Dem Schriftsteller Reiner Kunze, der seit 1977 in der Nähe von Passau lebt, bin ich zweimal begegnet: einmal 1979 in Coburg, als er aus seinem Buch „Die wunderbaren Jahre“ (1976) las und den Film vorstellte, der nach diesem Buch in Coburg und Kronach gedreht worden war; und einmal 2003 in Jena, wo er mit Freunden seinen 70. Geburtstag feierte!
Seinen Lebensweg als Lyriker und Autor eines Prosabandes habe ich von Anfang an verfolgt, spätestens dann, als seine beiden Lyrikbände „Sensible Wege“ (1969) und „Zimmerlautstärke“ (1972) erschienen waren (nur in Hamburg beim Rowohlt-Verlag und in Frankfurt/Main beim S.Fischer-Verlag), die im Westen ungeheures Aufsehen erregten und ihn, den Verfasser Reiner Kunze, der damals noch bis zu Ausbürgerung am 13. April 1977 im ostthüringischen Greiz lebte, im SED-Staat zur persona non grata machten.
In diesen Gedichten wurde ein ganz anderes DDR-Bild gezeichnet als es offiziellen Verlautbarungen entsprach. Das war auch den staatlichen Ideologen bewusst, die ihn deshalb verfolgten, besonders die Germanisten unter ihnen. Sie widmeten ihm in ihrer „Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik“ (908 Seiten) von 1976 lediglich zwölf Zeilen, wobei sie ihn zunächst lobten („bereicherte die Lyrik der DDR“), dann aber beschimpften („verzerrtes Bild der sozialistischen Gesellschaft“).
Dieses „verzerrte Bild“ findet man noch stärker ausgeprägt im Prosaband „Die wunderbaren Jahre“, dessen Veröffentlichung im Herbst 1976 im S. Fischer-Verlag in Frankfurt/Main mit der Ausbürgerung 1977 bestraft wurde. Für mich besonders erschütternd war der nur wenige Zeilen umfassende Text „Schießbefehl“. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der den Wehrdienst bei der „Nationalen Volksarmee“ ablehnt, mit seinem Motorrad an die innerdeutsche Grenze fährt, um „Republikflucht“ zu begehen, und der dort erschossen wird. Der Mutter Martha Komorrek, die nach dem Tod ihres Sohnes selbst an gebrochenem Herzen stirbt, wird stundenlang, tagelang von der „Volkspolizei“ nicht mitgeteilt, dass ihr Sohn erschossen wurde. Der letzte Satz lautet: „Aushändigen können sie mir nur die Urne“.
Den 1926 geborenen DDR-Schriftsteller Hermann Kant, der 1978 in der Nachfolge von Anna Seghers (1900-1983) Präsident des DDR-Schriftstellerbverbands wurde, hat diese „Urnengeschichte“ maßlos erzürnt. Damals schrieb er über seinen verfolgten Kollegen den unglaublichen Satz „Kommt Zeit, vergeht Unrat.“ Eine Entschuldigung ist auch nach dem Mauerfall von 1989 ausgeblieben.
Bezeichnend für die DDR-Zensur ist auch die Geschichte des Kinderbuches „Der Löwe Leopold“ (1970), das nach der westdeutschen Erstausgabe 1976 auch in einem DDR-Verlag erscheinen sollte. Aber gerade in diesem Jahr, als Reiner Kunze zum „Staatsfeind“ erklärt wurde und der Kulturminister ihn gesprächsweise in Ostberlin wissen ließ, nun könne nicht einmal er einen tödlichen Verkehrsunfall verhindern, wurde die Auslieferung dieses unpolitischen Buches rückgängig gemacht und 15 000 bereits gedruckte Exemplare eingestampft. Einem mit Reiner Kunze sympathisierenden Drucker hat das nicht gefallen, er hatte konspirativ ein Exemplar abgezweigt und es auf irgendwelchen Umwegen dem Bäcker in Greiz überbracht, bei dem Ehefrau Dr. Elisabeth Kunze morgens immer die Brötchen kaufte. Als sie zu Hause die Brötchentüte öffnete, fand sie zuunterst ein Exemplar des angeblich nie gedruckten Buches.
Und ganz wichtig, wenn auch nicht von Reiner Kunze stammend, ist die Auswahl aus 3500 Seiten MfS-Akten, die unter dem Titel „Deckname Lyrik“ (1990) erschienen sind. Wichtig deshalb, weil dort das böse Wirken des Stasi-Zuträgers Ibrahim Böhme (1944- 1999) dokumentiert ist, den Reiner Kunze für seinen Freund hielt. Fast wäre der gesamte Aktenbestand von zwölf Bänden in einem Wald bei Pößneck/Thüringen verbrannt worden, auch Reiner Kunzes Akten waren dem Feuer übergeben worden. Aber dann fand man noch, dank der Sammelwut der MfS-Offiziere, in der Bezirksstadt Gera eine vollständige Kopie.
Ich hatte 1977 gehofft, Reiner Kunze könnte sich mit seiner Frau Elisabeth in Coburg ansiedeln, er wäre dann für mich leichter erreichbar gewesen. Er ließ sich, bevor er nach Obernzell-Erlau zog, dazu überreden, sich Coburg anzusehen, aber der damalige Oberbürgermeister, der von DDR-Verhältnissen keine Ahnung hatte, zeigte sich außerstande, dem frisch Ausgebürgerten in Coburg eine neue Heimat anzubieten.
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