„Auf den Tod nahmen wir keine Rücksicht. Wir kannten ihn nicht und dachten auch nicht an ihn, bis er in jenem Sommer in unser Leben trat. (…) Als die entsetzliche Geschichte (…) begann, rannten wir drei mit Leidenschaft etwas sehr Unschuldigem entgegen – und spürten die unheimlichen Verheißungen des Lebens in den Fingerspitzen (…) ohne zu ahnen, dass sich im Universum dieses Sommers bereits schwarze Fäden aufeinander zu bewegten, um sich zu verschlingen.“ Bereits in den ersten Zeilen des eindrücklichen Buches von Rax Rinnekangas legt sich eine düstere Vorahnung über den Text, der 1991 das erste Mal in Finnland erschien und im Jahr darauf mit dem Finnischen Staatspreis ausgezeichnet wurde. Selbst der Untertitel – „Eine Sommergeschichte“ – und der lockere und leichte Ton des ersten Kapitels – „Freude“ – kann darüber nicht hinwegtäuschen. Das Schicksal schlägt über den drei Hauptfiguren, die an der Schwelle vom Übergang aus der Kindheit in die Adoleszenz stehen, ein dunkel gewebtes Tuch.
Denkt man über den Begriff Schicksal nach, stellt sich die Frage, ob es einen vorgezeichneten Plan gibt und ob jedes Ereignis im Leben sich nach diesem Plan richtet. Ist unser Leben vorgezeichnet? Wenn ja, auf welcher Grundlage und von wem? Sollte es von einer übernatürlichen Kraft festgelegt wird, wie wird man ihm gerecht, wenn er den einen glücklich macht, den anderen jedoch leiden lässt? Werden die Ereignisse jedoch nicht vom Schicksal, sondern von den Handlungen des Menschen bestimmt, sind es dann die Handlungen der Vergangenheit welche die Handlungen der Gegenwart hervorbringen? Und wenn dem so ist, in welchem Maße ist der Mensch dafür verantwortlich? Diese Fragen tragen uns zu den Tiefen der Rätsel des Lebens. Wenn sie denn einmal beantwortet sind, ist ein großes philosophisches Problem gelöst….
Jedes Jahr verbringt der 13-jähriger Ich-Erzähler Lauri seine Sommerferien in dem finnischen Dorf Latvala. Dort im Haus seiner streng gläubigen, frommen Verwandten, Tante Marjaana und Onkel Eino, sind es der gleichaltrige Leo und seine ein Jahr ältere Schwester Sonja, mit denen er scheinbar schwerelos und unbeschwert seine fliehende Kindheit auslebt. „Während jener langen Sommerwochen, weit weg vom Zuhause in der Stadt, sog ich die Krümel des Alltags, die Bräuche und Stimmungen von Latvala auf. (…) Was war die Luft in solchen Stunden von einem Gefühl der Zusammengehörigkeit erfüllt! (…) Wenn wir unter uns waren, wechselten wir allerdings auf eine vollkommen andere Bewusstseinsebene über. Wir begaben uns in eine magische Welt, deren Lichter und Schatten man vielleicht nur als Kind erkennen kann.“
Als „Schöpferin dieses Welbildes“ fungiert unzweifelhaft die willensstarke, stolze und größtenteils auf sich selbst bezogenen Sonja. Sie übernimmt bei ihren Spielereien das Kommando und bestimmt Inhalt und sämtliche Formen. „Ihr waren auch das Tempo und der Rhythmus zu verdanken, mit denen wir uns im Mondschein unseres Geistes vorwärtsbewegten.“ Ihr sie anbetender Bruder und auch Lauri folgen willig. „Sonja war für Leo und mich kein sterblicher Mensch. Sie bestand aus Wunderenergie, die uns das Gefühl verlieh, mehr zu sein, als wir waren, und die Art und Weise, wie Sonja uns und sich selbst behandelte, schuf den Glauben, dass wir drei tatsächlich in einer Welt lebten, in der es neben uns keine weiteren Menschen gab.“ Doch dieses Mal ist alles anders. „Sonja führte uns in eine Finsternis, die faszinierend und unbekannt war und in der es glühte. (…) Unsichtbare, von unten her wachsende Flammen leckten an dem magischen Stein, auf dem wir schwankten, balancierten, uns aufrecht zu halten versuchten.“ Das schöne Mädchen verwickelt die zwei Jungen in ein erotisches Tete-a-tete mit tödlichem Ausgang. „Sonja hatte ihren Bruder Leo und mich zum magischen Fliegen gebracht, und das konnte der Tod nicht ertragen.“ Lauris Großvater, der alte Mooses Kallio, ein von der Dorfbevölkerung gemiedener, aber geduldeter Außenseiter, der nach dem Tod seiner Frau vier Kinder allein zurücklässt, Fremdenlegionär wird und nach 14 Jahren zurückkehrt, als wäre nichts gewesen, spielt dabei eine verhängnisvolle Rolle. „Er repräsentierte das menschliche Schicksal in einer Form, die wir als Kinder nicht verstanden.“
In einer bildhaften, stimmungsvollen und klaren Sprache, die von Stefan Moster flüssig und gut lesbar übersetzt wurde, offenbart der unglaublich vielseitige Rax Rinnekangas, er ist Schriftsteller, Filmemacher, Fotograf und Visual Artist, ein „schicksalhaftes“ Kleinod, das nach 23 Jahren endlich auch seinen Einzug im deutschsprachigen Raum hat. Neben der Frage nach einer uns unvermeidbaren, unweigerlichen Bestimmung, spricht er vor allem das Finden eigener Identitäten sowie das Entdecken neuer, möglicherweise widersprüchlicher Wertvorstellungen von Heranwachsenden an. Denn seine drei Protagonisten verlassen den Pfad der harmlosen Schwärmereien und Launenhaftigkeiten. Sie schlagen einen gefahrvolleren Weg ein, und es gibt niemanden, der sie davon abhält und ihre Vorstellung und Perspektiven von Augenblicken, die das eigene Leben mitunter in ein „Davor“ und ein „Danach“ einteilen können, korrigiert. „Erst viel später verstand ich, dass der Glaube von Onkel Eino und Tante Marjaana wie ein Schleier war, hinter dem Sonja und Leo sich zu dem entwickeln konnten, was sie waren. Die Gläubigen hatten vor lauter Glauben ihre eigenen Kinder nicht gesehen.“
Ein nachhaltiges Buch!
Rax Rinnekangas
Der Mond flieht
Eine Sommergeschichte
Titel der Originalausgabe: Kuu Kaarka
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
Graf Verlag (Juni 2014)
160 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3862200345
ISBN-13: 978-3862200344
Preis: 16,99 EURO
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.