Der Publizist und Philosoph Günter Zehm ist tot

Günter Abrecht Zehm
Günter Albrecht Zehm

Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der „Die Welt“, Autor und Philosophieprofessor Günter Zehm ist im Alter von 86 Jahren in Bonn am 1. November 2019 gestorben. Zehm wurde am 12. Oktober 1933 im sächsischen Crimmitschau geboren.

Die Welt ist nicht weiß und nicht schwarz, sie hat Grau- und Zwischentöne, ein Vexier- und Farbenspiel, für das jedes Individuum in seiner Einmaligkeit und Vergänglichkeit steht. Günter Zehm spiegelte diese Ambivalenz, die Weite des Lebens in all seinen Schattierungen und Weltblicken – von ganz links bis in sein Konservativsein hinein. Aber Zehm war vor allem eins: Ein wacher, aufgeklärter Geist, der bis ins hohe Alter die Freude am Entdecken für sich bewahrte, ein Widerständler, ein Protestierer, dem es um Tatsachen und Fakten ging, der die Welt in die Tiefe hinein kritisch hinterfragte, ein hoffnungsvoller, energischer und kämpferischer Pessimist, der an das Wahre und Gute glaubte – und den Preis oft mit Stillgeschwiegenwerden bezahlen musste. Günter Zehm ließ sich nie verbiegen, war immer er selbst und seine philosophische Methodik dem Trial and Error verbunden. Abstrakte Ideengebilde à la Deutscher Idealismus waren für ihn Systeme der Realitätsverweigerung. Der lebens- und schicksalsgeschulte Zehm, der bei Ernst Bloch Assistent, später bei Adorno mit einer Arbeit über Jean-Paul Sartre promoviert wurde, setzte auf die Kraft des Gesunden Menschenverstandes. Leben und Philosophie, Praxis und Theorie sind in all seinen Werken nahtlos ineinander geflossen, haben sich wechselseitig durchdrungen und mit plastischer Klarheit und intellektuellem Anspruch zu wahren kleinen Kunstwerken verbunden.

Zehm war nicht nur der gelehrte Schreiber, der über ein derart breit angelegtes Wissen verfügte, das selbst seine Kritiker immer erblassen ließ. Er galt als Brockhaus auf zwei Beinen, ein lebendiges Lexikon, das buchstäblich zu jeder Thematik abrufbar war. Dieses Wissen eines Allrounders, das sich in alle Fachgebiete des Lebens hin erschöpfte, haben wir, die damaligen Studenten der Jenaer Universität, dankbar und ehrfürchtig aufgesogen. Zehm, der kurz nach der Wende Honorarprofessor an der Universität Jena wurde, eine Professur wegen erlittenem Unrecht in der DDR, war einer, der mit Leidenschaft philosophierte und der mit seinen Vorlesungsnachschriften, die in neun Büchern erschienen, sich selbst, seinem Denken und seiner Philosophie ein Denkmal gesetzt hat. Einfach und verständlich Hochkomplexes in Worte zu fassen – das war und ist eine Kunst, die Günter Zehm in Personalunion in sich vereinte.

Zehm hatte alle Widerstände des Lebens am eigenen Leib gebrochen. Als Assistent von Ernst Bloch ging er für seine offene Kritik am DDR-Staat in den Knast, wurde zu 4 Jahren Gefängnis in Waldheim und Torgau verurteilt. Verraten und verkauft von ehemaligen Freunden wegen „Boykotthetze“ im härtesten Gefängnis der Zone. Das hat ihn tief geprägt und sein Leben lang wehmütig begleitet. Es war ein Splitter in seiner Existenz, eine Kränkung und eine Demütigung eines stolzen Mannes, mit der er gekämpft, und die er kraftvoll in ein fast unüberschaubares Lebenswerk gekleidet hat. Hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegel viel geschrieben – Zehm hat weit mehr an Schrifttum hinterlassen. Gut vierzig Bände könnte sein Nachlass umfassen.

Für die journalistische Welt war er eine Ikone, ganze Generationen von Schülern hatte er in die Geheimnisse des Schreibens hinein begleitet, viele von ihnen haben durch ihn Karriere gemacht – Martina Fietz, die er eingestellt hatte, hat es sogar bis zur Regierungssprecherin von Angela Merkel gebracht.

Zehm, der Ziehsohn Axel Springers – wie er zuvor Ziehsohn von Ernst Bloch gewesen ist, war so etwas wie eine Enzyklopädie des Kalten Krieges. Fast täglich publizierte er aus der Springerzentrale, schrieb Rezensionen, Leitartikel und die berühmte Pankrazkolumne seit 1975. Er ließ sich nicht von links einschüchtern, plädierte für die Deutsche Einheit, war Patriot und Universalist.

Wer ihn in eine Schublade einzusortieren suchte, wie man es nur allzu gern pflegte, wurde seinem Denken nicht gerecht. Zehm ließ sich geistig wie körperlich nicht einsperren – dafür war er geistig einfach zu überlegen, zu gebildet. Doch versucht hatte man es spätestens dann, als er zur rechtskonservativen „Jungen Freiheit“ wechselte. Jetzt galt der Denker der Freiheit als persona non grata. Darunter hatte er immer gelitten – und seine Antwort darauf: Sich-nicht-Einschüchtern-Lassen, schreiben bis zum letzten wachen Atemzug. Und dieser Devise ist er sich treu geblieben, er der Unbeugsame und Unbequeme einerseits, der warmherzige, großzügige und offene Mensch andererseits.

Doch insgeheim las man ihn, insgeheim bewunderte man ihn für seinen Mut, wie er gegen den Zeitgeist rebellierte, gegen die politische Korrektheit antrozte. Was Zehm unter dem Ladentisch schrieb, landete kurzerhand später in den Leitmedien. Immer ist Zehm, der bis zu seinem Tod zu Allerheiligen 2019 der dienstälteste und langjährigste Kolumnist Deutschlands war, am Puls der Zeit geblieben, unermüdlich und leidenschaftlich hatte er sich dem Journalismus und viele Jahre seines Lebens als Professor der Philosophie in Jena verschrieben. Ja Schreiben war seine Existenz, war das Elixier, das ihn wach und am Leben hielt, ob in der „Die Welt“, wo er Feuilleton-Redakteur und von 1977 bis 1989 stellvertretender Chefredakteur war, im „Rheinischen Merkur“ und zuletzt in der „Jungen Freiheit“.

Eine Autobiographie eines bewegten Lebens voller Unrast und Wagemut wollte er noch schreiben – auch als Hommage an seine Mutter, die nach dem Krieg die vier Kinder allein groß gezogen hat. Nun hat Günter Zehm nach einer kurzen Leidenszeit die Augen geschlossen, doch sein Vermächtnis, das er in tausenden Kolumnen und Aufsätzen der Nachwelt hinterlassen hat, bleibt lebendig – es zu bündeln, um einem großen Gelehrten, Denker und Chronisten der deutschen Teilung bis hin zu ihrem Zusammenwachsen ein Denkmal zu setzen – eine gebotene Aufgabe an die Nachfahren.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".