Der Tod eines Dichters und Europa – Ist Europa ein ökonomischer Club?

Die fragile Liebe des Deutschen zu Europa wird zur Zeit auf eine harte Probe gestellt. Schuld daran sind so periphere Länder wie Griechenland, Irland, Portugal, Spanien. Gehören sie überhaupt zu Europa? – das fragt sich der Deutsche. Schauen wir uns beispielhaft Spanien an. Der Spanier von heute arbeitet zu wenig und verschleudert EU-Gelder. Früher hat er arme Indios massakriert und fleißige Holländer geknechtet. Eigentlich gehört sein Land zu Arabien. Vor über siebzig Jahren aber hat er für alles gebüßt: Er hat seinesgleichen umgebracht und ist von seinesgleichen gemordet worden. Einer der Erschossenen war ein „subtiler Andalusier“, wie sein Freund, der Filmregisseur Luis Buñuel ihn nannte. Es gab viele Gründe, diesen Andalusier zu töten: Er war gesellschaftskritisch, schwul, ein Dichter und wehrlos. Er war vollkommen unschuldig. Aber das waren damals viele von denen, die starben.
Buñuel: „In Granada hatte er sich zu einem Mitglied der Falange geflüchtet, […] dessen Familie mit der seinen befreundet war. Da glaubte er sich in Sicherheit. Männer – von welcher Partei, ist unerheblich – nahmen ihn eines Nachts fest, und zusammen mit ein paar Arbeitern musste er auf einen Lastwagen steigen. [Er] hatte große Angst vor dem Leiden und vor dem Tod. Ich kann mir vorstellen, was er empfunden haben muss – mitten in der Nacht, auf einem Lastwagen, der ihn zu einem Olivenhain fuhr, wo man ihn niedergemacht hat. Der Gedanke daran lässt mich nicht los.“
Was war das für ein Mann, der vor ziemlich genau 75 Jahren ermordet wurde? Wieder Buñuel: „Von allen Lebewesen, denen ich begegnet bin, steht [er] für mich am höchsten. Ich spreche nicht von seinen Stücken und seinen Gedichten, ich spreche von ihm. Er selbst war das Meisterwerk. Es fällt mir schwer, mir jemanden vorzustellen, der ihm vergleichbar wäre. […] Er war immer unwiderstehlich. Was er auch vorlas, immer kam Schönheit über seine Lippen. Er besaß Leidenschaft, Lebenslust, Jugend. Er war wie eine Flamme.“ In der Autobiografie Pablo Nerudas gibt es eine heitere Stelle, die diesen Charakterzug eines reinen Toren hervorhebt, diese Naivität des Ästheten. Neruda, der Frauenheld, ist mit dem Andalusier und einer willigen Dame nächtens unterwegs. Sie kommen an einen unbewohnten Turm und gehen nach oben. Neruda wittert seinen Chance und will keine Zeit verlieren. Um seinen männlichen Begleiter loszuwerden, bittet er ihn, den Aufpasser zu spielen. Der ist so aufgeregt, dass er beim Hinabgehen auf der Treppe stürzt und wehklagend liegen bleibt. Aus dem Schäferstündchen wird nichts. – So gefährlich war also der Feind der Falange.
Seine Aktualität? Wer schon einmal Bühnenstücke dieses spanischen Dichters gesehen hat, in denen oft kein einziger Mann auftaucht, begreift sofort, wie schlicht überflüssig eine Menge an Literatur von Leuten wie Jelinek und Ähnlichen ist. Man hat das Gefühl, nach so viel Kopien das Original zu sehen. „Bernarda Albas Haus“ (1936) zeigt den Albtraum von Frauenleben auf dem andalusischen Dorfe, noch am Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Atavismus einer rigiden, menschenfeindlichen Tradition, die aber (wie aus dem Wunsch heraus, dass die Kinder es genauso schlecht haben sollen wie man selbst) von der Witwe und Mutter von fünf Töchtern geradezu sadomasochistisch akzeptiert und durchgesetzt wird. (Man kennt diese Einstellung heute von den islamischen Müttern in Ägypten, die darauf bestehen, dass auch ihre Töchter beschnitten werden.) Der Autor zeigt die Strukturen (auch in weiteren Stücken wie „Yerma“ und „Bluthochzeit“) so erschreckend präzise, dass die feministische Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als gedankliches Plagiat erscheinen muss. Was konnte sie denn diesem grandiosen Stück Literatur noch hinzufügen – außer Details? Eigentlich war schon alles gesagt. Aber natürlich, es war ein Mann, der es gesagt hat – unverzeihlich. Kein Wunder, dass seine Stücke eher selten gespielt werden. Nicht einmal seine Homosexualität rettet ihn.

Das „Reiterlied“ Federico García Lorcas, denn um ihn geht es, ist ein Muster an Ökonomie. Stute, Mond, Oliven, der Weg, der Tod. Mehr nicht. Und Córdoba, der Sehnsuchtsort, den man nie erreicht. Dieser Dichter ist kein Schwätzer. Hier ist kein Wort zuviel.

Córdoba.
Einsam und fern.

Nachtschwarze Stute, Diskus
Des Monds, Oliven im Sacke
Am Sattel. Wohl weiß ich die Wege,
Doch Córdoba sehe ich nie.

Durch Wind, durch die Ebene,
Nachtschwarze Stute, purpurner
Mond. Von Córdobas Türmen
Starrt mich stechend der Tod an.

Ach, welch ein endloser Weg!
Ach, meine wackere Stute!
Ach, mich erwartet der Tod,
Eh ich nach Córdoba komme!

Córdoba.
Einsam und fern.

Vielleicht erreicht man einen Sehnsuchtsort aber auch besser nicht. Ankunft wäre der Tod. Also besser nie ankommen. Der Weg durch die Ebene, gegen den Wind, ist endlos. Wir kennen ihn. Immerhin, solange wir unterwegs sind, leben wir. Was für ein Gedicht! Und Buñuel zitiert ein weiteres, das Lorca ihm in ein Buch geschrieben hat, und das er „sehr liebt“ – man versteht, warum:

Blauer Himmel
Gelbes Feld
Blauer Berg
Gelbes Feld
In der verlassenen Ebene
Wandert ein Olivenbaum
Ein einziger Olivenbaum.

Wer Europa nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu sehen vermag, den wird dies nicht rühren. Ein deutscher Banker sagte mir mal kernig: „Die Ökonomie zählt, alles andere ist Folklore!“ Gut gebrüllt. Die fragile Liebe des Deutschen zu Europa hört beim Geld auf, der deutsche Michel (oder heißt er Helmut?) hat das schlafmützige Träumen aufgegeben. Aber vielleicht ist ja Europa der Sehnsuchtsort „einsam und fern“? Den Weg dahin sollten wir nicht verlassen, auch wenn wir nie endgültig ankommen. Wer jedenfalls diese kleinen expressionistischen Wortkunstwerke in Beziehung setzen kann zu anderen, wo es heißt: „Und die gelben Blumen des Herbstes / Neigen sich sprachlos über das blaue Antlitz des Teichs“, dem wird klar, dass Europa mehr ist als ein politischer und wirtschaftlicher Zusammenschluss. Auch in der Verfolgung der Intelligenz („Tod der Intelligenz!“, hieß die Parole der Falange) gibt es eine gemeinsame europäische Tradition von Russland bis Deutschland; in Andalusien darf man sich zuletzt – welch’ grausame Ironie! – vor einen Olivenbaum stellen.
Im Guten wie im Bösen gibt es ein Geflecht von Beziehungen, das Europa ausmacht. Es gab einmal Zeiten, da sprach man vom Abendland. Ist es wirklich mit den Schüssen von Sarajewo und dem Holocaust untergegangen, wie manche sagen? Sind dies nicht eher zwar furchtbare, aber doch starke neue Bande? Die Beschränkung von Gemeinsamkeiten auf das Gute, Schöne, Wahre ist verharmlosend. Der gewaltsame Tod eines Dichters, ein dreiviertel Jahrhundert her, könnte uns in Europas Krise daran erinnern.
Dieser Beitrag ist die geänderte Fassung eines im Buch des Verfassers „Deutsche Befindlichkeiten“ im Verlag Die Blaue Eule 2012 erschienenen Textes.

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Über Adorján F. Kovács 36 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.

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