Der Schrecken von Mühldorf

Josef Einwanger: Das Glaszimmer und ein Brief an den Führer. Roman. 148 Seiten, 8 Euro, Buch Verlag Kempen 2021, ISBN 978-3-96520-126-2  

Sie hätten tot sein können. Bei der Rückfahrt von Mühldorf nach Simbach stand ihr Zug unter heftigem Beschuss. Mutter und Sohn aus Josef Einwangers neuem Roman „Das Glaszimmer und ein Brief an den Führer“  haben überlebt. Sie waren von München aufs Land in die Nähe der „Hitlerstadt“ Braunau umgezogen. In ihrer Scheune verbirgt sich nun Felix` Vater, der an der Westfront kämpfte, diese aber heimlich verließ, um zu Frau und Kind zu desertieren. Von der Ortsgruppenleitergattin, die nicht ahnt, dass der Soldat sich ganz in ihrer Nähe befindet, erfährt die Mutter, „dass es in Mühldorf noch Mehl und Zucker zu kaufen gebe… solange der Vorrat reiche“. Die Lebensmittelnot wächst. Also, auf nach Mühldorf! Mit dem Zug. „Gleich übermorgen. In der Frühe hin, am Nachmittag zurück“. Die Mutter fährt. Ihr Zehnjähriger begleitet sie.

Um 11.45 Uhr kommen sie am Bahnhof Mühldorf an. Den Stadtberg (bei Einwanger: die Bergstraße) müssen sie hinunter, zur Ausgabestelle in der Altstadt. Plötzlich: Fliegeralarm. „Stufe II“. Felix kennt sich aus. Sirenen jaulen auf. Chaos. Gerenne. Anweisung: „In den Schwaiger-Keller, gleich hier an der Straßenwende!“ Der alte Bierkeller füllt sich. „Der Bunker bebt. Die Leute zittern.“ So einen Bombenhagel hat man hier noch nie erlebt, seit der Hitler-Krieg wütet. Später weiß man, was es „in Wirklichkeit war: ein verheerender tödlicher Angriff“.

Ein Wunder, dass Mutter und Sohn mit heiler Haut, wenn auch nach Strapazen sondergleichen und mit leeren Taschen, ihr Dorf erreichen. Sie überleben die Tieffliegerangriffe, stets die Angst im Nacken, den daheim versteckten Vater nicht mehr zu sehen. Nach drei Stunden nächtlichen Fußwegs wirft Felix sich in seinem geheimen Glaszimmer auf die Matratze. Das Feuer von Mühldorf hat man, so ist am nächsten Tag zu erfahren, im Dorf gesehen und den Gestank der Rauchschwaden gerochen. Felix trifft seine Freunde und berichtet: „In Mühldorf haben die Amis mit fünfhundert Bombern angegriffen, ich war mit meiner Mama im Luftschutzkeller. Uns ist nichts passiert. Es gab viele Tote …“

Von hundertdreißig Toten in Mühldorf redet Einwangers Ortsgruppenleiter Feik: „Mit den Flying Fortress und Mustangs haben sie angegriffen“. Sie? Er meint die Amis. „Über sechstausend Bomben auf Bahnhof und Stadt. Unmenschlich. In Italien waren sie gestartet …“

Seinen kleinen Helden lässt Josef Einwanger zum Eierdieb bei den Feiks  werden. Kehrte man doch ohne Mehl und Zucker aus Mühldorf zurück. Felix` Mutter entschuldigt sich für den Diebstahl ihres Buben bei der Nachbarin: „Ja, weil Krieg und Not. Auch Felix steckt noch der Schrecken von Mühldorf in den Knochen, in der Seele …“ Frau Feik hat ein Nachsehen. Sie bittet Felix nur: „Erschreck nicht wieder unsere Hühner!“

Josef Einwanger erweist sich in dieser Szene, dem schweren Bombardement auf Mühldorf am Josefitag des letzten Kriegsjahres 1945, als relativ gut informierter Verfasser. 250 B-17-Flying Fortresses flogen, so ist inzwischen gesichert, die Luftangriffe der Amerikaner, dazu 450 Mustangs und Lightnings. Die Stadt wurde von 6000 Bomben getroffen. 3500 davon trafen allein das Bahnhofsgelände. 2000 Eisenbahnwaggons wurden zerstört, der Bahnhof selbst nahezu ganz. 129 Menschen starben.

Der 2020 verfilmte lesenswerte Roman des in Niederbayern geborenen, in Kiefersfelden lebenden 86-jährigen Schriftstellers, dessen 2007 verfilmtes Buch „Toni Goldwascher“ noch in guter Erinnerung sein dürfte, verarbeitet das für Mühldorfs neuere Stadtgeschichte bedeutsame Kriegsereignis höchst überzeugend. Vor allem bei jungen Leserinnen und Lesern in und um die Kreisstadt könnte sein Buch Diskussionsthema über Leben und Überleben in der Nazizeit werden. Einwangers Lektor Hans-Jürgen van der Gieth veröffentlichte hierzu ein „Literaturprojekt“. Es erschließt Inhalt und Aussage des Romans. Einwangers spannender, humorvoll erzählter Text lässt die NS-Zeit in Bayern für Jugendliche ab der 6. Jahrgangsstufe in ganz besonderer Weise erlebbar werden. Die Gegend am unteren Inn, in der der Roman spielt, wird darin zum erlebnisnahen Schauplatz von Geschichte.         Hans Gärtner

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Autor Josef Einwanger (86) mit seinem neuen Roman „Das Glaszimmer und ein Brief an den Führer“. Foto: Hans Gärtner 

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.