Der Sozialismus ist am Ende – Interview mit Rainer Zitelmann

Straßenschild, Foto_ Stefan Groß

Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 30 Jahren noch ist, hat kein Hirn.“ Woran liegt das?

Zitelmann: Ich habe den Spruch schon oft gehört und sogar selbst schon mal zitiert. Aber wenn man mal einen Moment darüber nachdenkt, ist das doch ein großer Unsinn: Erstens gibt es viele junge Menschen, die nicht Sozialisten sind und dennoch ein großes Herz haben. Zweitens weiß ich nicht, warum es ein Zeichen für ein großes Herz sein soll, wenn man einer Ideologie anhängt, in deren Namen im 20. Jahrhundert etwa 100 Millionen Menschen umgekommen sind. Und drittens bin ich ein toleranter Mensch und lehne zwar heute sozialistisches Denken jedweder Art strikt ab, würde jedoch trotzdem nicht jeden Sozialisten als hirnlos beschimpfen. Leider schützt auch Intelligenz nicht vor sozialistischem Denken.

Warum sind junge Menschen, die den Sozialismus nicht erlebt haben, so sozialismusaffin?

Zitelmann: Auch viele Menschen, die den Sozialismus erlebt haben, trauern ihm nach. In Ostdeutschland sagen laut Umfragen immer noch die meisten Menschen: „Der Sozialismus ist eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“. Übrigens sagten dies in den 50er-Jahren – das zeigen Meinungsumfragen – auch viele Menschen in der Bundesrepublik über den Nationalsozialismus. Das Argument, dass der Sozialismus gescheitert ist und viel Leid über die Menschen gebracht hat, zählt für dessen Anhänger nicht. Sie entgegnen regelmäßig, dies sei ja nicht der „richtige“ und „wahre“ Sozialismus gewesen. Was ich nicht verstehen kann: Der Sozialismus wurde doch in so vielen Varianten ausprobiert – eben gerade scheitert der „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ nach dem Rezept eines Hugo Chávez in Venezuela kläglich. In meinem Buch zeige ich das ausführlich, und zitiere Leute wie Sahra Wagenknecht und führende amerikanische Linksintellektuelle, die Chávezs Wirtschaftspolitik als vorbildliches Modell priesen. Venezuela ist ja nur das aktuellste Beispiel. Ausnahmslos alle sozialistischen Experimente sind in der Geschichte gescheitert: In Russland hat man es anders versucht als in Maos China, in Kuba anders als in Jugoslawien, in der DDR anders als in Nordkorea, in Albanien anders als in Rumänien. Und dann gab es die vielen Varianten des „afrikanischen Sozialismus“, die das Elend der Menschen auf dem Kontinent nur vergrößert haben. Immer wieder ging es schief. Auch alle Formen des „demokratischen Sozialismus“ sind wirtschaftlich kläglich gescheitert, wie ich in meinem Buch ausführlich an den Beispielen von Großbritannien (60er- und 70-er Jahre), Schweden (70er- und 80er-Jahre) und Chile (Anfang der 70er-Jahre) zeige. Die Leute, die immer noch ein neues Experiment machen wollen, erinnern mich an die Frau, die schon 15 Mal einen Kuchen gebacken hat, das Rezept immer wieder leicht abwandelte – aber die Gäste mussten sich jedes Mal übergeben. Irgendwann muss man doch einsehen, dass das Rezept an sich Murks ist, egal wie man es abwandelt.

In Ihrem neuen Bauch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“  plädieren Sie für mehr Kapitalismus und weniger Sozialismus. Woher kommt die Illusion seiner besseren Gesellschaft?

Zitelmann: Der Grundfehler liegt ja darin, dass sich Intellektuelle im Kopf eine ideale Gesellschaft ausdenken und dann die Wirklichkeit daran messen. Da muss die Wirklichkeit immer schlecht abschneiden, weil es Ungerechtigkeit und Unvollkommenheiten gibt, die man sich in den Kopfkonstruktionen der idealen Gesellschaft natürlich einfach so „wegdenken“ kann. Das Neue an meinem Buch ist daher, dass ich einen ganz anderen Ansatz verfolge, nämlich einen wirtschaftshistorischen. Ich verzichte auf jedwede „grundsätzliche“ Argumentation und betrachte die Geschichte einfach als ein großes Experimentierfeld, bei dem sich in der Wirklichkeit gezeigt hat, was funktioniert und was nicht. Das heißt: Ich vergleiche nicht ein Kopfkonstrukt mit der Realität, sondern ich vergleiche Dinge, die man wirklich vergleichen kann, also z.B.: Nord- und Südkorea, die Bundesrepublik und die DDR, Venezuela und Chile. Oder auch die Verhältnisse in Maos China und die Auswirkungen der kapitalistischen Reformen, die Deng Xiaoping nach Maos Tod umgesetzt hat. Gerade das Beispiel Chinas ist schlagend, denn dort verhungerten noch Ende der 50er-Jahre 45 Millionen Menschen als Folge des sozialistischen Experimentes des „Großen Sprungs nach vorne“. In den letzten Jahrzehnten wurden Staatseinfluss und Planwirtschaft in China zunehmend reduziert, dem Markt wurde mehr Raum gegeben und das Privateigentum an Produktionsmitteln eingeführt. Ich beschreibe diesen Prozess sehr ausführlich im ersten Kapitel meines Buches. Das Ergebnis war, dass Hunderte Millionen Chinesen der Armut entronnen und in die Mittelschicht aufgestiegen sind.

Sie sprechen über Afrika: Alle reden von Entwicklungshilfe, ist das der richtige Weg?

Zitelmann: Ich antworte mal mit Abdoulaye Wade, der 2000 bis 2012 Präsident von Senegal, war: „Ich habe noch nie erlebt, dass sich ein Land durch Entwicklungshilfe oder Kredite entwickelt hat. Länder, die sich entwickelt haben – in Europa, in Amerika; oder auch in Japan oder asiatische Länder wie Taiwan, Korea und Singapur -, haben alle an den freien Markt geglaubt. Das ist kein Geheimnis. Afrika hat nach der Unabhängigkeit den falschen Weg gewählt.“ Dambisa Moyo, die in Sambia geboren wurde, in Harvard studierte und in Oxford promoviert wurde, hat die Entwicklungshilfe der reichen Länder noch schärfer kritisiert: In den vergangenen 50 Jahren wurde im Rahmen der Entwicklungshilfe über eine Billion Dollar an Hilfsleistungen von den reichen Ländern nach Afrika überwiesen. Sie fragt: „Geht es den Afrikanern durch die mehr als eine Billion Dollar Entwicklungshilfe, die in den letzten Jahrzehnten gezahlt wurden, tatsächlich besser?“ Ihre Antwort: „Nein, im Gegenteil: Den Empfängern der Hilfsleistungen geht es wesentlich schlechter. Entwicklungshilfe hat dazu beigetragen, dass die Armen noch ärmer wurden und dass sich das Wachstum verlangsamte. Die Vorstellung, Entwicklungshilfe könne systemische Armut mindern und habe dies bereits getan, ist ein Mythos. Millionen Afrikaner sind heute ärmer – nicht trotz, sondern aufgrund der Entwicklungshilfe“, so Moyo.

Ich nenne im zweiten Kapitel meines Buches zahlreiche Fakten, die das belegen. William Easterly, Professor für Ökonomie und Afrikastudien an der New York University, hält Entwicklungshilfe für weitgehend nutzlos, oft sogar kontraproduktiv. Afrika wird nur dann erfolgreich sein, wenn es sich ein Beispiel an asiatischen Ländern nimmt.

Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren, was bleibt von ihm?

Zitelmann: Als ich jung war, war ich Marxist. Als Teenager habe ich alle bedeutenden Werke von Marx und Engels regelrecht verschlungen und alles schriftlich zusammengefasst, sogar die drei Bände des „Kapital“. Damals war ich fasziniert von Marx. Aber anders als viele Intellektuelle halte ich Marx heute nicht für einen großen Denker. Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten, Marx zu beurteilen: Entweder haben ihn sämtliche seiner Anhänger in den vergangenen 100 Jahren komplett missverstanden. Das steckt im Grunde hinter der These derjenigen, die meinen, bislang seien seine „richtigen“ Ideen nirgendwo umgesetzt wurden. Oder aber die Ideen taugen einfach nicht zur Schaffung einer „besseren Gesellschaft“. Tatsache ist jedenfalls, dass kein einziger Staat, der sich auf Karl Marx berufen hat, das Los der Menschen verbessert hat, sondern dass alle – und zwar ausnahmslos – Not und Armut der Menschen vermehrt haben. Es wird viel von Marx gesprochen. Ich empfehle die Bücher von Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises und Milton Friedman. Das waren aus meiner Sicht viel größere und bedeutendere Denker als Karl Marx

Ist die Finanzkrise eine Krise des Kapitalismus?

Zitelmann: Das ist eine der ganz großen Legenden, mit denen ich im 9. Kapitel meines Buches aufräume. Und wahrscheinlich ist es sogar die gefährlichste Legende. Sie besagt, die Finanzkrise sei ein Ergebnis vom „Marktversagen“ und zu viel Deregulierung gewesen. Ich lege ausführlich dar, warum das nicht stimmt. Ich nenne hier nur zwei entscheidende Gründe für die Finanzkrise: Erstens die Politik der Zentralbanken, die massiv in das Wirtschaftsgeschehen eingegriffen haben und eingreifen, statt sich auf ihre eigentliche Aufgabe, also die Bewahrung der Geldwertstabilität, zu beschränken. Ich weise in meinem Buch detailliert nach, wie die Politik der amerikanischen Fed zuerst zur New Economy-Blase und dann – nach deren Platzen – zur Hauspreisblase geführt hat. Und derzeit werden weitere Blasen aufgebaut. Eine zweite Ursache der Finanzkrise waren die politischen Vorgaben der US-Regierung, ganz massiv Kredite an „Minderheiten“ und bonitätsschwache Gruppen auszugeben, die ohne diese politischen Vorgaben niemals Kredite bekommen hätten. Ohne diese politischen Vorgaben hätte es keine „subprime-Kredite“ und damit auch keine Hauspreisblase gegeben.

Was macht Südkorea richtig und Nordkorea falsch?

Zitelmann: Ich finde, gerade das Beispiel Nord- und Südkorea eignet sich sehr gut, um zu zeigen, was der Kapitalismus leistet. Bevor Korea 1948 in einen kapitalistischen Süden und einen kommunistischen Norden geteilt wurde, war es eines der ärmsten Länder der Welt, vergleichbar mit Afrika südlich der Sahara. Das blieb bis Anfang der 60er-Jahre so. Heute steht das kapitalistische Südkorea mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von etwa 28.000 Dollar vor Ländern wie Spanien, Russland, Brasilien oder China und ist die achtstärkste Exportnation der Welt. Produkte von koreanischen Unternehmen wie Samsung, Hyundai und LG sind weltweit beliebt. Schätzungen für Nordkorea beziffern das Bruttoinlandsprodukt auf 583 Dollar pro Kopf. Immer wieder sterben Tausende Nordkoreaner bei Hungersnöten. Deutlicher kann man wohl nicht die Überlegenheit eines kapitalistischen gegenüber einem kommunistischen Wirtschaftssystem zeigen.

Warum scheitern Ideologien wie der Sozialismus – oder kommt hier noch das große Comeback?

Zitelmann: Ich erinnere mich noch, als Anfang der 90er-Jahre unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Sozialismus die These vom „Ende der Utopien“ oder gar vom „Ende der Geschichte“ vertreten wurde. Ich habe mich schon damals dagegen gewandt. Der Sozialismus kann noch so oft scheitern, es wird immer wieder Menschen geben, die sagen: „Probieren wir es noch einmal“. Von Hugo Chavéz und seinen Bewunderern im Westen habe ich schon gesprochen. Sogar junge Amerikaner haben heute eine starke Affinität zu antikapitalistischen Ideen. Eine im Jahr 2016 durchgeführte Umfrage ergab, dass 45 Prozent der Amerikaner zwischen 16 und 20 für einen Sozialisten stimmen würden und 20 Prozent sogar für einen Kommunisten. Nur 42 Prozent der jungen Amerikaner sprachen sich für eine kapitalistische Wirtschaftsordnung aus (verglichen mit 64 Prozent der Amerikaner über 65 Jahren). Erschreckend ist übrigens, dass bei der gleichen Umfrage ein Drittel der jungen Amerikaner meinte, unter George W. Bush seien mehr Menschen getötet worden als unter Josef W. Stalin. Bei einer Umfrage von Infratest dimap in Deutschland 2014 stimmten 42 Prozent der Deutschen (in Ostdeutschland 59 Prozent) der Antwort zu, der „Sozialismus/Kommunismus ist eine gute Idee, die bisher nur schlecht ausgeführt wurde“. Schauen Sie doch mal, was die LINKE, aber auch die Jusos in Deutschland wollen: Sie nennen das demokratischer Sozialismus, also etwas, das schon so oft kläglich gescheitert ist.

Die Hauptgefahr geht allerdings derzeit nicht von denen aus, die sich zum Sozialismus bekennen. Die Hauptgefahr sehe ich darin, dass der Staat und die Zentralbanken immer stärker regulierend eingreifen und Marktgesetze aushebeln. In Deutschland können wir das am Beispiel der Energiewirtschaft gut beobachten. Und in den USA stellt ein Donald Trump derzeit den Freihandel massiv in Frage und setzt auf Protektionismus.

Warum mögen eigentlich Intellektuelle den Kapitalismus nicht?

Zitelmann: Das ausführlichste Kapitel meines Buches behandelt genau diese Frage. Mir persönlich ist dieses Kapitel am wichtigsten. Denn es ist ja erklärungsbedürftig, dass ein System, das weltweit mehr zur Armutsbekämpfung und Wohlstandsmehrung beigetragen hat als jedes andere System, gerade von Intellektuellen so sehr kritisiert und bekämpft wird. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Intellektuelle haben eine Affinität zu „konstruierten“ Systemen, weil ihre Tätigkeit ja genau darin besteht, Gedankengebäude zu konstruieren. Der Kapitalismus ist genau das Gegenteil. Er ist eine spontan entstandene Ordnung, ähnlich wie die Sprachen, die sich ja auch niemand ausgedacht hat. Und dann muss man natürlich einfach sehen, dass hier zwei Eliten – also die Bildungselite und die ökonomische Elite – im Wettbewerb stehen. Intellektuelle verstehen nicht, warum ein kleiner Unternehmer, der nicht viele Bücher gelesen und nicht studiert hat, dafür aber eine pfiffige Idee hatte, oft wesentlich mehr verdient, ein schöneres Haus hat, ein schöneres Auto und vielleicht sogar die schönere Frau. Für jemanden, nach dessen Vorstellung derjenige oben sein müsste, der die meisten Bücher gelesen hat, scheint eine Welt, in der das nicht so ist, wie auf den Kopf gestellt. Er sagt sich wohl: „Wenn der Markt dazu führt, dass sogar ein Philosoph weniger verdient als der ungebildete Franchisenehmer von sieben McDonald’s-Restaurants, dann versagt der Markt offenbar, dann ist der Markt unfair und ungerecht. Und die Gerechtigkeit muss mindestens teilweise wieder hergestellt werden, indem man die Reichen kräftig besteuert.“ Intellektuelle verabsolutieren eine ganz bestimmte Art des Lernens, das explizite, akademische Lernen. Unternehmer lernen auf eine ganz andere Art, man nennt das implizites Lernen. Dafür gibt es jedoch weder Zeugnisse noch akademische Grade, jedoch sehr wohl ökonomische Belohnungen. Mir ist das klar geworden bei meiner zweiten Dissertation über die „Psychologie der Superreichen“ als ich erkannte, dass akademische Bildung für Unternehmer eine untergeordnete Rolle spielt und dafür das implizite Lernen, das zu implizitem Wissen (manche sprechen von Bauchgefühl) führt eine viele entscheidendere Rolle spielt. Das verstehen die meisten Intellektuellen nicht. Für sie zählt die Leistung eines solchen Menschen einfach nicht. Ich hatte mal versucht, einen Wikipedia-Eintrag über den bedeutendsten deutschen Immobilieninvestor in den USA zu erstellen, der dort sehr erfolgreich 15 Milliarden Dollar investiert hat. Diesen Investor befanden die Wikipedia-Adminstratoren für unwürdig bzw. unwichtig, während jeder kleine Fachhochschulprofessor, der ein paar Bücher oder Aufsätze publiziert hat, einen Eintrag erhält, was dessen ungeheure Wichtigkeit unterstreicht.

11.Was zeichnet für Sie einen „guten“ Kapitalismus aus?

Zitelmann: Den „reinen“ Kapitalismus gibt es nirgendwo auf der Welt, ebenso wenig wie den reinen Sozialismus. In der Realität gibt es nur Mischsysteme. Deshalb halte ich auch nicht so viel von libertären oder anarchokapitalistischen Utopien eines „rein“ kapitalistischen Systems. Zwar wäre mir eine solche Utopie wesentlich sympathischer als eine sozialistische Utopie, aber ich halte nun einmal generell nicht so viel von Kopfkonstrukten einer idealen Welt. Ich beobachte einfach, dass sich in den real existierenden Mischsystemen die Lage der Wirtschaft und der Menschen bessert, wenn der Kapitalismus-Anteil erhöht und der Staatsanteil reduziert wird. Das Beispiel Chinas habe ich ja schon genannt. Aber schauen Sie mal auf Schweden: Das war in den 70er- und 80er-Jahren ziemlich sozialistisch und ist damit an die Wand gefahren. Die Schweden haben das erkannt und ab den 90er-Jahren wieder mehr auf den Markt als auf den Staat gesetzt. Das Ergebnis war, dass die gravierenden wirtschaftlichen Probleme Schwedens gelöst wurden. Das gleiche geschah durch die Reformen von Margaret Thatchter und Ronald Reagan in den 80er-Jahren, auf die ich sehr ausführlich in meinem Buch eingehe.

Wie hat der Kapitalismus Ihr Leben geprägt, von links-außen zum Unternehmer?

Zitelmann: In meiner Jugend war ich Antikapitalist, so wie viele junge Menschen und Intellektuelle. Später habe ich mich davon gelöst. Schließlich bin ich selbst Unternehmer und Investor geworden, also Kapitalist. Wenn Sie mich fragen, ob ich mehr Menschen geholfen habe durch meine „Rote Zelle“ in den 70er-Jahren oder mehr Menschen, als ich im Jahr 2000 meine Firma gegründet und damit zum Beispiel 50 Arbeitsplätze geschaffen habe, dann liegt die Antwort wohl auf der Hand.

Sie kritisieren in Ihrem Buch immer wieder den Kapitalismuskritiker Piketty und haben nichts dagegen, dass die – auch hier in Deutschland, insbesondere von den Linken, kritisierte Schere zwischen arm und reich immer größer wird. Was ist ihr Argument dabei? Eine Vergrößerung er sozialen Schere ist doch im höchsten Grade ungerecht.

Zitelmann: Für Kapitalismuskritiker wie Piketty ist die Wirtschaft ein Nullsummenspiel, bei dem die einen (die Reichen) gewinnen, was die anderen (die Mittelschicht und die Armen) verlieren. Aber so funktioniert die Marktwirtschaft nun einmal nicht. Kapitalismuskritiker beschäftigen sich immer mit der Frage, wie der Kuchen verteilt wird; ich beschäftige mich damit, unter welchen Bedingungen der Kuchen größer oder kleiner wird.

Ich mache in meinem Buch ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, Sie lebten auf einer Insel, in der drei reiche Menschen je 5.000 Euro besitzen und 1.000 andere nur je 100 Euro. Das Gesamtvermögen der Inselbewohner beträgt also 115.000 Euro. Sie stünden vor folgenden Alternativen: Das Vermögen aller Inselbewohner wird durch Wirtschaftswachstum doppelt so groß und wächst auf 230.000 Euro. Bei den drei Reichen verdreifacht es sich jeweils auf 15.000 Euro, diese besitzen zusammen nunmehr 45.000 Euro. Bei den 1.000 anderen wächst es zwar auch, aber nur um 85 Prozent – jeder hat jetzt 185 Euro. Die Ungleichheit hat sich also deutlich erhöht.

Im zweiten Fall nehmen wir die 115.000 Euro und verteilen sie auf alle 1.003 Inselbewohner gleichmäßig, so dass jeder 114,65 Euro besitzt. Würden Sie es als Armer mit einem Ausgangsvermögen von 100 Euro vorziehen, in der Wachstums- oder in der Gleichheitsgesellschaft zu leben? Und was wäre, wenn durch eine Wirtschaftsreform, die zur Gleichheit führen soll, das Gesamtvermögen auf nur noch 80.000 Euro schrumpft, von denen dann jeder nur noch knapp 79,80 Euro erhält?

Natürlich kann man einwenden, das Beste sei, wenn sowohl die Wirtschaft und der allgemeine Lebensstandard wüchsen und gleichzeitig auch die Gleichheit zunehme. Tatsächlich hat der Kapitalismus genau dies sogar nach den Berechnungen von Piketty im 20. Jahrhundert geleistet. Dennoch ist das Gedankenexperiment sinnvoll, weil in der Antwort die unterschiedlichen Wertpräferenzen deutlich werden: Wem die Erhöhung der Gleichheit der Menschen untereinander bzw. der Abbau von Ungleichheit wichtiger ist als die Erhöhung des Lebensstandards für eine Mehrheit, wird sie anders beantworten als derjenige, der die Prioritäten umgekehrt setzt. Noam Chomsky, einer der führenden amerikanischen Linksintellektuellen, vertritt diesen Standpunkt, wenn er in seinem 2017 erschienenen Buch „Requium für den amerikanischen Traum“ schreibt, „dass es um die Gesundheit einer Gesellschaft umso schlechter bestellt ist, je mehr sie von Ungleichheit geprägt ist, egal ob diese Gesellschaft arm oder reich ist“. Ungleichheit an sich sei bereits zerstörerisch. Das ist Blödsinn. Ich komme noch mal auf China zurück: Die Zahl der Reichen und Superreichen ist dort in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegen. Auch die Ungleichheit, gemessen im sogenannten Gini-Index, stieg massiv. Gleichzeitig hat sich das Los von Hunderten Millionen Chinesen verbessert, die aus bitterer Armut in die Mittelschicht aufgestiegen sind. Das zeigt doch, dass die Frage, ob die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht – außer für

Anhänger einer Neidphilosophie – völlig irrelevant ist. Wichtig ist doch, welches System dafür sorgt, dass es der breiten Masse besser geht. Und das ist der Kapitalismus, wie ich anhand vieler Beispiele in meinem Buch zeige.

 

 

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".