Der schöne Taumel vor dem Fall: Literatur und Kunst an der Schwelle der Auflösung Europas

Friedrich Schiller in der Walhalla, Foto: Stefan Groß

Kunst und Politik haben immer schon zusammengehört. Davon zeugen Reiterstandbilder und Herrscherportraits ebenso wie sozialistischer Realismus und Street Art. Nun ist ein Buch des Publizisten Adorján Kovács erschienen, das weder die Propaganda- noch die engagierte Kunst zum Gegenstand nimmt, sondern im „Nachdenken über Kunstwerke“ die „an ihnen und durch sie sichtbar werdenden Symptome“ der Zeit aufspürt, wie er selbst im Vorwort schreibt. Bei den 74 Essays zu Literatur, Theater, Film, bildender Kunst, Architektur, Musik und Mode mag man an John Bergers Methode der Kunstbetrachtung erinnert sein, doch bleibt Kovács meist bei der Literatur und Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts; nur anlässlich einiger Jahrestage tauchen ältere Namen wie Kleist, Tolstoi und Liszt auf. Das ist deswegen bemerkenswert, weil der Autor über die Kunstwerke auf eine „taumelnde Kultur“ Europas stößt, das er der „Auflösung“ nahe sieht. Bei einer solchen Diagnose hätte man eher eine Flucht in die als besser imaginierte Vergangenheit erwartet, doch begeistert sich Kovács dezidiert für moderne Kunst wie die Musik Karlheinz Stockhausens oder die Plastik von Beuys. Es handelt sich demnach weder um eine kulturpessimistische Ablehnung der Zeit, denn sie kann immer noch große Kunst hervorbringen, noch um eine marxistische Kritik der Verhältnisse wie bei Berger. Für Kovács scheinen diese bewunderten Kunstwerke jedoch nach einem als Motto zitierten Wort des kolumbianischen Philosophen Nicolás Dávila „Niederlagen der modernen Mentalität“ zu sein, weil sie religiös sind. Damit liefert Kovács wenigstens einen Schlüssel zum Verständnis seiner Auswahl; so wirft Dürrenmatts protestantischer moralischer Rigorismus kritische Fragen zur Gier in der Finanzkrise auf, eine Oper wie die jüngste des tiefgläubigen französischen Komponisten Mark Andre wagt es, sich nicht mit Sozialkritik, sondern mit der Möglichkeit der Auferstehung auseinanderzusetzen, der kühle Antisubjektivismus des Katholiken Jorge Luis Borges findet seine Parallele in der nüchternen Objektivität der Liturgie, ja sogar eine synthetische Rockband wie „Garbage“ lebt vom skeptischen Ringen einer schottischen Calvinistin. Doch kann Kovács auch solche Kunst würdigen, deren inhaltliche Tendenz er für falsch hält. Ein Beispiel ist die Novelle „Vatertag“ aus dem feministischen Grass-Roman „Der Butt“, an der die Prophezeiung des Gender-Mainstreaming gewürdigt wird, das aus Frauen bessere Männer machen will. Diese Ideologie wird von Kovács ebenso wie die politische Korrektheit als kunst- und menschenfeindliches Zeitgeistphänomen gesehen; an den Angriffen auf Balthus wie auf Roman Polanski wird das ebenso einleuchtend gezeigt wie an der Hexenjagd auf Sibylle Lewitscharoff, die die ersten Ansätze zur Menschenzüchtung anzusprechen wagte. Dass manche deutschsprachigen Autoren und Kunstschaffenden mit Migrationshintergrund sich aggressiv als Speerspitze eines anderen, weil multikulturellen Deutschlands gebärden, potenziert sich nicht ganz zufällig zum faktischen Verbot der Bücher und sozialen Auslöschung des Autors Pirinçci, der sich nicht an diese gewünschte Migrantenrolle hält, sondern Deutscher sein will. Dem entspricht die Todeslust der autochthonen Kultur, die Selbstmord und Kindesmord feiert. In einem Schlusskapitel gibt Kovács so etwas wie eine Metaanalyse seiner Beobachtungen. „Selbstaufgabe, Relativismus, Wertezerfall, Orientierungslosigkeit und Infantilisierung“ tauchen hinter der Fassade einer spätabendländischen Gesellschaft auf, die vor ihrem wahrscheinlichen Untergang noch eine letzte kulturelle Blüte erlebt. Seine Behauptung, dieses Ende hätte eine morbide Schönheit, wäre zynisch zu nennen, wenn Kovács nicht auch eine Rettung sehen würde: nämlich jene wahren Werke ernst zu nehmen, die vom Gott der Christen sprechen, und Widerstand zu leisten im Namen der Freiheit, die er gibt. – Ein eminent politisches Buch im Kleid der Kunstbetrachtung.

 

Adorján Kovács

Der schöne Taumel vor dem Fall

Literatur und Kunst an der Schwelle der Auflösung Europas

Bad Schussenried: Gerhard Hess-Verlag

396 Seiten

ISBN: 978-3-87336-596-4

Hardcover, 13 Fotos (10 farbig / 3 grau) und 3 Diagramme (schwarz-weiß)

Preis: 18,90 Euro

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