Ein inoffizieller Beitrag zum Kulturstadtjahr "Weimar '99" und zur Jahrtausendwende 1999/2000
Vorwort
Eines der bekanntesten und auch umstrittensten Projekte im Rahmen des Kulturstadtjahres „Weimar '99“ sind die 52 Sontagsreden, die von Prominenten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zum Thema „Gott und die Welt“ gehalten werden. Nun hat es der „liebe Gott“ in den letzten zweitausend Jahren nicht vermocht, die Menschen zu bessern und von Verderbnis fernzuhalten – ganz im Gegensatz zu seinem Gegenspieler, dem Teufel, der mit seinem gegenteiligen Bestreben, die Menschen ins Verderben zu führen, zunehmenden Erfolg für sich verbuchen konnte. So ist es schon erstaunlich, daß sich keine der Sonntagsreden des Themas „Der Teufel und die Welt“ annimmt, obwohl dieses Thema viel mehr Spannung verspricht und noch dazu von brisanter Aktualität ist. Der vorliegende Beitrag zum Kulturstadtjahr „Weimar '99“, der aus drei Teilen besteht, bemüht sich, diese Lücke auszufüllen.
Für diejenigen, die dem Teufel schon immer einmal über die Schulter schauen und sein Treiben beobachten wollten, ist der erste Teil „Wie der Teufel die Weltherrschaft den Menschen zum Geschenk machte. Ein modernes Märchen“ geschrieben worden. Der zeitgenössische Teufel hat sich den menschlichen Geist ins Visier genommen, um mit dem Geist auch den Menschen in das Verderben zu führen. Die christliche Kirche, die sich noch immer als natürlicher Gegenspieler des Teufels versteht, hat sich als hilf- und ratlos gegenüber dem teuflischen Treiben erwiesen und es stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch eine Macht gibt, die dem Teufel Paroli bieten kann.
Wie könnte es im Goethejahr 1999 anders sein: Natürlich geht es um Goethe, den großen Kritiker unserer Zeit, und um seine ganzheitliche Denkweise, die uns modernen Menschen so fremd geworden ist, und es geht um die Frage, ob der moderne Mensch mit seinem einseitig-rationalen Denken in der Lage ist, eine überlebensfähige Zivilisation zu gestalten. Diesem Fragenkomplex ist der zweite Teil „Des Teufels Gegenspieler: der Zeitkritiker Goethe“ gewidmet. Um den Zeitkritiker Goethe kennenzulernen, der heute weitgehend totgeschwiegen wird, werden wir den einfachsten und sichersten Weg einschlagen: Wir werden demjenigen, was Goethe selbst gesagt und geschrieben hat, und nicht demjenigen, was die zahllosen Goethe-Experten über ihn gesagt und geschrieben haben, Bedeutung beimessen.
Weimar, im August 1999 St. B.
I. Wie der Teufel die Weltherrschaft den Menschen zum Geschenk machte
Ein modernes Märchen
1. Der Teufel hat eine Vision
Es ist schon sehr lange her, da begab es sich, daß der Teufel mit seinem Latein am Ende war. Immer wieder hatte er Menschen geködert, mit List an die Angel bekommen und dann ins Verderben gestürzt. Geködert hatte er mit Geschmeide, besonders schönen Exemplaren des anderen Geschlechts und Besitz. Die Anzahl der Menschen, die er ins Verderben geführt hatte, war Legion und er konnte eigentlich stolz auf das Erreichte sein. Dennoch war der Teufel verzweifelt. Ihm war bewußt geworden, daß er mit seinen Bemühungen, alle Menschen zu verderben, nie an das Ziel gelangen würde, da immer wieder neue Menschen heranwuchsen. Vor allem war der materielle Fundus, der ihm zur Bestechung der Menschen zur Verfügung stand, aufgebraucht. Ihm mußte etwas völlig Neues einfallen, um an sein Ziel zu gelangen.
Der Teufel hatte eine Vision: Da sein Fundus aufgebraucht war, konnte es nichts Handgreifliches sein zur Bestechung der Menschen, es mußte etwas Gedachtes sein. Wenn sich dann noch das vom ihm Erdachte wie ein Lauffeuer unter den Menschen verbreiten würde, wäre er der leidigen Aufgabe ledig, einzelne Menschen an die Angel zu bekommen, er könnte dann die Gesamtheit der Menschen in einem gigantischen Fischzug ins Verderben führen. Ihm war klar, daß es ein weiter Weg sein würde bis zur Verwirklichung dieser Vision.
2. Etappen der teuflischen Erkenntnis zur Verwirklichung der Vision
Für den Teufel begann eine lange Zeit des Nachdenkens, er ging dabei sehr systematisch vor.
a. Der Ansatzpunkt: der Geist des Menschen
Dem Teufel kam zugute, daß er klüger war als die Menschen. Er wußte besser als diese, daß die Menschen erst denken und danach handeln. Dem Denken sind selbst Instinkte untergeordnet. Wer das Denken, den Geist der Menschen in die Irre leitet, leitet auch den Menschen selbst in die Irre und dies war ja genau das gewünschte Ziel des Teufels. Die Beeinflussung des menschlichen Denkens müßte so geschehen, daß die Menschen gar nichts davon merken bzw. daß sie das, was ihnen unmerklich aufgezwungen wird, als von ihnen selbst gewollt empfinden. Ideal wäre es, wenn sich das von ihm geleitete Denken wie eine Epidemie ausbreiten würde, verbreitet durch Zeitungen und Bücher, auf Schulen, auf Universitäten und Akademien der Menschen; dies waren die Überlegungen des Teufels.
Das Ergebnis würde eine geistige Verwirrung der Menschen sein, bei der diese nicht mehr wüßten, was wahr und was unwahr, was oben und was unten ist. Sie dürften die Gefahren, die ihnen drohen, im Anfangsstadium nicht erkennen, und dann, wenn die Gefahren unübersehbar geworden sind, nicht mehr wissen, wie sie ihnen begegnen können. Die Menschen würden sich dann im Zustand völliger Hilf- und Ratlosigkeit befinden und ihm, dem Teufel, wie von allein zufallen.
Der Teufel war mit dem Ergebnis seines Nachdenkens sehr zufrieden. Er hatte die Erkenntnis gewonnen, daß der Geist des Menschen der Angriffspunkt für sein Vorhaben sein müsse und daß er sich daher zuallererst an die „Geistesarbeiter“ unter den Menschen wenden müsse.
b. Die teuflische Zauberformel: Weltherrschaft ohne Selbstbeherrschung
Da erinnerte sich der Teufel eines Geniestreiches, den er in grauer Vorzeit den Himmlischen spielte, als diese sich daranmachten, eine Schöpfungsgeschichte zu formulieren, die sie dann unter die Menschen brachten. Damals gelang es dem Teufel, unbemerkt einen Satz in diese Geschichte einzuschmuggeln, der dann später bei den Menschen als „schöpfungsgeschichtlicher Imperativ“ bekannt geworden ist. Dieser Satz lautete: „Macht euch die Erde untertan!“ Dem Teufel war damals schon bewußt gewesen, daß eine unbeschränkte Herrschaft des Menschen über die Welt, sofern sie nicht durch eine Selbstbeherrschung des Menschen gezügelt wird, letztenendes zur Zerstörung der Welt und damit zur Zerstörung der Lebensgrundlagen aller Menschen führen würde.
Seither waren die Menschen bestrebt, die Aufforderung der himmlischen Schöpfungsgeschichte, die ihnen die Weltherrschaft anempfahl und die ihnen daher sehr schmeichelte, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln in die Tat umzusetzen. Dies gelang den Menschen jedoch nur sehr unzureichend, da die von ihnen eingesetzten Mittel nicht hinreichten, um sich die Erde vollkommen untertan zu machen. Und hier, sagte sich der Teufel, müsse er ansetzen, er müsse den Menschen die geistigen Mittel zu einer ungezügelten und durch nichts begrenzten Herrschaft über die Welt zur Verfügung stellen.
Zum zweiten Mal war der Teufel mit den Ergebnissen seines Nachdenkens zufrieden. Er hatte eine Art von Zauberformel zur Selbstzerstörung der Menschheit gefunden: Dem Menschen müsse ein Mittel in die Hand gegeben werden zur Beherrschung von allem, was ihn umgibt, außer der Beherrschung seiner selbst. Wenn dieses Mittel es dem Menschen ermöglichte, seine unterschwellig immer vorhandene Maßlosigkeit auszuleben, dann würde dieser ihm, dem Teufel, wie eine reife Frucht zufallen, ohne daß es seines weiteren Zutuns bedürfte.
Es galt nun nur noch, dieses Mittel zu finden.
c. Das Mittel zum Zweck: Eine Schein-Naturwissenschaft
Der Teufel wußte, daß die Menschen seit alters her nach Erkenntnis streben, um die sie umgebende Welt zu verstehen, das Mittel, welches sie dafür verwenden, ist die Naturwissenschaft. Er müsse, so dachte er, den Menschen eine Naturwissenschaft anempfehlen, die gar keine wirkliche Wissenschaft von der ganzen Natur ist, die sie aber ohne Argwohn als eine solche ansehen würden. Diese Wissenschaft, so überlegte er weiter, müsse die existentielle Problematik des Menschen außer Betracht lassen und den Menschen als nicht zur Natur gehörend, als über ihr stehend in Rechnung stellen. Nur so wäre es möglich, daß der Mensch Erkenntnisse über die ihn umgebende Natur gewinnen würde, ohne zu Erkenntnissen über sich selbst zu gelangen. Der Teufel war sich völlig im klaren, daß alle seine Anstrengungen umsonst wären, wenn die von ihm dem Menschen anzuempfehlende Wissenschaft diesen zur Selbsterkenntnis führen und ihn damit zur Selbstbeherrschung befähigen würde.
3. Der Teufel macht den Menschen ein Angebot
a. Des Teufels Ratschlag Nr. 1
Nachdem der Teufel durch intensives Nachdenken zu der Erkenntnis gekommen war, wie er seine Vision verwirklichen könne, begann er sofort, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er trat an die Menschen heran und bot ihnen, wie er sagte, einen für sie ungeheuer vorteilhaften und dabei völlig risikofreien Handel an. Dieser Handel wäre völlig einseitig zu seinen Lasten, so sagte er, die Menschen brauchten ihm nicht die geringste Gegenleistung zu erbringen, sie brauchten nur seinen Ratschlägen zu folgen.
Er versprach den Menschen, daß er sie zu den alleinigen Herren der Welt zu machen gedenke und daß es ihnen fortan viel besser gehen würde. Er stellte ihnen Reichtümer in Aussicht, von denen sie bisher nur geträumt hatten, er versprach ihnen, daß er ihnen alle auf der Erde lebenden Mitgeschöpfe untertan machen, ja die gesamte Natur mit all ihren Schätzen zu Füßen legen würde. Bei Befolgung seiner Ratschläge könnten die Menschen jetzt endlich verwirklichen, was ihnen vor zweitausend Jahren in der Schöpfungsgeschichte mit den Worten: „Macht euch die Erde untertan!“ anempfohlen wurde. Er suggerierte ihnen, daß, wenn sie seinen Ratschlägen folgen würden und damit zu Herren der Welt und einem Gott ähnlich geworden wären, sie darauf ungeheuer stolz sein und diesen Stolz auch äußerlich zur Schau tragen könnten; um sich gegenüber ihren Altvorderen auszuzeichnen, sollten sie sich „moderne Menschen“ nennen.
Natürlich gab sich der Teufel nicht als solcher zu erkennen, er war verkappt und trat als Edelmann auf, der nichts anderes im Sinn habe, als den Menschen Wohltaten angedeihen zu lassen. Er kannte die Menschen sehr gut und wandte sich mit seinem Ansinnen zunächst einmal nicht an alle Menschen, sondern nur an eine Gruppe von Menschen, die sich den Erwerb von Wissen zur Aufgabe gemacht hatten und die sich selbst als Wissenschaftler oder als „geistige Elite“ bezeichneten; von ihnen wußte er, daß sie seinen Plänen besonders zugänglich sein würden. Um die Natur beherrschen zu können, so sagte er ihnen, müßten sie vorher erkennen, wie die Dinge in der Natur funktionieren, das wäre ja ihre Aufgabe. Er gewann sie im Handumdrehen, als er ihnen sagte, sie sollten sich von nun an die Losung „Wissen ist Macht“ zu eigen machen. Der Teufel wußte: Wenn er erst einmal die wissenschaftlichen Eliten gewonnen hätte, dann würden die anderen Menschen diesen Eliten wegen des großen Ansehens, das diese geniesen, ganz von selbst folgen.
Er überzeugte die Wissenschaftler davon, daß der Erwerb von Wissen über die ganze Welt viel zu beschwerlich und auch gar nicht notwendig sei und daß es viel bequemer wäre, sich aus der ganzen Welt einen Teil herauszunehmen, der besonders einfache Eigenschaften habe und der es ihnen daher leicht machen würde, Wissen zu erringen. Das Wissen über diesen Teil der Welt habe wunderbare Eigenschaften und würde vollkommen ausreichen, damit sie die von ihm versprochene Herrschaft über die Welt erringen könnten. Das Wissen über diesen Teil der Welt könne daher gleichgesetzt werden mit dem Wissen über die ganze Welt. Sie sollten dieses Wissen „objektives“ Wissen nennen.
Er gab den Wissenschaftlern einen Rat, wie sie dieses wunderbare Wissen gewinnen könnten. Der Gott, der die Welt erschaffen hat und an den sie doch alle glauben würden, habe die Welt so eingerichtet, daß alles, was in dieser Welt existiert, sich messen, zählen und berechnen läßt. Das, was sich nicht ohne weiteres messen und berechnen ließe, könnten sie meßbar und berechenbar machen, indem sie es zerschneiden und zerteilen, oder, um es mit einem gelehrten Wort auszudrücken, indem sie es „analysieren“. Durch das Analysieren würde ihnen ja kein Wissen verlorengehen, denn das, was man nach dem Zerteilen eines Ganzen über die Teile und ihr Zusammenspiel in Erfahrung bringt, würde man ja auch über das Ganze wissen, das sich aus den Teilen zusammensetzt. Aus der Meßbarkeit und Berechenbarkeit der Teile würde sich doch folgerichtig die Meßbarkeit und Berechenbarkeit des Ganzen ergeben. Und noch etwas: Um genau genug messen zu können, sollten sie nicht auf ihre fünf Sinne vertrauen, diese wären doch alles andere als vollkommen und sehr anfällig gegenüber Täuschungen. Stattdessen sollten sie sich Apparaten und Instrumenten anvertrauen, die sie mit Hilfe des von ihm anempfohlenen wunderbaren Wissens bauen könnten; damit könnten sie die Eigenschaften der Dinge viel besser und genauer ergründen.
Besonders zu erwähnen ist ein Mensch, welchen der Teufel als seinen Hauptgesprächspartner auserkoren hatte; dieser Mensch war eines der größten Genies, welches die Menschheit hervorgebracht hatte. Er beherzigte die Ratschläge des Teufels besonders gewissenhaft. Ihm kam zugute, daß er ein großer Mathematiker war. Er machte eine Anzahl von großen Entdeckungen, welche die Menschen noch heute in Erstaunen versetzen. Die von ihm gefundenen und mit Hilfe der Mathematik formulierten Gesetze, die als Gesetze der Mechanik in die Annalen eingegangen sind, haben Gültigkeit nicht nur auf der Erde, sondern im gesamten kosmischen Raum; diese Gesetze wurden zum Ausgangspunkt für eine ganz neue, bis dahin unbekannte Art von Naturwissenschaft. Dieses begnadete Genie gab den Wissenschaftlern den Rat, daß sie die ganze Natur auf mathematische Gesetze zurückführen sollten. Diesem Rat, den der Teufel nicht besser hätte formulieren können, folgten die Wissenschaftler und machten ihn zu einem zentralen Dogma der neuen Wissenschaft.
Die mit den Ratschlägen des Teufels ausgerüsteten Wissenschaftler waren in der Lage, in kurzer Zeit, eine ungeheure Menge an Wissen anzuhäufen, mit dem sie, wie sie glaubten, die Natur verstehen und beherrschen konnten. Die Menschen wandten das von den Wissenschaftlern angehäufte Wissen in der Technik an, sie lernten immer bessere Maschinen zu bauen, sie eroberten mit diesen Maschinen die Erde bis in die entlegensten Zipfel, die Meere bis in die dunkelsten Tiefen, den Luftraum bis in schwindelnde Höhen und schließlich den Kosmos, von dem sie auf ihren Lebensraum, die Erde, herunterschauen konnten.
Der Teufel war mit den Fortschritten, den die Menschen mit Hilfe der von ihm anempfohlenen Wissenschaft machten, sehr zufrieden. Er riet ihnen, sie sollten die neue Art und Weise, nach Wissen zu suchen, „exakte“ oder „moderne“ Naturwissenschaft nennen, um die neue Art von Wissensgewinnung von früheren, veralteten Bestrebungen, zu Wissen über die Natur und Welt zu gelangen, unterscheiden zu können.
Die Menschen fanden das, was ihnen ihr Ratgeber versprochen hatte, vollauf bestätigt. Das Wissen, das sie mit der vom ihm gegebenen Losung „Wissen ist Macht“ erworben hatten, nannten sie fortan „Herrschaftswissen“. Mit diesem Wissen, das dem Nutzen und dem Erfolg verpflichtet ist, konnten die Menschen Herrschaft nach außen ausüben, über die sie umgebende Natur und auch, wie sie bald feststellten, über andere Menschen, die dieses Wissen nicht besaßen.
b. Des Teufels Ratschlag Nr. 2
Außer den Rat, wie das wunderbare Herrschaftswissen zu gewinnen ist, gab der Teufel den Menschen noch einen zweiten Rat, wie sie nämlich eventuell aufkommenden Zweifeln an dieser Art von Wissen begegnen könnten. Damit sie das erworbene Herrschaftswissen ungestört zu ihrem Nutzen anwenden könnten, wäre es unbedingt notwendig, verstaubte sogenannte „Weisheiten“ über Bord zu werfen und aus dem Bewußtsein zu entfernen. Die Alten, die diese Weisheiten gelehrt haben, hätten doch keine Ahnung von dem herrlichen neuen Wissen gehabt und nichts wissen können von den Möglichkeiten und Segnungen des Zeitalters, in dem die modernen Menschen jetzt leben.
Eine der gefährlichsten Lehren der Alten sei gewesen, daß es zweierlei Wege für den Menschen gibt, seinen Wissensdrang zu befriedigen, und daß es demzufolge auch zweierlei Arten von Wissen gibt, so der Teufel. Der erste bequeme und erfolgversprechende Weg sei der von ihm, ihrem Wohltäter gewiesene Weg zum „Herrschaftswissen“. Der zweite, zu vermeidende Weg, den Wissensdrang zu befriedigen, sei das Streben nach Wissen, das einer ominösen „Wahrheit“ verpflichtet ist, ohne Rücksicht auf die Nützlichkeit und Anwendbarkeit dieses Wissens. Der Name, den man diesem Wissen gegeben habe, sei „Orientierungswissen“. Um dieses Orientierungswissen zu erwerben, so hätten die Alten gelehrt, müßten die Menschen ihren Wissensdrang nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, auf sich selbst richten. Außer objektivem Wissen gäbe es subjektives Wissen. Aber das sei nichts weiter als Unfug. Sie, die Menschen, würden ja durch den Erfolg, den sie mit der Anwendung des Herrschaftswissens erzielen könnten, bald einsehen, daß der Erwerb von Orientierungswissen ein nutzloses und damit unnötiges Unternehmen sei, so sagte der Teufel.
Die Menschen wollten sich der Huld würdig erweisen, die ihnen ihr Ratgeber angedeihen ließ, und befolgten auch den zweiten Rat sehr gewissenhaft, sie vergaßen im Laufe der Zeit die von den Alten gelehrten Weisheiten.
4. Was der Teufel den Menschen verschwiegen hat
Als der Teufel den Menschen versprach, sie zu unbeschränkten Herren der Welt zu machen, hatte er ihnen verschwiegen, daß sie ja selbst zu dieser Welt gehören und daß demzufolge zu einer Herrschaft über die Welt, wenn diese von Dauer sein und nicht in einer Apokalypse enden soll, die Herrschaft des Menschen über sich selbst dazugehört; er hat ihnen verheimlicht, daß eine überlebensfähige menschliche Zivilisation die Selbstbeherrschung des Menschen notwendigerweise voraussetzt.
5. Zwischenrede
Die Freude des Teufels über die gelehrigen Menschen war allerdings nicht zu allen Zeiten so ungetrübt wie heute. Hundert Jahre, nachdem der Teufel den Menschen die wunderbare Wissenschaft und mit ihr das Mittel zur Beherrschung der Welt gebracht hatte, lebte ein Mensch, der sich von den Verheißungen und Schmeicheleien des Teufels nicht beirren ließ und dessen Absichten durchschaute. Dieser Mensch hatte einen erstaunlichen Mut, denn er war der einzige, der es wagte, dem Teufel den Kampf anzusagen. Er versuchte, seinen Mitmenschen ihre Blindheit dem Teufel gegenüber zu nehmen und sie wieder sehend zu machen, damit sie erkennen könnten, mit wem sie sich eingelassen haben.
Doch die Menschen waren dem Teufel schon zu sehr verfallen und glaubten dem mutigen Mahner nicht, ja sie warfen ihm vor, daß er die wunderbare Wissenschaft, der sie doch so unendlich viel verdankten, gar nicht verstanden hätte. Er blieb ein Rufer in der Wüste und sagte am Ende seines Lebens mit Verbitterung: „Ich habe keinen Glauben an die Welt und habe verzweifeln gelernt“ (Goethe zum Kanzler von Müller am 6. 6. 1830).
II. Des Teufels Gegenspieler: der Zeitkritiker Goethe
1. „Gelöst sind die Bande der Welt, wer knüpfet sie wieder?“1
Wir modernen Menschen, die wir eingebettet sind in eine von uns geschaffene künstliche Umwelt, haben das Bewußtsein verloren, daß die Natur die Grundlage menschlichen Lebens ist. Wie sonst könnten wir es wagen – um einen zeitgemäßen Vergleich zu verwenden – nicht mehr allein von den Zinsen zu leben, die die Natur in reichlichem Maße abwirft, sondern mehr und mehr das nicht regenerierbare Kapital „Natur“ anzugreifen und zu verprassen und damit zukünftigen Generationen die Lebensgrundlage zu entziehen.
Die meisten von uns haben das dumpfe Gefühl, daß die im beängstigenden Maße zunehmende irreparable Naturzerstörung durch den Menschen nicht so weitergehen kann; im Ausmaß der angerichteten Zerstörungen hat der globale Krieg des Menschen gegen die Natur alle Kriege, die der Mensch gegen seinesgleichen führte und führt, längst übertroffen. Nur wenigen von uns ist jedoch bewußt, daß der Mensch die Natur durch sein Handeln erst dann zerstören kann, wenn er sie bereits in seinem Kopf, in seinem Denken zerstört hat. Und wer von uns weiß schon, aus welcher Quelle dieses verhängnisvolle Denken der Natur gegenüber gespeist wird. Die Gretchenfrage, wie wir es mit der Natur halten, ist zur Schicksalsfrage des modernen Menschen geworden, von der Antwort oder Nichtantwort auf diese Frage wird es abhängen, ob der Mensch eine zukunftsfähige Zivilisation gestalten kann oder nicht.
Der heutige Mensch ist Gefangener fundamentaler Irrtümer, weil er geistig einen Irrweg beschritten hat und in eine Sackgasse geraten ist. Um seine aus den Fugen geratene geistige Welt wieder in Ordnung zu bringen, gibt es nur ein Mittel: er muß sich auf den Ausgangspunkt besinnen, wo die verhängnisvolle Entwicklung begann. Um den Menschen gedanklich auf diesen Ausgangspunkt zurückzuführen, gibt es keinen besseren Begleiter als Goethe, bei Goethe findet er eine fundierte Diagnose und eine heilsame Therapie seiner geistigen Verirrung.
2. „Die Welt hat sich seit hundert Jahren geirrt“
Goethe war ja nicht nur der anerkannte und gefeierte Dichter, sondern auch der Naturwissenschaftler, dem Erfolg und Anerkennung versagt geblieben sind und der gegenüber dem Dichter fast in Vergessenheit geraten ist. Er selbst hat seine Erkenntnisse auf dem Gebiet der Naturwissenschaft höher eingeschätzt als seine Leistungen als Dichter.
Es war der Naturwissenschaftler Goethe, der seiner Zeit – und damit auch unserer Zeit – vorwirft, daß sie auf einem Irrtum aufgebaut ist.
„Es ist ein unfreundliches und auch undankbares Geschäft, Schritt vor Schritt, Wort vor Wort zu zeigen, daß die Welt sich seit hundert Jahren geirrt hat“2
schreibt er an den befreundeten Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt und bezieht sich mit der Zeitangabe auf den englischen Physiker und Mathematiker Isaac Newton, der hundert Jahre vor Goethe lebte, und mit dem Vorwurf des Irrtums auf die von Newton begründete Wissenschaft.
Newton hatte im Jahre 1686 sein epochemachendes Werk „Philosophiae naturalis principia mathematica“ veröffentlicht und damit die Grundlagen für eine neue Art von Naturwissenschaft gelegt, die sich heute als „modern“, „exakt“ und „objektiv“ bezeichnet. Newton war es erstmals in der menschlichen Geschichte gelungen, ein für ganz unterschiedliche physikalische Phänomene gültiges Prinzip in eine mathematische Form zu bringen. Aus den nach ihm benannten Gesetzen der Mechanik ließen sich alle damals bekannten Phänomene der terrestrischen und Himmelsmechanik ableiten und unbekannte Phänomene voraussagen. Das spektakulärste Beispiel dafür war die Voraussage eines unbekannten Planeten, des Neptun, aus den beobachteten Bahnabweichungen des Uranus im Jahre 1846 und die Auffindung des Neptun an der vorausberechneten Stelle des Himmels im gleichen Jahr.
Angesichts der triumphalen Erfolge seiner Theorie glaubte Newton der neuen Wissenschaft den Weg mit den Worten weisen zu können:
„Lasset die substantiellen Formen und die verborgenen Qualitäten beiseite und führt die Natur auf mathematische Gesetze zurück.“3
Diese Forderung, der sie bis heute folgt, hat die neue Wissenschaft zu einem zentralen Dogma erhoben; danach ist nur das existent und erkennbar, was analysiert, gemessen und mathematisch beschrieben, was „objektiviert“ werden kann.4
Eine Äußerung Goethes, die er 1826 zu Eckermann machte, hört sich wie ein Kommentar zum Zentraldogma der Newtonschen Wissenschaft an:
„Ich ehre die Mathematik als die erhabenste und nützlichste Wissenschaft, solange man sie da anwendet, wo sie am Platze ist; allein ich kann nicht loben, daß man sie bei Dingen mißbraucht, die gar nicht in ihrem Bereich liegen und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn erscheint. Und als ob alles nur dann existiere, wenn es sich mathematisch beweisen läßt.“5
Die von Newton begründete neue Art von Naturwissenschaft hatte ihren Anspruch, eine Leitwissenschaft zu sein, bereits zu Lebzeiten Goethes weitgehend durchgesetzt. Wenn man die Kritik Goethes an den geistigen Grundlagen dieser Naturwissenschaft mit einem Wort zusammenfassen will, so ist es die „Einseitigkeit“6, die Goethe dieser Wissenschaft vorwirft, und die Tatsache, daß sie den „Teil für das Ganze“ setzt und ganze Wirklichkeitsbereiche, wie den des Lebendigen, aus ihrer Erkenntnissuche verbannt. Goethe fordert Erkenntnissuche nicht nur nach außen, sondern auch nach innen; Anwendung nicht nur der Analyse, sondern auch der Synthese7; nicht nur das Meßbare, Berechenbare und Objektivierbare gehören zur Natur, sondern auch das Unmeßbare, Unberechenbare und Subjektive. Den wissenschaftlichen Nachweis, daß neben dem Objektiven auch das Subjektive real existiert, hat Goethe in seiner Farbenlehre geführt.
Goethe wirft der neuen Wissenschaft vor, daß ihre Denkweise „atomistisch“8 ist, daß sie „lebendiges Anschauen fürchtet“9 und eine „tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellt,“10 daß sie „die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem was künstliche Instrumente zeigen die Natur erkennen will.“11 In Dichtung und Wahrheit konstatiert Goethe: „Dasjenige, was als höhere Natur in der Natur erscheint“, könne nicht aus einer „materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur“ hergeleitet werden.12
Goethe hat die Bezeichnung „Naturwissenschaft“ für die neue Art von Wissenschaft nie verwendet, da er dies als ungerechtfertigte Anmaßung empfand, er verwendete dafür mehr oder weniger polemische Ausdrücke wie „(Newtonische) Schule,“13 „mathematische Gilde,“14 „herrschende Kirche,“15 „neuere Physik.“16 Aus Goethes Schriften geht hervor, daß nach seinem Verständnis diese neue Wissenschaft keine wirkliche Naturwissenschaft ist17, da ihr Erkenntnisstreben allein auf das Materielle gerichtet ist und damit das Übermaterielle, das Lebendige (die „höhere Natur“) aus dem Erkenntnisprozeß ausgeschlossen wird. Für Goethe ist die neue Wissenschaft eine Element- oder Materiewissenschaft und damit nur eine Teil-Naturwissenschaft.
Der Irrtum, dessen Goethe die Newtonsche „Naturwissenschaft“ bezichtigt, ist nicht deren Privatangelegenheit, denn diese Wissenschaft ist ja gerade diejenige Institution, die das geistige Fundament für unser modernes Zeitalter darstellt, ihre Denkmuster bestimmen weitgehend das Denken der modernen Gesellschaft, die Technik, die sie hervorgebracht hat, ermöglicht dem heutigen Menschen seine Art zu leben. Goethe hat wohl als einziger seiner Zeitgenossen erkannt, daß sich nicht nur die Newtonsche Wissenschaft, sondern mit ihr auch „die Welt“ geirrt hat und daß sich der Irrtum der Welt nur ausräumen läßt, wenn der Newtonsche Irrtum entdeckt und offengelegt wird.
Am Ende seines Lebens hat Goethe die Hoffnung, den Newtonschen Irrtum und mit ihm den Irrtum der Welt aufzudecken, aufgegeben und resigniert. Zu Soret sagt er:
„Die Irrtümer meiner Gegner sind seit einem Jahrhundert zu allgemein verbreitet, als daß ich auf meinem einsamen Wege hoffen könnte noch diesen oder jenen Gefährten zu finden. Ich werde allein bleiben! Ich komme mir oft vor wie ein Mann in einem Schiffbruch, der ein Brett ergreift, das nur einen einzigen zu tragen imstande ist; dieser eine rettet sich, während alle übrigen jämmerlich ersaufen.„18
In seinem letzten Brief (an Wilhelm von Humboldt) drei Tage vor seinem Tod schreibt Goethe vorausahnend vom „Dünenschutt der Stunden,“ der sein Werk überschütten wird. In diesem Brief findet sich auch das letzte Diktum Goethes:
„Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt.“19
3. „Weiß hat Newton gemacht aus allen Farben“
Der Newtonsche Irrtum in der Farbenlehre
Newton war nicht nur der Begründer der klassischen Mechanik, sondern hat auch auf dem Gebiet der Optik Bahnbrechendes geleistet. Er untersuchte die Eigenschaften des Lichts mit Hilfe des Glasprismas und kam u. a. zu dem Schluß, daß sich das weiße Sonnenlicht aus den Spektralfarben, die von Rot über Gelb, Grün, Blau bis Violett reichen, zusammensetzen müsse. Das Werk, in dem Newton 1704 die Ergebnisse seiner optischen Untersuchungen veröffentlichte, nannte er: „Opticks: Or a Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light.„20
Goethe bezichtigte Newton, daß ihm in seiner Optik ein fundamentaler Irrtum unterlaufen sei; als Antwort auf die Newtonsche Optik und als Ergebnis einer zwanzig Jahre währenden intensiven Beschäftigung mit dem Phänomen Farbe veröffentlichte er im Jahre 1810 sein monumentales Werk Zur Farbenlehre, bestehend aus einem didaktischen, einem polemischen und einem historischen Teil. Goethe wird fälschlicherweise nachgesagt, daß er mit seiner Farbenlehre gegen die gesamte Newtonsche Optik angekämpft hätte. Das dies nicht zutrifft, darüber gibt der Abschnitt „Newtons Persönlichkeit“ des historischen Teils der Farbenlehre Aufschluß:
„Die höhere Mathematik war ihm (Newton) als das eigentliche Organ gegeben, durch das er seine innere Welt aufzubauen und die äußere zu gewältigen suchte. Wir maßen uns über dieses sein Hauptverdienst kein Urteil an, und gestehen gern zu, daß sein eigentliches Talent außer unserm Gesichtskreise liegt.“21
Goethe spricht hier offensichtlich Newtons Verdienste auf den Gebieten der klassischen Mechanik und der physikalischen Optik an, die zu beurteilen er sich nicht anmaßt. Anders bei dem Phänomen Farbe, das der unmittelbaren Erfahrung und damit auch einem Nichtmathematiker zugänglich ist .
„Hier tritt er in eine Welt ein, die wir auch kennen, in der wir seine Verfahrensart und seinen Sukzeß zu beurteilen vermögen.“22
Im polemischen Teil der Farbenlehre wird deutlich ausgesprochen, welches der Streitpunkt mit Newton und den Newtonianern ist:
„Jedoch nach der Newtonischen Lehre sollen ja die Farben im Lichte stecken, sie sollen daraus entwickelt werden. Schon der Titel seines Werkes deutet auf diesen Zweck hin. Schon dort werden wir auf die Colours of Light hingewiesen, auf die Farben des Lichtes, wie sie denn auch die Newtonianer bis auf den heutigen Tag zu nennen pflegen.“23
Goethe wendet sich nicht gegen den physikalischen Teil von Newtons Optik, der sich mit der Spiegelung, Brechung und Beugung des Lichts beschäftigt, er wendet sich gegen die Verwendung des Terminus „Colours of Light“ und dagegen, daß die Newtonsche Optik gleichzeitig auch als eine Farbenlehre gelten soll.
Goethes Weg zur Erkenntnis, welcher Natur die Farben sind, war keineswegs ein gerader und bequemer Weg. Er hatte sich in Italien eingehend mit Malerei befaßt und dies hatte in ihm den Wunsch aufkommen lassen, sich eingehender mit den Farben zu beschäftigen. Nach seiner Rückkehr nach Weimar war ihm klar geworden,
„daß man den Farben als physischen Erscheinungen erst von der Seite der Natur beikommen müsse, wenn man in Absicht auf Kunst etwas über sie gewinnen wolle. Wie alle Welt war ich überzeugt, daß die sämtlichen Farben im Licht enthalten seien.“24
Goethe versuchte zuerst, wie es Newton getan hatte, von der durch Lichtbrechung hervorgerufenen prismatischen Farberscheinung „den Farben beizukommen“. Anfang des Jahres 1790 führte er einen Versuch durch, der für ihn weitreichende Folgen haben sollte. Beim ersten Blick durch ein Prisma auf die weiße Wand seines Zimmers blieb diese weiß und das von der Wand ins Auge zurückkehrende Licht erschien nicht in viele farbige Lichter zersplittert, wie er es eingedenk der Newtonschen Theorie erwartet hatte. Goethe dazu:
„Ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, daß die Newtonische Lehre falsch sei.“25
Die von Goethe durchgeführten Prismenversuche hatten ihm zwar die Überzeugung vermittelt, daß die Newtonsche Farbenlehre falsch sei, sie konnten ihm aber nicht weiterhelfen auf der Suche nach Erkenntnis über die Natur der Farben. Erst mit Hilfe unzähliger Beobachtungen und Versuche entdeckte Goethe, daß die Farben „nicht im Lichte stecken“, sondern „dem Auge angehören“; er nannte diese dem Auge angehörenden Farben „physiologische Farben“ 26. Der schwierige Umdenkprozeß, den Goethe dabei durchmachen mußte, läßt sich wohl am besten mit Hilfe des „Pulloverbeispiels“ erklären, das Harald Küppers in seinem Buch Die Logik der Farbe angibt 27. Es heißt dort:
„
Die Wirkungskette läuft vom Licht über das Absorptionsvermögen der Materie und über den Farbreiz zur Farbempfindung. Aber auch einen Pullover kann man nicht aufribbeln, indem man am Anfang beginnt. Beginnt man aber am Ende, fällt das kompliziert Gestrickte wie von allein auseinander. So ähnlich ist es auch bei der Farbenlehre. Die Erklärung aller Zusammenhänge finden wir im Funktionsprinzip des Sehorgans.“
Auf der Suche nach der Natur der Farben hat Goethe mit seinen Prismenversuchen – um bei dem Pulloverbeispiel zu bleiben – das Aufribbeln des Gestrickten vom Anfang her versucht, und ist, wie die Newtonianer heute noch immer, mit diesem Versuch gescheitert. Im Unterschied zu den Newtonianern ist Goethe aber dabei nicht stehengeblieben. Mit der Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten, die für die physiologischen Farben gelten, begann er das Aufribbeln vom Ende her. Im Paragraphen 1 seiner Farbenlehre heißt es dann auch, daß die physiologischen Farben „das Fundament der ganzen Lehre machen.“28
Durch die Entdeckung der physiologischen Farben war es Goethe möglich, Ordnung in die Vielfalt der Farbenphänomene zu bringen. In Zusammenabeit mit Schiller29 wurden die verschiedenen Erscheinungsweisen der Farben in drei Kategorien eingeteilt:
„Physiologische Farben“, diese beschreibt Goethe als „unaufhaltsam flüchtig“;30
„Physische Farben“ (z. B. prismatische Farben), diese sind „vorübergehend, aber allenfalls verweilend“;
„Chemische Farben“ (z. B. Farbpigmente), diese sind „festzuhalten bis zur spätesten Dauer“.
Die physiologischen Farben entsprechen nach heutigem Sprachgebrauch Farbempfindungen, die Physischen und Chemischen Farben Farbreizen.
Die Erkenntnis Goethes, daß den physiologischen Farben eine eigenständige Existenz mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zukommt und diese Gesetzmäßigkeiten ohne Zuhilfenahme der Mathematik und der „Meßkunst“ aufgefunden werden können, legitimierten ihn zu der Forderung, daß die physikalische Optik und die Farbenlehre auseinandergehalten werden müssen und nicht vermengt werden dürfen. Im Abschnitt „Verhältnis zur Mathematik“ seiner Farbenlehre schreibt er:
„Die Farbenlehre besonders hat sehr viel gelitten, und ihre Fortschritte sind äußerst gehindert worden, daß man sie mit der übrigen Optik, welche der Meßkunst nicht entbehren kann, vermengte, da sie doch eigentlich von jener ganz abgesondert betrachtet werden kann.“31
Hier legt Goethe die eigentliche Ursache für den Newtonschen Irrtum in der Farbenlehre bloß. Newton hat die Optik mit der Farbenlehre vermengt, indem er die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die er für das Licht gefunden hat und die allein für das Licht gelten, ungeprüft auf die Farben übertrug. Nach heutigem Erkenntnisstand wird bei dem Prismenversuch etwas Zusammengesetztes, nämlich die heterogene (vielwellige) elektromagnetische Wellenstrahlung des Sonnenlichts, in homogene (einwellige) Bestandteile aufgefächert. Da Sonnenlicht beim Menschen die Empfindung „Weiß“ und die durch das Prisma auseinandergefächerten homogenen Wellenstrahlungen die Empfindungen von Farben (von Rot über Gelb, Grün, Blau bis Violett) auslösen, behauptete Newton und behaupten die Physiker bis heute, daß sich Weiß aus den Spektralfarben von Rot bis Violett zusammensetzt. Noch heute steht in jedem Lexikon, daß beim Prismenversuch eine „polychromatische“ (vielfarbige) Strahlung der Sonne in „monochromatische“ (einfarbige) Strahlungsanteile zerlegt wird.
In einem Distichon seiner Venezianischen Epigramme spottet Goethe über die Newtonianer:
„Weiß hat Newton gemacht aus allen Farben! – Gar manches
Hat er euch weisgemacht, das ihr ein Säkulum glaubt.“32
4. Die Goethesche Farbenlehre ist Wissenschaft
Das größte Unrecht, das Goethe zugefügt wurde und wird: ihn auf den „Dichterfürsten“ zu reduzieren und das, was er selbst als seine größte Leistung angesehen hat, aus dem öffentlichen Bewußtsein zu eliminieren. Im Februar 1829 sagt Goethe zu seinem Vertrauten Eckermann:
„Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewußtsein der Superiorität über viele.“33
Seine stolzen Worte über seine Einzigartigkeit in der „schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre“ lassen keinen Zweifel: Goethe hat seine Farbenlehre als Wissenschaft und, da für ihn der Mensch mit zur Natur gehört34, als Naturwissenschaft betrachtet. In die Farbenlehre hat er „die Mühe eines halben Lebens hineingesteckt,“35 mit ihr wollte er die „Bastille“ der Newtonschen Wissenschaft „schleifen“36 und „Epoche in der Welt machen.“37 Die Quintessenz von Goethes Farbenlehre findet sich zusammengefaßt in der ersten Abteilung „Physiologische Farben“ des Didaktischen Teils; diese Abteilung enthält die Ableitung der für die physiologischen Farben geltenden Gesetze und damit die Begründung der Farbenlehre als Wissenschaft.
Das Phänomen, das Goethe „physiologische Farben“ nennt, war schon von früheren Zeiten her bekannt. Da diese Farben aber flüchtig und nicht festzuhalten sind, „verbannte man sie in das Reich der schädlichen Gespenster und bezeichnete sie in diesem Sinne verschiedentlich.“38 Der französische Naturforscher Buffon, durch dessen Schriften Goethe auf diese Farben aufmerksam wurde, nannte sie „couleurs accidentelles,“ andere bezeichneten sie als Scheinfarben und Augentäuschungen. Erst Goethe gelangte zu einer grundsätzlich anderen Sichtweise diesen Farben gegenüber. Bereits 1793 schrieb er an den Berliner Physiker Lichtenberg, sich auf die Buffonschen „zufälligen Farben“ beziehend: „Hier ist wohl nichts Zufälliges, wohl aber eine Übereinstimmung verschiedener Erfahrungen.“39 Durch Versuche und Beobachtungen verschaffte sich Goethe endgültige Klarheit über die Natur dieser Farben, er erkannte, daß sie real existieren, daß sie nicht „im Lichte stecken“, sondern „dem Auge angehören“, und daß sie feststehenden Gesetzen unterliegen, die für alle (farbentüchtigen) Menschen gelten. Am Anfang seiner Farbenlehre stellt er diese Farben mit den Worten vor:
„Wir haben sie physiologische genannt, weil sie dem gesunden Auge angehören, weil wir sie als die notwendigen Bedingungen des Sehens betrachten, aus dessen lebendiges Wechselwirken in sich selbst und nach außen sie hindeuten.“40
Goethe hat erkannt, daß man die Gesetze, denen die physiologischen Farben unterliegen, nur auffinden kann, wenn man diese Farben in „reiner Form“ zur Anschauung bringt und sie vom unmittelbaren Zusammenhang mit dem äußeren Lichtreiz abkoppelt. Ein einfaches Beispiel dafür ist die Erzeugung farbiger Nachbilder:
„Man halte ein kleines Stück lebhaft farbigen Papiers … vor eine mäßig erleuchtete weiße Tafel, schaue unverwandt auf die kleine farbige Fläche und hebe sie, ohne das Auge zu verrücken, nach einiger Zeit hinweg; so wird das Spektrum einer andern Farbe auf der weißen Tafel zu sehen sein.“41
Das Nachbild erscheint in der „Gegenfarbe“ der ursprünglichen, durch den äußeren Farbreiz im Sehorgan induzierten Farbe. Farbe und Gegenfarbe stehen in einem gesetzmäßigen Wechselverhältnis. Dazu Goethe:
„So fordert Gelb das Violette, Orange das Blaue, Purpur das Grüne, und umgekehrt.“42
Als naturgemäßes Ordnungsprinzip dieser Farberscheinungen verwendet Goethe seinen berühmten Farbenkreis mit sechs Grundfarben, in welchem die sich wechselweise fordenden Farben diametral gegenüberliegen:
Purpur
Orange Violett
Gelb Blau
Grün
Dieses sechsteilige Ordungsschema kann beliebig verfeinert werden:
„Sich hiezu einen Farbenkreis zu bilden, der nicht wie der unsre abgesetzt, sondern in einem stetigen Fortschritte die Farben und ihre Übergänge zeigte, würde nicht unnütz sein.“43
Im Abschnitt „Farbige Schatten“ schildert Goethe eine zauberhafte Naturerscheinung, die er im Winter 1777 beim Abstieg vom schneebedeckten Brocken und hereinbrechender Dämmerung erlebte. Im Schein der sinkenden Sonne, deren Farbe sich von Gelb über Orange zu Purpurrot änderte, wandelte sich die Farbe der Schatten, die von Bäumen und Felsen auf die Schneefläche geworfen wurden, von Violett über Blau zu Grün. Aus dieser Schilderung läßt sich der ganze Goethesche Farbenkreis ableiten, wenn man bedenkt, daß die Farbe der Sonne (Gelb, Orange, Purpurrot) und die Farbe der farbigen Schatten (Violett, Blau, Grün) Gegenfarben sind, die im Farbenkreis gegenüberliegen.44
Immer wieder fand Goethe bei seinen Versuchen und Beobachtungen die durch den Farbenkreis symbolisierten Gesetze des Farbensehens bestätigt. Diese Gesetze können von jedermann gefunden werden, ohne irgendwelche physikalischen oder mathematischen Hilfsmittel benutzen zu müssen, ohne die leiseste Ahnung, was eine elektromagnetische Schwingung, was eine Wellenlänge ist. Zur Auffindung dieser Gesetze sind allein Erfahrungen (z. B. zum Phänomen der Gegenfarben) notwendig, Erfahrungen, die ein Farbenblinder nicht erlangen kann. Im Gegensatz dazu kann die Newtonsche Optik, für die es auf das Gleiche hinausläuft, ob das menschliche Auge oder ein physikalischer Apparat mit Zeigerausschlägen als Nachweismittel benutzt wird, auch von einem Farbenblinden ohne Abstriche nachvollzogen werden.
Erst wenn der Farbenkreis als naturgemäßes Ordnungsschema für die Gesetze des Farbensehens aufgestellt ist, macht es Sinn zum Anfang der Wirkungskette überzugehen (Küppersches Pulloverbeispiel) und zu fragen, welche Farbreize bestimmten physiologischen Farben zugeordnet werden können; auf der Ebene der Farbreize ist dann auch eine Quantifizierung möglich. Im Gegensatz dazu geht die Newtonsche Wissenschaft zur Erklärung des Phänomens „Farbe“ nach wie vor von den Spektralfarben aus und fängt damit am falschen Ende der Wirkungskette an. Am Beispiel der Farbe Purpurrot läßt sich die naturgemäße Vorgehensweise Goethes und die unnatürliche Vorgehensweise Newtons sehr gut demonstrieren. Bei Goethe ist Purpur als Gegenfarbe von Grün natürlicher Teil des Farbenkreises; bei Newton muß Purpur, da im Spektrum der prismatischen Farben nicht vorhanden, mit Zirkel und Lineal auf Papier konstruiert oder mathematisch berechnet werden. Goethe hat dafür nur Spott übrig:
„Denn das ganze Newtonische Farbenwesen ist nur ein Wortkram, mit dem sich deshalb so gut kramen läßt, weil man vor lauter Kram die Natur nicht mehr sieht.“45
Mit dem Farbenkreis und den in ihm gegenüberliegenden Gegenfarben, Gelb – Violett, Orange – Blau, Purpurrot – Grün, hat Goethe einen Zusammenhang formuliert, der mit Fug und Recht als ein (für den farbentüchtigen Menschen geltendes) Naturgesetz bezeichnet werden kann. Dieses Gesetz ist allerdings von einer ganz anderen Art als alle von der herrschenden „Naturwissenschaft“ seit Newton aufgefundenen Naturgesetze, diese beruhen auf Messungen, lassen sich mathematisch formulieren und sind universell (in Raum und Zeit) gültig. Mit dem Farbengesetz hat Goethe den Beweis geliefert, daß neben dem Berechenbaren und Objektiven auch das Subjektive in seiner Nichtmeßbarkeit und Unberechenbarkeit Teil der Wirklichkeit ist und ohne Frage Gegenstand wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens sein muß. Gerade das Subjektive ist der Schlüssel, um Erkenntnisse über den Menschen zu gewinnen, Erkenntnisse, die der herrschenden „Naturwissenschaft“ vollkommen verschlossen sind.
In den Nachträgen zur Farbenlehre vergleicht Goethe die falschen Newtonschen Lehren mit Teufelswerk und sieht sich selbst als Gegenspieler des Teufels:
„Deshalb erlaube ich mir scherzhaft zu sagen und wenn soviel Teufel in den Hörsälen und Buchläden sich gegen mich widersetzten als Zeichen und Zahlen zu Gunsten der falschen Lehren seit hundert Jahren verschwendet worden so sollen sie mich doch nicht abhalten laut zu bekennen, was ich einmal für wahr anerkannt. Ohne weiteres also erkläre ich daß die mathematische Physik in ihrem Kreis vor wie nach ihr Wesen treiben möge sie irrt uns nicht. Denn was geht die Farben sie an.“46
5. Die geistesgeschichtliche Bedeutung des Farbenstreits
Der Streit in der Farbenlehre zwischen Goethe und den Newtonianern stellt eine geistesgeschichtliche Zäsur ersten Ranges dar. Das menschliche Denken hatte, legt man einen historischen Maßstab zugrunde, einen Augenblick lang die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, die Natur zu erkennen und zu begreifen, d.h. es hatte die Wahl zwischen zwei Arten von „Naturwissenschaft“.
Die Besonderheit des von Newton durchgeführten und mit Hilfe von Farben interpretierten Prismenversuchs besteht darin, daß hier die Newtonsche „Naturwissenschaft“ zum ersten Mal ihr zentrales Dogma zur Anwendung gebracht hat, indem sie behauptet, daß Farben quantifizierbar und objektivierbar sind. Diese Wissenschaft mußte allerdings davon ausgehen, daß die Farbempfindung des Menschen unbestreitbar eine subjektive Erscheinung ist, von deren realer Existenz sich jeder Mensch selbst überzeugen kann, und demzufolge sich jedermann weigern würde, diese Empfindung von der Wissenschaft wegdiskutieren zu lassen. Indem nun die Newtonsche Wissenschaft behauptet, daß zwischen der subjektiven Farbempfindung des Menschen und der objektivierbaren physikalischen Wellenstrahlung, die diese Empfindung auslösen kann, kein wesentlicher Unterschied, d. h. kein Unterschied im Wesen besteht, glaubt sie sich durch diesen Trick in der Lage, etwas Subjektives objektiviert, etwas Qualitatives quantifiziert und damit in ihr wissenschaftliches Denksystem integriert zu haben.
Mit Goethe tritt der bis dahin unangefochtenen neuen Wissenschaft erstmals ein Denker entgegen, der die Art und Weise, mit der diese Wissenschaft die Natur und den Menschen erkennen will, grundsätzlich in Frage stellt. Mit dem in seiner Farbenlehre geführten Nachweis, daß das Subjektive und Nichtquantifizierbare real existiert, hat er das zentrale Dogma der Newtonschen Wissenschaft in einem konkreten und von jedermann nachvollziehbaren Fall ad absurdum geführt und gleichzeitig den Weg gewiesen, der zu einer ganzheitlichen Naturwissenschaft führt.
Goethes Farbenlehre ist eine Wissenschaft von der Qualität „Farbe“, sie kann daher als Vorbild für die Erweiterung der herrschenden „Naturwissenschaft“, die nur Quantitäten wahrnimmt und in Rechnung stellt und Qualitäten negiert, gerade in das von ihr ausgesparte Gebiet der Qualitäten hinein betrachtet werden.
Goethe hat sich nicht nur gegen den materialistischen Dogmatismus der Newtonschen „Naturwissenschaft“, sondern auch gegen den spiritualistischen Dogmatismus der katholischen Kirche gewandt und hat beide Dogmatismen wiederholt miteinander verglichen. In seiner Besprechung eines Physiklehrbuches heißt es: „sehen unsere Physiken nicht aus wie Lehrbücher sondern wie Kirchen- und Ketzergeschichten.“47 Im historischen Teil der Farbenlehre ist zu lesen: „Ende des achtzehnten Jahrhunderts (ist) in den Naturwissenschaften auf eine Weise verfahren worden, deren sich das dunkelste Mönchtum und eine sich selbst verirrende Scholastik nicht zu schämen hätte,“48 vom „Papsttum der einseitigen Naturlehren“ ist die Rede49, usw.
Goethe war sich voll bewußt, daß seinem Kampf gegen den Newtonschen Irrtum eine Bedeutung zukommt, die von einer weltgeschichtlichen Dimension ist. Gegenüber seinem Vertrauten Eckermann äußerte er, daß er mit seiner Farbenlehre „Epoche in der Welt machen“ wolle50, er vergleicht in diesem Gespräch seine Farbenlehre mit den Taten Friedrich des Großen, Napoleons und Luthers.
6. „daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien“
Goethes Vision von einer ganzheitlichen Naturwissenschaft
Goethe ist bis heute in zweierlei Hinsicht nicht verstanden worden:
Welches ist der eigentliche Grund für die erbitterte Gegnerschaft, die er gegenüber der von Newton begründeten neuen Art von „Naturwissenschaft“ einnahm?Was wollte Goethe an die Stelle der Newtonschen Wissenschaft setzen? Die erste Frage glauben wir in den bisherigen Ausführungen beantwortet zu haben, hier soll uns die zweite Frage beschäftigen.
Goethe hat nicht nur die Fehlentwicklung der zu seinen Lebzeiten zur Herrschaft gelangten „Naturwissenschaft“ diagnostiziert, sondern in seinen naturwissenschaftlichen Schriften auch eine Therapie angeboten. Wenn man diese Therapie mit einem Begriff umschreiben will, dann ist es die „ganzheitliche“ Denkweise, die er für die Naturwissenschaft fordert. Goethe hat dafür in seinen Morphologischen Schriften und in seiner Farbenlehre eine Vorarbeit geleistet, die bis heute weitgehend unbeachtet geblieben ist.
Goethe hat erkannt, daß das bei Lebewesen auftretende Problem der Form oder Gestalt von seiten des rein Stofflich-Materiellen nicht zu fassen ist, weil dort Naturgesetzlichkeiten wirksam werden, welche über den Gesetzen stehen, die für die Materie gelten. Diese Naturgesetzlichkeiten zu erfassen, ist die Aufgabe einer Form- oder Gestaltwissenschaft, die Goethe Morphologie nannte. In den Betrachtungen über Morphologie überhaupt gibt er eine Definition dieser Wissenschaft:
„Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten; sie gehört daher zu den Naturwissenschaften.“51
Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich Goethe die Einordnung der Morphologie in den Gesamtkomplex der Wissenschaft vorstellt. An Alexander von Humboldt schreibt er:
„Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen von der Gestalt ausgehen, so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen.“52
Goethe hat in seinem Brief eine wünschenswerte Begegnung der Gestaltwissenschaft, der Morphologie, mit der Elementwissenschaft, d.h. der Wissenschaft von der Materie, vor Augen. Wenn man seine Ausführungen zur Morphologie im Gesamtzusammenhang sieht, so will er die herrschende „Naturwissenschaft“, die nach seinem Verständnis eine Elementwissenschaft ist, nicht „wegräumen,“53 er bestreitet aber deren Anspruch, eine vollkommene Naturwissenschaft zu sein, er sieht in ihr nur eine Teilnaturwissenschaft, die erst zusammen mit der Morphologie zu einer wahren, ganzheitlichen Wissenschaft von der Natur vervollständigt wird. Während sich die herrschende „Naturwissenschaft“, soweit sie sich auf die Materie als Untersuchungsgegenstand beschränkt, zu Recht als eine objektive Wissenschaft versteht, gilt das Objektivitätskriterium für eine von Goethe vorgedachte ganzheitliche Naturwissenschaft, die ja die Morphologie mit enthält, nicht mehr.
Goethe fordert von der von ihm vorgedachten ganzheitlichen Naturwissenschaft, daß sie ihre Erkenntnissuche nicht nur auf die Quantitäten, d.h. auf die mathematisch zu erfassenden Phänomene, sondern auch auf die Formen und Qualitäten richten soll, welche die herrschende „Naturwissenschaft“ getreu der Newtonschen Forderung bis heute konsequent negiert hat.
Kein anderer als Schiller hat die wahre Bedeutung der Goetheschen Naturwissenschaft erkannt, die den Menschen als Teil der Natur ansieht und deren höchstes Ziel es ist, Auskunft über den Menschen zu erhalten. In seinem Geburtstagsbrief an Goethe aus dem Jahre 1794 bezeichnet Schiller dessen Bestreben, den Menschen „genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen“ als „eine große und wahrhaft heldenmäßige Idee.“54
Für Goethe gehört „der Mensch mit zur Natur“55 und vornehmste Aufgabe einer Naturwissenschaft, wie er sie verstanden und betrieben hat, ist es, Erkenntnisse über den Menschen und damit auch über sich selbst zu gewinnen. Ein schönes Bekenntnis zu dieser Art von Naturwissenschaft findet sich in den Maximen und Reflexionen:
„Es ist ein angenehmes Geschäft, die Natur zugleich und sich selbst zu erforschen, weder ihr noch seinem Geiste Gewalt anzutun, sondern beide durch gelinden Wechseleinfluß miteinander ins Gleichgewicht zu setzen.“56
In einem vielbeachteten Essay „Die zwei Kulturen„57 hat sich 1959 C. F. Snow gegen die Auseinanderentwicklung der naturwissenschaftlich-technischen und der schöngeistig-künstlerischen Kultur und gegen die Beziehungslosigkeit zwischen ihnen gewandt. Vom Standpunkt einer ganzheitlichen Naturwissenschaft, wie sie von Goethe vorgedacht wurde, läßt sich der Hiatus zwischen den beiden Kulturen damit erklären, daß das Newtonsche Zentraldogma nur von der ersten, nicht jedoch von der zweiten der beiden Kulturen als verbindlich anerkannt wird. Der Zwiespalt zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlich-künstlerischer Betrachtungsweise ist ja in Wirklichkeit der Zwiespalt zwischen materialistischer und ganzheitlicher Betrachtungsweise. Zwischen einer Kultur, die von einer ganzheitlichen Naturwissenschaft geprägt und frei vom Newtonschen Dogmatismus ist, und einer schöngeistig-künstlerischen Kultur, die sich ebenfalls der ganzheitlichen Denkweise verpflichtet fühlt, ist eine Auseinanderentwicklung gar nicht denkbar, der beste Kronzeuge dafür ist Goethe. In seiner Morphologie finden sich die folgenden Sätze:
„Von andern Seiten her vernahm ich ähnliche Klänge, nirgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß nach einem Umschwung von Zeiten beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle gar wohl wieder begegnen könnten.“58
7. Goethe über das Genie und den Irrtum
Von jeher haben Menschen darüber nachgedacht, welches das Kriterium für Wahrheit ist. Und wer sich näher mit Goethe beschäftigt, wird sich die Frage stellen, woher Goethe seine außerordentliche Menschenkenntnis erhalten hat. Auf beide Fragen antwortet Goethe in einem Gespräch mit Eckermann am 13. Februar 1829:
„Ohne meine Bemühungen in den Naturwissenschaften hätte ich jedoch die Menschen nie kennengelernt, wie sie sind. In allen anderen Dingen kann man dem reinen Anschauen und Denken, den Irrtümern der Sinne wie des Verstandes, den Charakterschwächen und -stärken nicht so nachkommen, es ist alles mehr oder weniger biegsam und schwankend und läßt alles mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.“59
Goethe hat sich als großer Menschenkenner Gedanken gemacht über die Entstehung und Verbreitung von Irrtümern in Wissenschaft und Gesellschaft. Einerseits gehören Irrtümer zur menschlichen Natur, denn nur durch Irrtümer lernt der Mensch.
„Auch ist das Suchen und Irren gut, denn durch Suchen und Irren lernt man.“60
Andererseits hat der Irrtum etwas Verführerisches an sich, Goethe hat ihn als einen Schmeichler bezeichnet.
„Die Wahrheit widerspricht unserer Natur, der Irrtum nicht, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: die Wahrheit fordert, daß wir uns für beschränkt erkennen sollen, der Irrtum schmeichelt uns, wir seien auf ein- oder die andere Weise unbegrenzt.“61
Gerade das Genie ist es, das durch den Schmeichler Irrtum in besonderer Weise gefährdet ist, da es sich gern einredet oder einreden läßt, daß seinem (genialen) Denken keine Grenzen gesetzt sind. Auf Newton gemünzt schreibt Goethe:
„Das Genie […] hat seiner Natur nach den Trieb, über die Gegenstände zu gebieten, … sie seiner Art zu denken […] zu unterwerfen.“62
Newton ist für Goethe ein Paradebeispiel, welch verheerende Wirkung von einem Irrtum ausgehen kann, der von einem durch die Allgemeinheit anerkannten und preisgekrönten Genie in die Welt gesetzt wurde, da einem solchen Menschen der Ruf der Unfehlbarkeit vorausgeht.
Ein erster Multiplikator des Newtonschen Irrtums ist für Goethe die von Newton begründete und zur Herrschaft gelangte „Naturwissenschaft“: Die Auseinandersetzung mit dieser Wissenschaft und ihren Irrtümern ist für Goethe gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit den menschlichen Schwächen, die diese Irrtümer ermöglichen. Goethe zu Eckermann:
„Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu tun ist nie so kennengelernt, wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht hätte. Da aber sah ich, daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben.“63
8. Goethe über die Protagonisten des Zeitgeistes
Goethe hat sich kritisch geäußert nicht nur gegenüber den Genies (Newton), die Verursacher von fundamentalen Irrtümern sein können, sondern auch gegenüber den Irrtumskopisten, die jene Irrtümer vervielfältigen und weiterverbreiten und so zu zeitgeistigen Irrsalen machen.
„Die Beharrlichkeit eines original Irrenden kann uns erzürnen; Die Hartnäckigkeit der Irrtumskopisten macht verdrießlich und ärgerlich.“64
Ein solcher Irrtum verbreitet sich wie eine Epidemie in der Gesellschaft und wird schließlich zur Meinung der Majorität. Im Mittelpunkt seiner Kritik stehen die Lehrer an den Universitäten und Schulen sowie die Zeitungen.
„Man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite steht.“65
Goethe hat sich immer wieder gegen das sture Nachbeten überkommener Lehren und Irrlehren durch die Vertreter der Schulwissenschaft gewandt. Seine Worte klingen heute wie eine Mahnung gerade an die Vertreter der modernen „Naturwissenschaft“:
„In Wissenschaften, sowie auch sonst, wenn man sich über das Ganze verbreiten will, bleibt zur Vollständigkeit am Ende nichts übrig, als Wahrheit für Irrtum, Irrtum für Wahrheit gelten zu machen. Er kann nicht alles selbst untersuchen, muß sich an Überlieferung halten und, wenn er ein Amt haben will, den Meinungen seiner Gönner frönen. Mögen sich die sämtlichen akademischen Lehrer hiernach prüfen!“66
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Die Irrtümer in der Wissenschaft werden von den Schulgelehrten auf die nächste Generation weiter vererbt. Goethe hat einen deutlichen Unterschied gemacht zwischen Weisheit und Gelehrsamkeit und fordert für das Bildungswesen:
„Weise, nicht bloß gelehrte Menschen gehören dazu, die erste, die notwendigste Bildung des Menschen zu verschaffen.“67
Zwei weitere Äußerungen Goethes:
„Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und danach handelt, der hat Wahres genug. Das heranwachsende Kind ist weise in diesem Sinne.“68
„Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, so daß am Ende nichts übrigbleibt als der Philister.“69
Diese drei Äußerungen Goethes im Zusammenhang gelesen, können nur so verstanden werden, daß dem heranwachsenden Kind das ganzheitliche Denken gemäß ist, dieses ihm aber später durch die „bloß gelehrten Menschen“ wieder ausgetrieben wird. An die Stelle einer allseitigen Bildung tritt eine einseitige Verbildung der jungen Generation.
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Ein sehr distanziertes Verhältnis hatte Goethe zur Presse. Die folgenden Äußerungen bedürfen keines Kommentars, sie treffen heute in noch höherem Maße auf das Fernsehen als den hauptsächlichen Protagonisten und Multiplikator des Zeitgeistes zu.
Auf die selbstgestellte Frage: „Sag mir, warum dich keine Zeitung freut?“, antwortete Goethe: „Ich liebe sie nicht, sie dienen der Zeit.“70
„Wenn man einige Monate die Zeitungen nicht gelesen hat und man lies't sie alsdann zusammen, so zeigt sich erst, wie viel Zeit man mit diesen Papieren verdirbt.“71
„Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeis't, den Tag im Tage vertut und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten! Ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere intercalieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, in's Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der Übrigen, und so springt's von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“72
„Was ist denn Preßfreyheit, nach der jedermann so schreit und seufzt, wenn ich nicht sagen darf, daß Newton sich in seiner Jugend selber betrog und sein ganzes Leben anwendete, diesen Selbstbetrug zu perpetuieren.“73
„Nach Preßfreyheit schreit niemand als wer sie mißbrauchen will.“74
9. Goethe, der Kritiker eines ganzen Zeitalters
Goethe hat mit einer bewundernswerten Klarheit erkannt, daß sein Zeitalter, welches ja auch das unsere ist und sich heute „modern“ nennt, durch die von Newton begründete neue „Naturwissenschaft“ hervorgerufen wurde, die sich heute ebenfalls „modern“ nennt. In einem Tagebucheintrag aus dem Jahre 1831 schreibt er:
„Ich laß in Galilei´s Werken. […] Er starb in dem Jahre, da Newton geboren wurde. Hier liegt das Weihnachtsfest unserer neueren Zeit.“75
Das Motiv für die Leidenschaftlichkeit, mit der Goethe gegen den Newtonschen Irrtum angekämpft hat, ist sicherlich nicht in Rechthaberei, sondern in seiner Erkenntnis zu suchen, daß dieser Irrtum in eine epochebildende geistige Kraft eingepflanzt wurde und dies schwerwiegende Konsequenzen für das ganze Zeitalter und die in diesem existierenden Gesellschaften haben wird.
In den Wanderjahren schreibt Goethe:
„Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.“76
Man kann dies wohl als eine ahnungsvolle Warnung vor den Folgen einer von keiner menschlichen Selbstbeherrschung gezügelten Beherrschung der Natur verstehen, die von der Newtonschen Wissenschaft und der von ihr hervorgerufenen Technik ermöglicht wird. Die warnenden Worte wurden zu einer Zeit geschrieben, als das „Maschinenwesens“ in den Anfängen seiner Entwicklung stand und die Postkutsche noch nicht von der Eisenbahn verdrängt worden war.
Seit dem Aufkommen der „Naturwissenschaft“ Newtonscher Prägung hat das einseitige rationale und materialistische Denken eine absolute Vormachtstellung unter den Geisteskräften des Menschen errungen und wird von den führenden Eliten zur Beherrschung der Natur und anderer Menschen eingesetzt. Inzwischen lenkt die Logik rationalistischer und materialistischer Denkmuster nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Wirtschaft, das Bildungswesen, die Politik und zunehmend auch die ganze Kultur. Symptomatisch ist der Schlachtruf „Kultur muß sich rechnen!“, der in letzer Zeit zunehmend Konjunktur hatte.
Eine Kultur, in der die Menschen nicht mehr das Gute, Schöne und Wahre zu erkennen und anzuerkennen vermögen und dem reinen Nutzendenken verfallen sind, ist dem Untergang geweiht. Die Warnrufe Goethes sind bis heute ungehört geblieben:
„Niebuhr hat Recht gehabt, wenn er eine barbarische Zeit kommen sah. Sie ist schon da, wir sind schon mitten darinne; denn worin besteht die Barberei anders als darin, daß man das Vortreffliche nicht anerkennt?“77
Der Newtonsche Irrtum wurde von der Wissenschaft und von der Gesellschaft derart verinnerlicht, daß er von niemandem mehr wahrgenommen wird; Goethe vergleicht ihn mit einem in das Fundament eingemauerten Stein, der für niemanden mehr sichtbar ist:
„Liegt der Irrtum nur erst, wie ein Grundstein, unten im Boden,
Immer baut man darauf, nimmermehr kommt er an Tag.“78
Eigener gravierender Irrtümer überführt zu werden, scheint für uns Menschen unerträglich zu sein und wir wehren uns dagegen, wie wir nur können. So ist es wohl auch zu erklären, daß der Naturwissenschaftler und Zeitkritiker Goethe in der breiten Öffentlichkeit bis heute ungehört blieb, und weiter, daß der Genannte im offiziellen Kulturstadtprogramm „Weimar '99“, welches vorgibt, Goethe ehren zu wollen, nicht vorkommt, da er in dieses Programm einfach nicht hineinpassen will und dieses nur stören würde.
Uns, die wir gleichzeitig Zeugen und Mittäter einer gedanken- und orientierungslosen Zeit sind, täte es not, den Naturwissenschaftler und Zeitkritiker Goethe endlich ernst zu nehmen, und dem, was er selbst gesagt hat, und nicht dem, was die vielen anderen über ihn gesagt haben, Gehör zu schenken. Das zweigesichtige Verhältnis, in dem Goethe zu unserer Zeit steht, hat Albert Schweitzer, der wie kein zweiter das innere Wesen Goethes verstanden hat, in einer seiner Goethe-Reden treffend formuliert:
„Als der Unzeitgemäßeste schaut er in unsere Zeit hinein, weil er mit dem Geist, in dem sie lebt, so gar nichts gemein hat. Als der Zeitgemäßeste rät er ihr, weil er ihr das, was ihr not tut, zu sagen hat.“
10. Blockade des ganzheitlichen Denkens durch eine totalitäre Wissenschaft
Die Apologeten der modernen „Naturwissenschaft“ haben es bis auf den heutigen Tag vermocht, die Erkenntnisse Goethes auf naturwissenschaftlichem Gebiet und in der Farbenlehre sowie sein darauf gegründetes ganzheitliches Denken als Phantasieprodukte eines berühmten Dichters zu verleumden und zu verlächerlichen.
Goethe hat die Behandlung, die ihm als Naturwissenschaftler von seiten der herrschenden „Naturwissenschaft“ zuteil geworden ist, in einem Gespräch mit Soret folgendermaßen geschildert:
„Es wird aber in den Wissenschaften auch zugleich dasjenige als Eigentum angesehen, was man auf Akademien überliefert erhalten und gelernt hat. Kommt nun einer, der etwas Neues bringt, das mit unserm Credo, das wir seit Jahren nachbeten und wiederum anderen überliefern, in Widerspruch steht und es wohl gar zu stürzen droht, so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf, und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken. Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man tut, als höre man nicht, als verstände man nicht; man spricht darüber mit Geringschätzung, als wäre es gar nicht der Mühe wert, es nur anzusehen und zu untersuchen; und so kann eine neue Wahrheit lange warten, bis sie sich Bahn macht. … Die mathematische Gilde hat meinen Namen in der Wissenschaft so verdächtig zu machen versucht, daß man sich scheut, ihn nur zu nennen.“ Und weiter sagte er in diesem Gespräch: „Man suchte mich und meine Lehre auf alle Weise anzufeinden und meine Ideen lächerlich zu machen; aber ich hatte nichtsdestoweniger über mein vollendetes Werk (die Farbenlehre) eine große Freude. Alle Angriffe meiner Gegner dienten mir nur, um die Menschen in ihrer Schwäche zu sehen.“79
Goethe hat mit dieser Schilderung keinesfalls übertrieben. Daß er hier nicht nur die Einschätzung seiner wissenschaftlichen Bemühungen durch die Mitwelt, sondern auch die der Nachwelt, und zwar bis zum heutigen Tag, treffend charakterisiert hat, dafür gibt es zahllose Beispiele.
Der prominente Naturwissenschaftler Emil Du Bois-Reymond bezeichnete in seiner 1882 gehaltenen Antrittsrede als Rektor der Berliner Universität, die den aufschlußreichen Titel „Goethe und kein Ende“ hatte, Goethes Farbenlehre als „totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten“ und schloß die Rede mit der Aufforderung, man solle den Naturforscher Goethe „endlich in Ruhe lassen.“80
Selbst bei einem Nobelpreisträger der Physik offenbart sich völliges Nichtverstehen, wogegen sich die Kritik Goethes an Newton richtete. Werner Heisenberg schreibt in seinem Buch „Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft“: „er (Goethe) hätte nicht nur die Ansichten Newtons bekämpfen sollen, sondern sagen müssen, daß die ganze Physik Newtons: Optik, Mechanik und Gravitationsgesetz vom Teufel stammt.“81 Jeder kann sich davon überzeugen, daß Goethe an keiner Stelle seiner naturwissenschaftlichen Schriften die Daseinsberechtigung der Physik sowie die Gültigkeit ihrer Ergebnisse in Zweifel gezogen hat, wohl aber klagt er die Physik der Überschreitung der ihr gesetzten Grenzen, der Verwendung inadäquater Begriffe und des Alleinvertretungsanspruchs in der Naturwissenschaft an.
Die Ablehnung der Goetheschen Farbenlehre durch die Physik und die moderne „Naturwissenschaft“ könnte noch als Abwehrreaktion verstanden werden, um den eigenen Besitzstand und Herrschaftsanspruch nicht durch einen Querdenker gefährden zu lassen. Erstaunlich ist dagegen, daß die Goethesche Lehre von seiten mancher Geistes- und Literaturwissenschaftler eine Ablehnung erfahren hat, die noch päpstlicher als der Papst ist. Davon nur ein neueres Beispiel. Der Göttinger Literaturwissenschaftler Albrecht Schöne bezeichnet in seinem Buch „Goethes Farbentheologie„82 Goethes Farbenlehre als eine „Heilslehre“ und „eine im Medium der Wissenschaft operierende Farbentheologie“ und zieht folgendes Fazit: „Von unserer (vom Autor für richtig gehaltenen) Farbenmathematik führt kein Weg zurück zu Goethes Farbentheologie“. Die Frage, ob ein der mathematischen Behandlung zugängliches physikalisches Phänomen und eine Farbempfindung von der Naturwissenschaft in einen Topf geworfen werden dürfen, wird in diesem Buch gar nicht berührt.
Die Philosophie, welche früher als Hort des ganzheitlichen Denkens galt, befindet sich heute mehrheitlich im Schlepptau der modernen „Naturwissenschaft“ und hat sich deren Position gegenüber dem Naturwissenschaftler Goethe zueigen gemacht. So schreibt der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Nachwort zum Band XIII der Hamburger Goethe-Ausgabe: „In seiner Kritik der herrschenden Farbenlehre hat Goethe den klaren Sinn der Worte und Versuche Newtons vierzig Jahre lang mißverstanden […] Wie konnte ein so großer, so umfassender Geist so irren? Ich weiß nur eine Antwort: er irrte, weil er irren wollte.“83 – In Abwandlung dieses Diktums eines der führenden Philosophen unserer Zeit könnte man sagen: Die moderne „Naturwissenschaft“ irrt, weil sie irren muß; würde sie die Wahrheit bekennen, müßte sie ja ihren Herrschaftsanspruch auf wissenschaftlichem Gebiet aufgeben.
Goethe ist nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch abqualifiziert worden. Der amerikanische Psychoanalytiker K. R. Eissler beispielsweise charakterisiert Goethes leidenschaftliches Engagement für seine Farbenlehre als „partielle paranoide Psychose.“84 Nicht weit von dieser Einschätzung entfernt ist das Urteil der Goethe-Experten des Goethe-Nationalmuseums in Weimar; im Führer durch die im Goethejahr 1999 neueröffnete Dauerausstellung „Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik 1759 – 1832“ wird die Farbenlehre als Goethes „lebenslanger Spleen“ bezeichnet. Dieses Urteil diffamiert nicht nur jenes Werk, welches Goethe als seine größte Lebensleistung betrachtet hat. Ein Brief, den Goethe am 11. Mai 1810 an seine Vertraute Charlotte von Stein schrieb und in dem er ihr das Erscheinen der Farbenlehre ankündigte, enthält das folgende Selbstbekenntnis:
„Es reut mich nicht, ihnen (den Studien zur Farbenlehre) so viel Zeit aufgeopfert zu haben. Ich bin dadurch zu einer Kultur gelangt, die ich mir von einer anderen Seite her schwerlich verschafft hätte.“85
Anmerkungen Goethe-Bibliographie: WA = Goethes Werke. Weimarer Ausgabe (Sophienausgabe). 143 Bände, Weimar, 1887-1914. Abt. I: Werke, Abt. II: Naturwissenschaftliche Schriften, Abt. III: Tagebücher, Abt. IV: Briefe, Abt. V: Gespräche.. 1 WA I 50, 247. Hermann und Dorothea
2 WA IV 19, 298. An Alexander von Humboldt, 3. 4. 1807.
3 Zitiert nach Otto Westphal: Die Weltgeschichte im Spiegel von Goethes Farbenlehre; Stuttgart 1957, S. 88.
4 Außer Newton (1643 – 1727) zählen Descartes (1596 – 1650) und Galilei (1564 – 1642) zu den Gründungsvätern der modernen Naturwissenschaft; diese drei Männer schufen die geistigen Grundlagen dieser Wissenschaft. Der Beitrag von Descartes bestand in der analytischen oder zergliedernden Denkmethode, wonach Gedanken und Probleme, die sich als Ganzes einer Bearbeitung entziehen, in Teile zerlegt und diese in ihrer logischen Ordnung aufgereiht werden können. Galilei führte das Experiment in die Wissenschaft ein und lenkte die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf die quantifizierbaren Eigenschaften der Materie. Sein Credo: „Zu messen, was man messen könne, und meßbar zu machen, was man noch nicht messen könne“, ist zu einem methodischen Grundaxiom der modernen Naturwissenschaft geworden. Newton schließlich fügte mit seiner Forderung nach einer Mathematisierung der Wissenschaft den Schlußstein in deren geistiges Fundament ein.
5 WA V 5, 331.
6 WA II 5b, 374.
7 Goethe versteht unter „Synthese“ nicht in erster Linie die chemische Synthese, sondern die „höhere Synthese“. „Was ist höhere Synthese als ein lebendiges Wesen“ schreibt er; WA II 11, 71.
8 WA II 4, 463.
9 WA I 42b, 252.
10 WA I 33, 195.
11 WA IV 20, 90.
12 WA I 28, 69.
13 WA II 4, 106; WA II 5a, 224.
14 WA II 11, 101.
15 WA IV 48, 105; WA IV 49, 229.
16 WA IV 20, 90.
17 Wir werden der Goetheschen Einschätzung folgen und bei Erwähnung der von Newton begründeten „Naturwissenschaft“ Gänsefüßchen verwenden.
18 WA V, 205. Zu Soret, 10. 2. 1830.
19 WA IV 49, 283.
20 Opticks: Or A Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light. London 1704.
21 WA II 4, 97. Newtons Persönlichkeit.
22 Ebd.
23 WA II 2, 48.
24 WA II 4, 291. Konfession des Verfassers
25 WA II 4, 296. Konfession des Verfassers
26 WA II 1, 2. §3, FL 1.
27 Küppers, H.: Die Logik der Farbe. München 1981, S. 16.
28 WA II 1, 1. §1, FL 1.
29 Über diese Zusammenarbeit geben der Brief Schillers an Goethe vom 16. 2. 1798 und der Brief Goethes an Schiller vom 17. 2. 1798 Auskunft. Schiller-Nationalausgabe; Bd. 29, S. 206; Weimar 1977; bzw. WA IV 13, 67.
30 WA II 1, XXXIV. FL 1, Einleitung.
31 WA II 1, 287. §725. Verhältnis zur Mathematik.
32 WA I 1, 325.
33 WA V 7, 34. EG 19. 2. 1829.
34 WA IV 48, 169. An Zelter, 31. 3. 1831.
35 WA V 6, 56. EG 1. 2. 1827.
36 WA II 1, XIV. Einleitung.
37 WA V 5, 74. EG 2. 5. 1824.
38 WA II 1, 1. FL 1, §1.
39 WA IV 10, 120. An Lichtenberg, 20. 10. 1793.
40 WA II 1, 2. FL 1, §3.
41 WA II 1, 21. FL 1, §49.
42 WA II 1, 22. FL 1,§50.
43 WA II 1, 323. FL 1, §811.
44 WA II 1, 35. FL 1, §75.
45 WA II 2, 278. FL 2, §635.
46 WA II 5b, 376. Nachträge zur Farbenlehre. Ältere Einleitung.
47 WA II 5a, 383.
48 WA II 4, 373
49 WA II 5b, 374.
50 WA V 5, 74. EG 2. 5. 1824.
51 WA II 6, 293.
52 WA IV 10, 271.
53 WA II 6, 298.
54 Schiller-Nationalausgabe; Bd. 27, Nr. 22; Weimar 1958.
55 WA IV 48, 169. An Zelter, 31. 3. 1831.
56 WA I 42b, 256. M&R.
57 C. P. Snow: The two cultures and the scientific revolution. New York 1959.
58 WA II 6, 139/140. 1. Heft seiner Schriftenreihe „Zur Naturwissenschaft überhaupt“ (1817); GW 12, 218;.
59 WA V 7, 16. EG 13. 2. 1829.
60 WA V 5, 195. Goethe zu Eckermann, 1. 5. 1825.
61 WA I 42b, 151. Maximen und Reflexionen.
62 WA II 5a, 163. Über Newtons Hypothese der div. Refrangibilität.
63 WA V 5, 234. Zu Eckermann, 15. 10. 1825.
64 WA II 4, 106. Newtons Persönlichkeit.
65 WA V 6, 360. Zu Eckermann, 16. 12. 1828.
66 WA II 11, 111. Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen.
67 Artemis-Gedenkausgabe der Werke Goethes; Bd. 22, S. 593. Zürich und Stuttgart 1948 ff.
68 WA I 42b, 179. [Wer sich …] Maximen und Reflexionen.
69 WA V 6, 296. Zu Eckermann, 12. 3. 1828.
70 WA I 2, 293.
71 WA I 42b, 237.
72 WA I 42b, 171.
73 WA II 5b, 376. Nachträge zur Farbenlehre, Ältere Einleitung, Paralipomena.
74 WA I 42b, 237.
75 WA III 13, 98. Tagebucheintrag Juni 1831.
76 WA I 25a, 249. Wanderjahre.
77 WA V 8, 61. Zu Eckermann, 22. 3. 1831.
78 WA I 5a, 229.
79 WA V 4, 336. Zu Soret, F. J. 30. 12. 1823.
80 Bois-Reymond, Emil du.: Goethe und kein Ende. Rede. Leipzig 1883.
81 Heisenberg, W.: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Leipzig 1936.
82 Schöne, A.: Goethes Farbentheologie. München 1987.
83 Von Weizsäcker, C. F.: Hamburger Goethe-Ausgabe der Werke Goethes, Bd. XIII. 1955.
84 Eissler, K. R.: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. Frankfurt/Basel 1983/85.
85 WA VI 21, 289. An Charlotte von Stein am 11. 5. 1810.
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