Der Rebell. – Lukas Bärfuss erhält den Georg-Büchner-Preis

Salveschild, Foto: Stefan Groß

Der 48 Jahre alte Schweizer Dramatiker, Essayist und Romanautor Lukas Bärfuss bezeichnete sich selbst in Interviews wiederholt als Rebell: „Ich war ein unausstehliches Miststück, ohne elterliche Kontrolle, verwildert, aufsässig und allergisch gegen jegliche Autorität.“ (Lukas Bärfuss, zit. nach Valeria Heintges 2015). Ein starker Oppositionsgeist, ein großer Verweigerungswille, viel Mut, konventionelle Meinungen zu verbreiten, zeichnen ihn aus. Insofern hatte die „Frankfurter Allgemeine“ recht, als sie ihn einen „streitbaren Preisträger“ nannte (FAZ vom 9.7.2019). Der Gipfel war wohl im Jahr 2015, als er drei Tage vor der Schweizer Parlamentswahl in der FAZ einen „Warnruf“ veröffentlichte, der den Titel „Die Schweiz ist des Wahnsinns“ trug (Lukas Bärfuss, FAZ vom 15.10.2015). In diesem Essay legt er eine grundlegende Kritik an der Schweiz vor, und zwar sowohl am politischen als auch am ökonomischen und kulturellen Zustand. Eine Welle der Entrüstung erhob sich in der Schweizer Bürgerschaft. Wie einst Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt mit ihrer Fundamentalkritik an der Schweiz hatte Bärfuss einen empfindlichen Nerv getroffen (Kämmerlings 2019).

Ein Rebell war auch Georg Büchner, nach dem der höchste deutschsprachige Literaturpreis benannt wird. Lukas Bärfuss zeigt sich als Wutbürger, wenn er einen vermeintlich gerechten Zorn über die Missverhältnisse in der Schweiz „herausdonnert“. Oder er provoziert mit Tabu-Themen wie „sexuellen Neurosen“, Selbstmord, Genozid oder Euthanasie (Kister 2019). Aufsehen erregen kann Bärfuss gut. Die Resonanz auf seine Dramen und Romane ist ausgesprochen positiv. Etwa zwanzig Literatur- und Theaterpreise verdeutlichen dies. Die Krönung ist jetzt der angesehenste deutsche Literaturpreis, der Georg-Büchner-Preis. Die Jury begründete die Preisverleihung an Bärfuss wie folgt: „In einer distinkten und dennoch rätselhaften Bildersprache, karg, klar, untrennscharf, durchdringen sich nervöses politisches Krisenbewusstsein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit“.

In einer Reihe mit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt

Der Georg-Büchner-Preis wird seit dem Jahr 1951 jährlich von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen. Drei Schweizer Schriftsteller haben bislang diesen Preis erhalten: 1958 ging er an Max Frisch, 1986 an Friedrich Dürrenmatt und 1994 an Adolf Muschg. In diese Reihe fügt sich nun Lukas Bärfuss als vierter Schweizer Preisträger ein. Dabei hat er zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt: es ist die Doppelbegabung für Drama und Prosa, es ist die große Liebe zum Theater und Lust an der Kritik der Schweiz (Radisch 2019).

Ein Dramatiker wie Georg Büchner – zwanzig Theaterstücke

Nur wenige zeitgenössische Schriftsteller haben die Doppelbegabung, dass sie sowohl Dramen und Theaterstücke schreiben können als auch Romane und Prosa. Lukas Bärfuss gehört zu ihnen ebenso wie Georg Büchner, nach dem der Preis benannt ist (Gunreben & Marx 2017). Auch heute noch werden die Dramen von Georg Büchner erfolgreich auf europäischen Bühnen aufgeführt, sei es „Lenz“, „Woyzeck“ oder „Dantons Tod“. Bärfuss selbst war von 2009 bis 2013 Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. Sein erstes Theaterstück war „Sophokles‘ Ödipus“, das 1998 in Zürich uraufgeführt wurde. Sein erfolgreichstes Theaterstück ist „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“. Mittlerweile hat Lukas Bärfuss zwanzig Theaterstücke geschrieben. Im Jahr 2003 kürte ihn die Zeitschrift „Theater heute“ zum Nachwuchsautor des Jahres.

„Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“

Im Jahr 2003 wurde am Theater Basel sein Theaterstück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ uraufgeführt. Es ist das erfolgreichste Schauspiel von Lukas Bärfuss. Es wurde in allen Ländern Europas aufgeführt und schließlich in zwölf Sprachen übersetzt. Die Schweizer Regisseurin Stina Werenfels verfilmte 2015 das erfolgreiche Schauspiel mit dem Titel „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“. Die Hauptperson Dora ist eine 18-jährige Jugendliche, die wegen einer geistigen Behinderung jahrelang durch starke Psychopharmaka ruhiggestellt war. Als die Mutter die Medikamente nach Rücksprache mit dem Arzt absetzt, vollzieht sich in Dora ein sexuelles Erwachen, das die Umgebung immer wieder vor den Kopf stößt.

Drei Romane

Lukas Bärfuss ist nicht nur ein sehr erfolgreicher Dramatiker, er schrieb auch drei Romane, für die er die meisten Literaturpreise erhalten hat. „Hundert Tage“ erschien im Jahr 2008, „Koala“ im Jahr 2014 und „Hagard“ im Jahr 2017. Am meisten Aufsehen erregt hat wohl sein Roman „Koala“, in dem er überwiegend den Selbstmord seines Bruders beschreibt. In der Auseinandersetzung mit diesem Ereignis tauchen zahlreiche Erinnerungen aus der eigenen Kindheit auf, so dass der Roman durchaus autobiographische Züge erhält. Die Erinnerungsarbeit ist für den Romanautor ein qualvoller Prozess. Bärfuss sagte dazu in einem Interview: „Ich habe heute noch Angst vor dem Roman“. Mit dem Roman „Koala“ stand er im Jahr 2014 auf der Long-List beim Deutschen Buchpreis und erhielt für ihn im selben Jahr den Schweizer Buchpreis.

Literatur:

Bärfuss, Lukas (2008) Hundert Tage. Roman. Wallstein, Göttingen

Bärfuss, Lukas (2014) Koala. Roman. Wallstein, Göttingen

Bärfuss, Lukas (2017) Hagard. Roman. Wallstein, Göttingen

Bärfuss, Lukas (2015) Die Schweiz ist des Wahnsinns. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.10.2015

Gunreben, Mario; Marx, Friedhelm (2017) Handlungsmuster der Gegenwart. Beiträge zum Werk von Lukas Bärfuss. Könighausen & Neumann, Würzburg

Heintges, Valeria (2015) Die Ohrfeige des Schriftstellers. St. Galler Tagblatt vom 17.6.2015

Kämmerlings, Richard (2019) Schweizer Wahnsinn, Schweizer Kunstsinn. DIE WELT vom 9.7.2019

Kister, Stefan (2019) Der Mann für heiße Eisen. Büchner-Preis für Lukas Bärfuss. Stuttgarter Zeitung vom 9. Juli 2019

Radisch, Iris (2019) Traurig über seine eigenen Einsichten. Der Schweizer Autor und Dramatiker Lukas Bärfuss erhält den Georg-Büchner-Preis. DIE ZEIT vom 11. Juli 2019.

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef 

Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Zentrum für Innere Medizin

Medizinische Klinik und Poliklinik II

Oberdürrbacher Straße 6

97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

Über Herbert Csef 153 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.