Der Prozess gegen die Anarchisten Sacco und Vanzetti gilt als einer der unfairsten der US-Justizgeschichte

Fremde Feinde und die Macht des Zweifelns

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Der Prozess gegen die Anarchisten Sacco und Vanzetti gilt als einer der unfairsten der US-Justizgeschichte. Vor 95 Jahren starben sie auf dem elektrischen Stuhl – und liefern Todesstrafen-Gegnern bis heute eins ihrer stärksten Argumente. Wurden hier zwei Unschuldige hingerichtet. Von Helmut Ortner.

Am 15. April 1920 überfallen Banditen im Staate Massachusetts einen Lohntransport, töten beide Wachmänner und flüchten mit der Beute. Schon bald konzentrieren sich die Ermittlungen auf die beiden italienischen Einwanderer Nicola Sacco und Bartholomeo Vanzetti. Sie sind Ausländer, Atheisten – und Anarchisten. Obschon die Beweise dürftig sind, werden die beiden wegen doppelten Raubmord angeklagt und 1921 in einem umstrittenen Prozess schuldig gesprochen. Nach mehreren abgewiesenen Revisionsanträgen der Rechtsanwaltschaft folgte 1927 nach sieben Jahren Haft das Todesurteil. In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1927 wurden Sacco und Vanzetti im Staatsgefängnis von Charlestown auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet.

Schuldspruch und Urteil hatten weltweite Massendemonstrationen zur Folge

Sowohl der Schuldspruch als auch das letztliche Urteil vom 9. April 1927 hatten weltweite Massendemonstrationen zur Folge. Kritiker warfen der US-amerikanischen Justiz vor, es handele sich um einen politisch motivierten Justizmord auf der Grundlage fragwürdiger Indizien. Entlastende Hinweise seien unzureichend gewürdigt oder sogar unterdrückt worden. Hunderttausende von Menschen beteiligten sich an Petitionen und versuchten damit, einen Aufschub oder die Aussetzung der Urteilsvollstreckung zu erreichen.

Am Ende ist alles vergebens: die Proteste, die Zweifel, der Einspruch, das Gnadengesuch. Am 22. August 1927 um 23.03 Uhr entscheidet der Gouverneur des US-Bundesstaats Massachusetts, Alvan T. Fuller, dass die Hinrichtung von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti nicht gestoppt wird. Die Exekution ist für Mitternacht angesetzt, die Henker im Gefängnis von Charlestown schreiten zur Arbeit.

Sacco und Vanzetti werden nacheinander aus ihren Todeszellen in Richtung Hinrichtungskammer geführt. „Lang lebe die Anarchie“, ruft der 36 Jahre alte Sacco noch vom elektrischen Stuhl aus. „Lebt wohl, meine Frau, mein Kind und alle meine Freunde.“ Zu den Zeugen der Hinrichtung sagt er: „Guten Abend, meine Herren.“ Dann legen die Gefängniswärter den Schalter um, Strom fließt durch den Körper von Nicola Sacco, um 0.19 Uhr wird er für tot erklärt.

Ich habe nie ein Verbrechen begangen

Wenige Minuten später folgt ihm Bartolomeo Vanzetti in die Todeskammer. Zum Aufseher sagt der 39-Jährige: „Ich möchte Ihnen sagen, dass ich unschuldig bin. Ich habe nie ein Verbrechen begangen, einige Sünden schon, aber kein Verbrechen. Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben. Ich bin aller Verbrechen unschuldig, nicht nur dieses, sondern aller, wirklich aller. Ich bin ein unschuldiger Mann.“ Er reicht dem Aufseher und zwei Wächtern die Hand. Dann nimmt er Platz auf dem elektrischen Stuhl. „Ich möchte nun einigen Menschen vergeben für das, was sie mir antun“, sind Vanzettis letzte Worte. Der Strom fließt ein weiteres Mal in dieser Nacht durch einen menschlichen Körper, um 0.27 Uhr des 23. August 1927 ist Vanzetti tot.

Schuldig oder nicht? Bis heute ist diese Frage nicht endgültig beantwortet, aber allein die Zweifel und das ungerechte Verfahren reichen aus, um den Fall zu einer Legende zu machen.

Der letzte Brief

Am Abend vor der Hinrichtung schreibt Bartolomeo Vanzetti  einen letzten Brief – an Saccos Sohn Dante. Ein berührendes Dokument.

Aus der Todeszelle des Massachusetts State Prison

Mein lieber Dante, ich hoffe immer noch, und wir werden bis zum letzten Augen­ blick kämpfen, um unser Recht auf Leben und Freiheit zu­ rückzugewinnen, aber alles, was Macht und Geld hat in die­sem Staat, die ganze Reaktion ist für den Tod gegen uns, weil wir Anarchisten sind. Ich schreibe wenig davon, weil Du jetzt noch zu jung bist, um diese und andere Dinge zu verstehen, die ich gern mit Dir besprechen würde.

Aber Du wirst älter werden und hoffentlich verstehen, wie es Deinem Vater und mir ergangen ist und was Dein Vater und ich für Prinzipien hatten, Prinzipien, für die wir bald getötet werden.

Ich sage Dir jetzt, daß Dein Va ter nach allem, was ich von ihm weiß, kein Ve rbrecher ist, sondern einer der tapfersten Männer, die ich je gekannt habe. Eines Tages wirst Du verste­hen, was ich Dir hier sage. Daß Dein Vater alles, was dem menschlichen Herzen lieb und teuer ist ,für seinen Glauben an Freiheit und Gerechtigkeit für alle geopfert hat.

An diesem Tag wirst Du stolz auf Deinen Vater sein, und wenn Du tapfer genug bist, wirst Du seinen Platz in dem Kampf zwischen Ty rannei und Freiheit einnehmen, und Du wirst seinen (unseren) Namen und unser Blut rächen.
Wenn wir jetzt sterben müssen, wirst Du, wenn Du diese Tragödie erst in ihrer ganzen Tragweite verstehen kannst, wissen, wie gut und tapfer Dein Va ter mit Dir war, Dein Vater und ich, während dieser acht Jahre des Kampfes, des Leids, der Leidenschaft, Qual und Seelenangst.

Selbst jetzt schon sollst Du tapfer sein, gut zu Deiner Mutter und lnes.

Ich möchte Dich auch bitten, mich als Genossen in Erinnerung zu behalten und als Freund von Deinem Vater, Deiner Mutter und lnes, Susie und Dir, und ich versichere Dir, daß ich kein Ve rbrecher bin und keinen Raub und keinen Mord begangen, sondern nur bescheiden gekämpft habe gegen Ver­brechen; die Menschen einander antun, und für die Freiheit von allen.

Denk daran, Dante, jeder, der etwas anderes von Deinem Vater und mir behauptet, ist ein Lügner, der unschuldige Tote beleidigt, die in ihrem Leben tapfer waren. Denk daran und wisse auch, Dante, daß wir, wenn Dein Vater und ich Feiglin­ge und Heuchler gewesen und unserer Überzeugung abtrün­nig geworden wären, nicht hingerichtet worden wären. Auf­grund der Beweise, die sie gegen uns zusammengezimmert haben, hätten sie nicht mal einen aussätzigen Hund verurteilt, nicht mal einen tödlich giftigen Skorpion hingerichtet. Bei den Beweisen, die wir vorgelegt haben, hätten sie einem Mutter­mörder und gewohnheitsmäßigen Schwerverbrecher ein neu­es Verfahren zugebilligt.

Denk daran, Dante, denk immer daran: Wir sind keine Verbrecher; sie haben uns aufgrundfalscher Beweise verur­teilt; sie haben uns ein neues Verfahren abgeschlagen; und wenn wir nach sieben Jahren, vier Monaten und siebzehn Tagen unbeschreiblicher Qual und Unrecht hingerichtet wer­den, geschieht das wegen dem, wovon ich Dir schon geschrie­ben habe; weil wir die Armen waren und gegen die Ausbeu­tung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen.

Die Dokumente über unseren Fall, die Du und andere sammeln und aufbewahren werden, werden Dir beweisen, daß Dein Vater, Deine Mutter, lnes, meine Familie und ich der Staatsräson der amerikanischen plutokratischen Reaktion geopfert worden sind.
Der Tag wird kommen, an dem Du die furchtbare Ursache des Obigen in ihrer ganzen Tragweite verstehen wirst. Dann wirst Du uns ehren.

Jetzt, Dante, sei immer tapfer und gut.
Auf Wiedersehen, Dante
Bartolomeo

Seite 271 / Quelle

Helmut Ortner, Fremde Feinde, Frankfurt 2016

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Über Helmut Ortner 94 Artikel
Geboren 1950 in Gendorf/Oberbayern und aufgewachsen in Frankfurt am Main. Schriftsetzerlehre, anschließend Studium an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, Schwerpunkt Grafik-Design. Es folgt Wehrdienstverweigerung – und Zivildienst. Danach journalistische Lehrjahre: Redakteur, Chefredakteur (u.a. Journal Frankfurt, Prinz). Ab 1998 selbständiger Printmedien-Entwickler mit Büro in Frankfurt. Konzepte und Relaunchs für mehr als 100 nationale und internationale Zeitschriften und Zeitungen, darunter Magazine wie Focus, chrismon, The European und Cicero, sowie Tages- und Wochenzeitungen, u.a. Das Parlament, Jüdische Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Allgemeine Zeitung, Wiesbadener Kurier, Darmstädter Echo, De Lloyd Antwerpen, NT Rotterdam sowie Relaunchs in London, Wien, Sofia, Warschau und Dubai. Zahlreiche Auszeichnungen (u.a. European Newspaper Award, Hall of Fame, CP Award Gold). Daneben journalistische Beiträge zu politischen und gesellschaftlichen Themen, veröffentlicht in div. Tageszeitungen und Magazinen. Erste Buchveröffentlichung 1975, seither mehr als vierzig Veröffentlichungen. Übersetzungen in bislang 14 Sprachen (2018). Zahlreiche Preise und Einladungen: Stadtschreiberpreis der Stadt Kelsterbach, Lesereise Goethe-Institut Südamerika, Teilnahme an Buchmessen in Havanna, Istanbul und Buenos Aires sowie Lit.Col. Köln 2017. Zuletzt Lesereisen nach Lissabon, Turin, Tokyo. Helmut Ortner lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und in Darmstadt. Er ist passionierter Radrennfahrer, Eintracht Frankfurt-Fan und Pat Metheny-Liebhaber.