Sich den Hass auf der Zunge zergehen lassen
Ich empfinde, gemeinsam mit vielen anderen, Mitgefühl mit den Opfern des Unglücks in Berlin. Die lebendige Trauer und Anteilnahme um mich herum kann mich jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Mitgefühl gebrochen ist, und zwar als Verärgerung darüber, dass es überhaupt möglich wurde, dass es andererseits der Profilierung zum Beispiel politischer Akteure diente. Die höchste Form echter Anteilnahme besteht eventuell in der Leistung medizinischer und seelischer Hilfe. Diese Hilfe kann selbstverständlich nicht jeder aufbringen. Nachworte erfüllen keinen Ersatz. Trauer kann nicht der Endzweck des Denkens und Fühlens sein. Ein Teil Ärger entsteht eventuell durch ein Gefühl für Dilettantismus, wenn man an die offene Lage der Situation denkt. Ein gigantisches Rechtssystem kann bislang allem Anschein nach weder vorher, noch nachher, einen Gewalt-Akteur dieser Größenordnung herausfiltern. Die Mörder sind unter uns, und man empfindet die eigene Anteilnahme als billigen Ersatz für staatliche Unfähigkeit.
Unfall oder Angriff
Auch ein Unfall kann Anlass zur Trauer geben. Die Opfer der Verkehrstoten auf hiesigen Straßen, bei denen man nicht von absichtlicher Schädigung ausgehen kann, geben Möglichkeit, das Verhalten zu überdenken, sich sozialverträglichen Konzepten der Mobilität anzuschließen, kurzum das Konzept Freiheit zu durchdenken, und angemessen in weiteren Plänen zu reagieren. Das sind Alltagsfragen. Während man im Falle des Unglücks vom Neunzehnten Zwölften in Berlin noch gar nicht wusste, ob ein Unfall vorliegt, was immerhin möglich und nicht unwahrscheinlich wäre, wuchs die unbewusste Bereitschaft, sich angegriffen zu fühlen. Der Passant im alltäglichen Straßenverkehr hat teilweise ähnlichen Grund, sich angegriffen zu fühlen. Es ist die geistige Vorwegnahme und zugleich additive Reflexion über eine asymmetrische Bedrohung: dass der schwächere Beteiligte als Opfer fungierte, ganz egal, ob man im Recht oder im Unrecht wäre. Und auch das sich im Unrecht befindliche Opfer hätte nicht den Preis des Lebens zu entrichten, nicht einmal ähnlich eingreifende Preise. Hieraus folgt recht schnell, dass es für Opfer von Terror, Willkür und Unfällen keine Gerechtigkeit gibt. Das Entschädigen bleibt ein nachgelagertes Vorgehen, in dem der Schaden ein integrales Element ist. Die Bereitschaft der Schädigung ist jedoch ein offenes Feld der Fragen, ob dies nun bewusst oder unbewusst, ob willkürlich oder unwillkürlich geschieht. So viele Antworten erleben wir nun, ohne die Fragen zu erkennen, vom Vorhaben sich vom Feiern und Markten nicht abbringen zu lassen, bis hin zu neuen Grenzschutzplänen. Wir sollten uns eventuell nicht daran gewöhnen (lassen), die mangelnde Zurechnungsfähigkeit gewisser Akteure zum Maßstab unserer eigenen Gedanken und Taten zu küren.
Warum Hass keine Lösung sei
Der Terror hat an dieser Stelle eine weitere Dimension eingezogen, jener fußt ja gerade auf der Option, dass ein gerechtes Status quo ante gar nicht mehr möglich werden kann, dass dies aber doch gesucht werden muss, da man diesem nicht einfach mit Akzeptanz oder Gleichgültigkeit begegnen kann. Hass ist unter anderem eine mehr oder weniger natürliche Reaktion, die Unerträglichkeit und Unabwendbarkeit des Schmerzes des Gewissens oder der Gefühlslage in eine kleine Zone oberhalb des Unbewussten zu bewegen. Trauer ist nur der Saum des an sich zur Klarheit drängenden Gefühls. Man kann den Tod hassen, wie man das Unglück hassen kann, aber der Verstand willigt ein, den Kampf gegen ein natürliches Prinzip, das der Tod verkörpert, als aussichtslos erscheinen zu lassen. Es bleibt kaum anderes übrig, als sich dem natürlichen Wissen zu überlassen. Im Falle politischer, sozialer, globaler oder eben das Prinzip der Individuation überspannender Fragen sieht dies jedoch etwas anders aus. Wir können die Lage beliebig hassen, doch verharrt dieses Gefühl nur vor der geistigen Stufe, durch verstärkten Einsatz von Intelligenz die gesamte Lage oder wenigstens Teile davon umzubilden. Der antwortende Hass ist schnell entdeckt nur als Hass auf die eigene ohnmächtige Lage, welche dem Unglück nach als diese fixiert bleibt, welche andererseits nur zum vermehrten Auskosten dieser bitteren, trüben, tiefen Frucht des Lebens verführt.
Was bleibt anderes als Unerschrockenheit
Empathie, Mitgefühl, Anteilnahme, diese sozial wertvollen, richtigen Größen sollten nicht dazu verleiten, sich sozusagen an der Trauer, an der Bitternis zu ergötzen. Trauernd, ohne reale Macht über die Ereignisse verbliebe man ratlos verzweifelnd. Doch dieser Zweifel kann nicht allein durch äußere Kompetenz oder Beschwichtigung zerstäubt werden. Eine kriminalistische Aufklärung des Falles wird nicht die Lösung des Falles in seiner Tiefendimension darstellen können. Jeder dieser Fälle unterliegt heutzutage der Option der möglichen Vervielfältigung. Dieses Prinzip der Nachahmung wird durch die uns eigene bewohnte Umwelt vorgegeben und ermöglicht. Die Einmaligkeit der Tragödie sagt nichts über die Originalität des Falles und des Planes aus, die zu ihr führten. Der Anlass wäre schlecht gewählt, um nun allgemeine, vorgefertigte Strategien einsetzen zu lassen, die hinreichend nur auf der Ebene von Meinungen erstellt wurden. Es käme eventuell viel mehr darauf an, sich den Hass auf der Zunge zergehen zu lassen, den Hass auf die eigene Ohnmacht wie Unzulänglichkeit, wie den Hass beliebiger Akteure, diesen in seine Elemente aufzulösen, quasi zu erschmecken, um vom Geschmack des Todes, der Trauer abzukommen. Dieses Erschmecken wäre ein begriffliches Denken, das einerseits nicht nur in globalen Bögen, ideologischen Mustern und kausalen Anhaltspunkten verharrt, sondern solche eben auf den Punkt bringt, welches andererseits den Mangel an realer Zurechnungsfähigkeit versteht, die überall und beliebig auftauchen kann. Wer Grund- und Menschenrechte nicht beherzigen kann, ist pauschal betrachtet nicht voll zurechnungsfähig. Dagegen ist keines der sich lokal erstreckenden Systeme immun, diese Gefahr besteht auf allen Seiten von Grenzen. Und aus dieser Analyse des Geschmacks sollte man eventuell auch einmal Konsequenzen für die eigene Kultur der Planung und Auseinandersetzung ziehen.
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