Der Skandal: Die Liebe

Diese einzigartige und welterschütternde Sensation war bereits durchgesickert, bevor das Buch auf den Markt kam. Sie bestand in der Antwort des Papstes auf die Frage, ob man Kondome benutzen darf.
Jetzt alle festhalten: Ja. Man darf. Unter Umständen.
Ein Erleichterungsseufzer entrang sich der geknechteten Christenheit, die ja offenbar wie im Mittelalter unter bindenden päpstlichen Bullen und Bannflüchen lebt. Leitartikler leitartikelten, Menschenrechts-Organisationen schalteten sich ein, Abendnachrichten wurden mit der Meldung eröffnet, Internet-Foren liefen heiß und natürlich warnte Hans Küng, der Gegenpapst, vor einem rein taktischen Manöver – aber das tut er immer, wenn der Papst Meinungen äußert, die auch Liberale unterschreiben könnten.
Aus dem Gespräch, das Papst Benedikt XVI. mit dem Journalisten Peter Seewald über Gott und Glauben und den einigermaßen heillosen Zustand der Welt führte (Das Licht der Welt), über die Merkantilisierung des Lebens, die achtlose Schändung der Natur, die Konfessionen, die religiöse Ermüdung Europas, schnurrte das Interesse der Publikums auf diese betreffenden sechzehn Zeilen zusammen. Und diese wiederum auf ein Wort: Kondome.
Diese Verengung muss für jeden deprimierend sein, nicht nur für den Papst. Nichts offenbar interessiert eine bis zur Schwachsinnsgrenze durchsexualisierte Gesellschaft mehr als das, was die bayrische Erzkatholikin Gloria von Thurn und Taxis einst als „Schnackseln“ bezeichnet hat.
An der grundsätzlichen Antwort der Kirche hat sich auch nach diesem Interview nichts geändert. Moraltheologisch gesprochen: Schnackseln ja, aber bitte aus Liebe und mit dem Wunsch nach Kindern. Gerade das letztere müsste jedem Bevölkerungs-Experten und Familienpolitiker das Herz höher schlagen lassen.
Die Haltung des Papstes ist nicht etwa eine reaktionäre, sondern eine geradezu utopische. Er hat sie bereits in seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ niedergelegt.
Schon damals muss er den ungeheuren Bedarf an spiritueller Entwicklungshilfe in Liebesdingen gespürt haben. Er hat nämlich partout Sexualität und Liebe zusammengedacht – in einer Welt, die beides längst entkoppelt und den Sex verdinglicht und zur Ware gemacht hat.
Was den Gebrauch von Kondomen angeht, hat der Papst diesen nun also gebilligt, als „ersten Schritt zur Moralisierung“, zur „Verantwortung“, besonders bei männlichen Prostituierten. Nur zur Erinnerung: Kondome, das sind diese Gummi-Dinger, die man sich auf Toiletten aus dem Automaten zieht.
In ermüdender Monotonie fordern Kirchenkritiker immer wieder, dass der Vatikan endlich „tabulos“ über die Sexualmoral reden möge. Wobei, im Ernst, „tabulos“ doch dann schon wie eine dieser altmodischen Prickelvokabeln wirkt, mit der Schlepper im vorigen Jahrhundert auf der Reeperbahn die Kundschaft in puffige Plüschbars lockten, und die heute, unter Bedingungen des pornografischen Totalschadens, nur noch Gähnen hervorrufen.
Doch immer noch scheint es nichts Empörenderes zu geben, als jene über Sex reden zu hören, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Nichts zum Beispiel bringt die liberale Öffentlichkeit mehr auf die Palme als der Zölibat, an dem der Papst festhält. Gleichzeitig allerdings titelt der „Stern“ alarmierend schon mal „Nichts los in deutschen Betten“ und zeichnet damit etwas ratlos die Misere eines freiwilligen Alltagszölibats auf breitest erschlaffter Linie nach. Rätselhafte Zeiten.
Der Papst zeigt sich übrigens in seinem Gespräch mit Peter Seewald ganz von dieser Welt: „Tatsächlich ist es ja so, dass, wo immer sie jemand haben will, Kondome auch zur Verfügung stehen.“ Das gilt übrigens auch in Afrika und anderen Aids-Notstandsgebieten, wobei stets schleierhaft blieb, warum sich ausgerechnet mehrheitlich islamische, evangelikale oder stammesreligiöse Klienten aus Angst davor, den Segen der katholischen Kirche zu verspielen, in riskantes Sexualverhalten stürzen sollten. Auch marodierende Söldner oder marodierende Sextouristen liessen sich bisher vom katholischen Kondomverbot eher wenig irritieren.
Hier mal ein paar Zahlen: In Swaziland gibt es 43 Prozent Aids-Infizierte, aber nur fünf Prozent Katholiken. In Uganda ist es eher umgekehrt: Da sind nur vier Prozent mit Aids infiziert, aber 36 Prozent sind Katholiken. Eine direkte Korrelation zwischen Katholizismus und Aids-Gefahr erschließt sich da nicht auf den ersten Blick.
Dass mit Kondomen allein der Infektionsseuche nicht beizukommen ist, weiß jeder Aids-Aktivist. Der Papst jedoch ist für diese Aussage geprügelt worden. Nun kann er seine von der Weltpresse unterschlagene Differenzierung wiederholen: „Es muss viel mehr geschehen. Wir müssen nahe bei den Menschen sein, sie führen, ihnen helfen; und die sowohl vor wie nach einer Erkrankung.“ Auch das dürfte jeder Aids-Aktivist unterschreiben – es ist die christliche Position, die des Evangeliums vom barmherzigen Samariter.
Jeder weiß doch, wie und wo man sich Kondome besorgen kann, sagt der Papst. Das ist deutlich. Am Ideal, das er darüber hinaus propagieren möchte und von dem er hofft, dass es nicht verschluckt wird im Lärm, nämlich dem der Liebe in Treue, ändert das kein Jota.
Dass er jedoch ausgerechnet das Beispiel eines männlichen Prostituierten nimmt, um seine Einsichten zu erläutern, zeigt, dass ihm das Herz im Amt weit geworden ist. Er hat aus den abertausenden Menschen, Gesichtern, Schicksalen, die ihm in seinem Amt begegnet sind, gelernt, wie schwer ein Leben in Wahrheit ist. Stricher und Huren, Glaubensschwache, Ausgegrenzte, die spricht er an, auch zum Ärger des religiösen Establishments.
So was hat schon mal verärgert. Vor rund zweitausend Jahren.
Besonders aber provoziert er nun die Schriftgelehrten der säkularen Welt, die Kirchenfeinde in den Redaktionen, die darüber wüten, dass ihnen ein vertrautes Feindbild abhanden kommt. Neben der hysterisch debattierten Kondomerei hat diese große Befragung des Papstes durch Peter Seewald den Charakter einer Bilanz, und die fällt so selbstkritisch aus, dass es denjenigen, die normalerweise mit Kirchenkritik befasst sind, erst einmal die Sprache verschlagen hat.
Zum umstrittenen Holocaust-Leugner Bischof Williamson von der Pius-Bruderschaft, dessen Exkommunizierung der Papst unter den Entsetzensschreien der Öffentlichkeit mit aufgehoben hat, erklärt er unzweideutig: eine schreckliche Panne! Wenn auch nur einer seiner Berater mal ins Internet geschaut und die haarsträubenden Positionen des Bischofs – den die Pius-Bruderschaft gerade loswerden will – rapportiert hätte, wäre der Mann draußen geblieben.
Noch einmal betont er den revolutionären Gedanken der Religionsfreiheit, wenn er den Bau von Moscheen positiv sieht und gegen ein generelles Burka-Verbot Stellung nimmt.
Und dann äußert sich der Papst zum Kern der Vertrauenskrise in der eigenen Kirche. Im Moment ihrer geschichtlich gesehen größten Ausdehnung sieht er die katholische Kirche verfinstert von dem „Vulkanausbruch“ an Schmutz, der durch die Missbrauchs-Skandale ans Licht geschleudert wurde.
Dezidiert verlangt er Hilfe für die Opfer, mahnt eine sorgfältigere Auswahl von Priesterkandidaten für die Zukunft an und des Weiteren, „dass die Täter bestraft und von jeder Möglichkeit ausgeschlossen werden, die Taten zu wiederholen“. Und er zeigt sein Leiden darüber, dass ausgerechnet im Jahr des Priesters nun der ganze Stand in Verruf geraten ist und dass Seelsorger gegen den Vertrauensschwund anzukämpfen haben, der durch einige üble Täter verursacht wurde.
Das ungemein Lesbare an diesem Buch ist, dass es sehr menschlich daher kommt, aber den Gottesbezug nicht verschämt ausklammert. In den Äußerungen zur weltumspannenden Drogenseuche etwa verknüpft er Sozialpsychologie und Theologie: „Da ist eine Gier nach Glück entstanden, die sich mit dem bestehenden nicht begnügen kann. Und die dann in das Paradies des Teufels, wenn man so sagen will, flüchtet und Menschen rundum zerstört“.
Bibelsprache, deutliche Sprache.
Als Gläubiger redet er in die Zeit hinein. Er stimmt Nietzsche zu, der dichtet „Alle Lust will Ewigkeit“, was wohl als Signet-Wort unser hedonistischen Gegenwart gelten kann. Ja, sagt der Papst, der Mensch möchte Lust bis zum Äußersten, „aber wo es Gott nicht gibt, wird es ihm nicht gewährt“. So sieht es nun mal die katholische Kirche. Sorry, Lustgesellschaft, aber irgendwann ist jede Party zu Ende – und dann beginnen die letzten Fragen.
Bisweilen, das gibt der mittlerweile 83-jährige Joseph Ratzinger unumwunden zu, sei er müde und erholungsbedürftig. Dann lässt er durchblicken, dass ein Papst, sollte er körperlich oder geistig nicht mehr in der Lage sein, sein Amt auszufüllen, zurücktreten könnte – bisher ungehört!
Was die Unfehlbarkeit angeht: Natürlich spricht ein Papst aus dem Glauben heraus und hat in Glaubensdingen das letzte Wort. „Das heißt aber nicht, dass ein Papst privat nicht auch verkehrte Meinungen haben könnte.“ Das war eigentlich nie anders, doch es lohnt sich, mit solchen Passagen in heutigen Zeiten die oft falsch verstandene „Unfehlbarkeits“-Annahme zu korrigieren.
Was sonst? Er mag „Don Camillo“, der alte Gottesdiener, mag diesen Raufbold im Namen des Herrn, und wer mag den nicht, besonders wenn er von Fernandel gespielt wird!
Selbstverständlich bedauert der katholische Ober-Hirte den Rückgang des Religionsunterrichts, das Abhängen von Kreuzen in öffentlichen Räumen, er diagnostiziert einen Mangel an Bekennermut, ein Zurückweichen vor den Zerfallserscheinungen der Gesellschaft. Er sieht besonders im katholischen Deutschland Kreise und Schichten, die nur darauf warten, „auf den Papst einschlagen zu können“.
Das in dieser Freimütigkeit zu hören, mag gänsehauttreibend sein, aber gleichzeitig kann sich der Pontifex Maximus mit einem weiten Blick über die Horizonte der katholischen Welt trösten, die wächst, die Kirchen baut, die Priester ordiniert und in außereuropäischen Gegenden „lebt und voller Dynamik ist“. Ja, er baut den bisweilen endzeitlich-pessimistischen Seewald geradezu auf!
Es ist ein neues Papstbild, das in diesem Buch aufscheint. Hier spricht nicht der oft als kalter Taktiker verzeichnete Theologie-Professor, der seine Glaubensdogmen mit dem Rücken zur Welt formuliert, sondern der den Menschen zugewandte, verständnisvolle Seelsorger. Und der antwortet mit oft entwaffnender Schlichtheit und Offenheit.
Dieser neue Papst ist einer, der Fehler eingesteht und seine Trauer über Verirrungen der Kirche zeigt. Der aber auch den Optimismus weitergeben kann, den er aus seinem Gottvertrauen bezieht. Er ist qua seines Amtes Hüter der mächtigsten und geschichtsträchtigsten Glaubensbastion der Welt, der Fels in Zeiten, die ideengeschichtlich in kompletter Auflösung begriffen sind und bisweilen apokalyptische Ängste zeigen – und nichts so sehr schätzen wie Orientierung. Es sind Zeiten, in denen die Frage „Wofür stehst Du?“ bestsellerfähig ist. Dieser Papst gibt die Antwort. Eine seit Ewigkeiten unfehlbare.

C-Vermerk: Vatican-Magazin 12|2010 Die Internetseite des Vatican-Magazins erreichen Sie unter: www.vatican-magazin.de.

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Über Matussek Matthias 5 Artikel
Matthias Matussek, geboren 1951, begann 1977 seine journalistische Karriere als Kulturredakteur beim Berliner Abend. Später arbeitete er für den „stern” und wechselte 1987 zum „Spiegel”. Matussek war Sonderkorrespondent in Ostberlin und leitete die Büros in New York, Rio de Janeiro und London. Von 2005 bis 2007 leitete er das Kulturressort beim „Spiegel”, wo er immer noch arbeitet. Matussek ist Autor zahlreicher Bücher: „Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können”.

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