Nachdem die amerikanischen Truppen am 10. April 1945 Rodach erobert hatten, kamen in der Bevölkerung Ängste auf, die „Rote Armee“ könnte in einigen Wochen auch den Landkreis Coburg besetzen, weil sie alte Karten aus der Zeit vor 1918 mit sich führten, worauf das Coburger Land noch als zu Thüringen gehörend verzeichnet wäre. Die Ängste verschärften sich, als wenige Wochen nach dem Kriegsende 1945 russische Offiziere aus Hildburghausen von amerikanischen Offizieren nach Rodach eingeladen worden waren, um in der Villa Leuckart in der Heldritter Straße den Sieg über Deutschland zu feiern. Was verhandelten die denn dort, sagten die Rodacher. Sicher ginge es um Grenzverschiebungen bis Lichtenfels. Wer auf der Heldritter Straße vorbeikam, hörte nur russische und englische Laute und Gelächter. Dann aber, am 2. Juli 1945, verließen die amerikanischen Truppen Westsachsen und Thüringen, die Russen rückten nach, blieben aber bei Adelhausen stehen, ohne Rodach zu besetzen. Die Rodacher atmeten hörbar auf!
Es hätte aber auch 1919 ganz anders kommen können, und die Coburger hätten nicht mit überwältigender Mehrheit für den Anschluss an den Freistaat Bayern gestimmt. Da hätte aber auch das Land Thüringen, das es bis 1918 nicht gab, schneller entstehen müssen. Es gab damals lediglich acht Herzog- und Fürstentümer, vier ernestinische und vier nicht-ernestinische, und preußischen Streubesitz um Erfurt und anderswo. Alle diese Kleinstaaten hatten unterschiedliche Währungen, unterschiedliche Zollbestimmungen und Besitzansprüche untereinander. Eine Einigung in einem Freistaat Thüringen war ein langwieriger Prozess, der Jahre erfordern würde. Im Freistaat Bayern, in den sich das 1806 entstandene Königreich Bayern 1918 verwandelt hatte, sah alles anders aus! Er war eine in sich gefestigte Republik freier Bürger, nachdem die Revolutionswirren der Münchner Räterepublik 1918/19 überwunden waren. Vor allem aber war er ein reiches Agrarland, der seine Bewohner nach den Hungerjahren des Weltkriegs ausreichend ernähren konnte, in Thüringen dagegen wurde gehungert. Und Hunger ist ein mächtiger Ratgeber, wenn es um politische Entscheidungen geht. Und so stimmten am 30. November 1919 nur 3466 wahlberechtige Coburger für Thüringen, während 29 568 für Bayern stimmten. Das waren mehr als 88 Prozent der Coburger Bevölkerung. Die Wahlbeteiligung lag bei 75 Prozent. Einzelheiten kann man in Jürgen Erdmanns Würzburger Dissertation „Coburg, Bayern und das Reich“ (1969) nachlesen.
Man stelle sich vor, es wäre anders gekommen und die Coburger hätte damals für Thüringen votiert und hätten seit 1952, als die Länder aufgelöst wurden, als südlichster Landkreis zum DDR-Bezirk Suhl gehört. Lichtenfels wäre dann, aus DDR-Sicht, „kapitalistisches Ausland“ gewesen. Als SED-Generalsekretär Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz 1952 verkündet hatte, dass jetzt der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ vorangetrieben würde, war auch der Landkreis Coburg der Segnungen des Sozialismus teilhaftig geworden. Industriebetriebe und Bauernhöfe wurden verstaatlicht, das Schulsystem auf die neuen Erfordernisse umgestellt, die Handwerker unter staatlichen Druck gesetzt, bis sie aufgaben. Leider nur konnte sich kein Westbesucher, auch ehemalige Coburger, die über Westberlin geflohen waren, nicht, ein Bild von den Zuständen in der alten Heimat, wo noch Verwandte wohnten, machen. Der ganze Landkreis bis zur innerdeutschen Grenze bei Lichtenfels, war von der DDR-Regierung zur Sperrzone erklärt worden, die zu betreten selbst für Leute mit DDR-Pass unmöglich war, wenn sie dort keine Verwandten hatten. So konnte man erst nach dem 9. November 1989, als in Berlin die Mauer gefallen war, erfahren, was der Sozialismus in Coburg und Umgebung angerichtet hatte.
Vier Wochen vor dem 7. Oktober 1989, dem DDR-Staatsfeiertag, fuhr Ministerpräsident Willi Stoph (SED) in die grenznahen Gebiete, um die dortige Bevölkerung aufzumuntern und eine Verbesserung der immer noch schlechten Versorgungslage zu versprechen. Auf dem Rodacher Markplatz begrüßte ihn eine aufgeregte Gruppe von „Thälmann-Pionieren“, die in Reih und Glied vor der Stadtapotheke standen und andauernd im Chor riefen: „Für Frieden und Sozialismus immer bereit!“ Dann erschien eine Abordnung von Arbeitern der „Volkseigenen Kunststoffwerke“ (früher Siemens/Valeo) und überreichte dem Ministerpräsidenten aus der Hauptstadt Berlin ein Gastgeschenk. Auch die Genossen Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung und der Betriebsparteiorganisation waren gekommen und berichteten von unerhörten Erfolgen in der Planschlacht zu Ehren des 40. Jahrestag der 1949 gegründeten Republik. Schließlich erschienen zwei Vertreter des Volkseigenen Betriebs „Kinderspiele“ (früher Habermaaß/Wehrfritz), die eine Eisenbahn aus Holz für die Enkel des Ministerpräsidenten mitgebracht hatten. Als die Delegation über die August-Grosch-Straße Rodach verließ und an der ehemaligen Franzosenburg in die Coburger Straße einbiegen wollte, stellte sich ihnen eine kleine Gruppe von Rodachern in den Weg, angeführt vom Bürgermeister der Stadt, der in seiner Begleitung eine fast 100jährige Genossin mit sich führte, die noch Kurt Eisner (1867-1919) in München, der am 21. Februar 1919 erschossen worden war, gekannt haben wollte und mit ihm, wie sie immer wieder beteuerte, während der Novemberrevolution 1918 auf den Barrikaden gelegen hätte. Von ihm überreichte sie ein angebliches Schreiben, das nur einen Satz umfasste: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ Als Willi Stoph, der rasch erkannt hatte, dass diese Frau verwirrt war, ihr die Hand auf die Schulter legte und sie umarmte, brach sie in Tränen aus.
Als er dann in Richtung Coburg weiterfuhr, sah er bis zum Fuchsberg die unermesslichen Felder des Volkseigenen Gutes „Roter Oktober“ (früher Domäne Schweighof), auf denen nur noch Mais als Viehfutter angebaut wurde. Als sie die Höhe des Fuchsbergs erreicht hatten, sah die Landschaft ganz anders aus. Hier waren riesige Herden von Rindern zu sehen, die rechts und links von der mit Kastanienbäumen eingerahmten Staatsstraße weideten. Das waren Hunderte von Zuchtrindern der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft „Lichte Zukunft“, die für den Export ins „kapitalistische Westdeutschland“, der Devisen wegen, bestimmt waren. Willi Stoph lobte die Sollerfüllung der Rinderzüchtung. Das Rindersterben der Jahre 1960/64, als überall im Land Rinderoffenställe auf Beschluss des SED-Politbüros errichtet werden mussten, die als sowjetische Errungenschaft galten, erwähnte er nicht, als er im Verwaltungssitz Neida eine Pause einlegte. Diese Offenställe verfügten nur über ein Dach und eine Wand zur Wetterseite. Das Ergebnis dieser progressiven Agrarökonomie war, dass Hunderte von Rindern starben, sie erfroren oder wurden durch Nässe krank.
Als der Ministerpräsident über Neuses in Coburg einfuhr, sah er überall jubelnde und winkende Bürger auf den Straßen. Schon am Hauptbahnhof wurden Transparente mit Kampflosungen geschwenkt „Wir Coburger kämpfen mit der Sowjetunion für den Frieden“ oder „Nieder mit den Kriegsbrandstiftern in München“. Der Genosse Oberbürgermeister (SED) erklärte dem Ministerpräsidenten auf dem Rathausbalkon, dass der „Rat der Stadt“ beschlossen hätte, auf der Veste ein „Museum zur Geschichte der Feudalherrschaft in Thüringen“ zu errichten, mit besonderer Berücksichtigung des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha, dessen letzter Vertreter Carl Eduard (1884-1954) am 14. November 1918 abgedankt hätte. Der Hofgarten der Coburger Herzöge wäre inzwischen zum „Volkspark“ umgestaltet worden, und Schloss Ehrenburg wäre ein Feierabendheim für verdiente Parteiveteranen aus der ganzen Republik geworden. Als sie vor dem „Volkstheater“ auf dem Schlossplatz standen, erklärte der Oberbürgermeister, auf dem Pferd über den Arkaden reite nun nicht mehr Ernst II., sondern Karl Marx, und auf dem Pferd Ernsts I. säße jetzt Friedrich Engels. Der Ministerpräsident habe sicher auch gemerkt, dass nicht mehr Prinzgemahl Albert am Marktplatz auf dem Sockel stünde, sondern der unsterbliche Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Nur, dass die Tauben noch immer das Denkmal verschmutzten, könne bis heute nicht verhindert werden.
An der Morizkirche vorbei erreichten sie dann das 1605 eröffnete Gymnasium Casimirianum. Die Figur des Schulgründers Herzog Casimir war längst entfernt worden, dort stand jetzt Rosa Luxemburg in Bronze. Auf dem Weg zum Haupteingang berichtete der Oberbürgermeister, dass schon vor 30 Jahren der Latein- und Griechisch-Unterricht abgeschafft worden wäre, jetzt lernte man Russisch in allen Klassen bis zum Abitur. Auch das Zitat Goethes über seinen Vater Johann Caspar (1710-1782), der 1725/30 das Casimirianum besucht hatte, das man in der Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“(1811) nachlesen kann, war beseitigt worden. Jetzt prangte dort die elfte These von Karl Marx über Ludwig Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt darauf an, sie zu verändern.“ (1845).