oder Großwildjagden fotografieren. Er zeigte sich abenteuerlustig, neugierig und risikofreudig – immer aus auf „sensation seeking“. Aggression und Gewalt schreckten ihn nicht ab wie andere Menschen – sie zogen ihn eher magisch an. In beide Weltkriege zog er als Freiwilliger, er liebte Stierkampf und Boxen. Sein Macho-Gehabe zeigte er gerne auch dem weiblichen Geschlecht gegenüber und galt deshalb als Frauenheld. Schließlich war er viermal verheiratet.

Der Sensible

Die andere Seite von Ernest Hemingway war eine weiche und empfindsame Wesensart. In seiner preisgekrönten Novelle „Der alte Mann und das Meer“ geht es beim Kampf mit dem Fisch um die Würde des Unterliegens und die Bereitschaft zum Tod. In seinen Werken tauchen oft Stierkämpfe auf. Dabei wird eine melancholische Antizipation des Todes spürbar. Ihm ging es nicht um das brutale Siegen des Toreros, sondern um den leidenschaftlichen Kampf, der einen toten Körper hinterlässt. Sein posthum erschienener Roman „Paris – ein Fest fürs Leben“ wurde von dem Literaturwissenschaftler Richard Kämmerlings (2011) als „heimliche Bitte um Vergebung“ gedeutet. Auch das passt zu Hemingway: Reue, Schuldgefühle, Angst, Scham und Bitte um Vergebung.

Diese beiden sehr konträr erscheinenden Facetten seiner Persönlichkeit passen in der psychiatrischen Phänomenologie zum Grundzug des Bipolaren und der Manisch-depressiven Erkrankungen. Im „Deutschen Ärzteblatt“ wurde er von Anne Lederer als „ein Mann der Extreme“ treffend beschrieben.

Literatur

Amery, Jean (1976) Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Klett, Stuttgart

Csef, Herbert (2018), Thomas Mann und die Suizide seiner beiden Söhne Klaus und Michael. Suizidprophylaxe 45, Heft 4, S. 137- 141

Farah, Andrew (2017) Hemmingway’s Brain. University of South Carolina Press, Illustrated Edition.

Hemingway, Ernest (1926) Fiesta.

Hemingway, Ernest (1929) In einem andern Land.

Hemingway, Ernest (1940) Wem die Stunde schlägt.

Hemingway, Ernest (1952) Der alte Mann und das Meer.

Hemingway, Ernest (1965)  Paris – ein Fest fürs Leben.

Kämmerlings, Richard (2011) Hemingways Gemeinheiten kurz vor seinem Selbstmord. Die Welt vom 3.7.2011

Kleeberg, Michael (1999) Der alte Mann und nichts mehr. Die Welt vom 17.7.1999

Kopetzky, Steffen (2021) Ernest Hemingway. Auf Leben und Tod. Spiegel vom 2.7.2021

Lederer Anne (2000) Ernest Hemingway. Ein Mann der Extreme. Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 1.2, 10. Januar 2000, S. A50 – A51

Martin, Christopher (2006) Ernest Hemingway. A Psychological Autopsy of a Suicide. Psychiatry 69 (2006), S. 351-361

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.