Der Mann, der nicht ohne Eigenschaften war – Zum Tod Günter Schabowskis

Zuerst war es nur eine jener langweiligen Pressekonferenzen, wie sie aus dem DDR-Fernsehen bekannt war. Im Osten nicht Neues. Die meisten Journalisten hatten am frühen Abend des 9. November 1989 daher ihre Kameras schon verpackt, die Pressekonferenz, über die das DDR-Fernsehen live berichtete, war beendet. Doch nach der Pressekonferenz ist vor der Pressekonferenz, dies konnte man an diesem Abend mit historischer Dimension lernen.(1)
Während Angela Merkel in der Sauna war, fiel dann der Satz, der Geschichte schrieb. Der Akteur: Günter Schabowski, der mit einem Fehler den Fall der Mauer beschleunigt. „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Und: „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen,“ so stammelte der damals völlig verunsicherte Politfunktionär auf Anfrage eines Journalisten. Nach dem Willen der SED sollte aber die zwar vorgesehene Reiseregelung eben nicht „sofort und unverzüglich“ in Kraft treten, sondern erst am 10. November und dann auch nach einem geregelten Verfahren. Doch dank Schabowski, bewußt oder unbewußt – darüber gibt es auch nach 25 Jahren Spekulationen, war Deutschland aus Versehen wiedervereinigt! Der Rest ist Geschichte: Zehntausende Ost-Berliner und viele DDR-Bürger in der Nähe der innerdeutschen Grenze verlangten, am gleichen Abend ohne Pass und Visum in die Bundesrepublik gelassen zu werden. Das Ende der DDR war damit faktisch gekommen, und damit viel schneller, als es im Politbüro geplant war.

Wem die Stunde schlägt – Nach der Wende war er ein Auslaufmodell

Wenn man glaubt, die Geschichte vergißt nichts, dann hat sie wohl Schabowski vergessen, wenngleich – medial gesehen – seine Worte vom 9. November zu den meist Ausgestrahltesten gezählt werden dürften, sie haben Fernsehgeschichte geschrieben.
Doch nach seiner großen Stunde am 9. November fiel Schabowski als Mensch weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis. Die neuen Protagonisten der Wiedervereinigung haben ihn die letzten 25 Jahre einfach ignoriert. Für den langjährigen Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“ und den damaligen Berliner SED-Chef bedeutete das Ende der DDR nicht nur das Ende seiner Karriere, sondern war der Beginn einer neuen Zeitreise jenseits des Establishments. Während der andere große Initiator der Deutschen Einheit, Michael Gorbatschow, mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika scheiterte und 1990 gepuscht wurde, aber immer noch im erlauchten Kreis der Weltpolitiker (Kohl und Busch) aufgenommen und geradezu und zu Recht hofiert wurde, ist es um Schabowski immer einsamer geworden. Auch für die damaligen Avantgardisten vom „Neuen Forum“ war er eine persona non grata, für die ehemaligen Funktionäre der SED gar ein Verräter, der, wie ich aus mehreren Gesprächen mit ihm erfuhr, um sein Leben fürchten musste. Von Egon Krenz oder Hans Modrow wurde er geschmäht, und am 21. Januar 1990 verstieß ihn die sich inzwischen von der SED zur PDS umbenannte Staatspartei. Modrow und Gysi wollten soviel von der DDR retten, wie zu diesem Zeitpunkt noch zu retten war – mit Schabowski jedoch war das nicht mehr zu machen. Aber auch auf der bundesdeutschen Seite war die Charmeoffensive gegenüber dem „Grenzöffner“ bescheiden: Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher blieben ihm gegenüber reserviert.

Schabowskis späte Einsicht

Doch der ehemals kalte Krieger hatte seine Lektionen gelernt. Er war der einzige ehemalige SED-Funktionär, der sich offen gegen das DDR-Unrecht, das Stasi-Regime und die Mauertoten bekannte. Zu spät sicherlich. Aber für Schabowski begann nun jenseits von Kadavergehorsam und Parteidisziplin ein neuer Lebensabschnitt. Ohne Unterstützer und ohne Privilegien begab er sich auf Lesereisen – oft gemeinsam mit Dissidenten des DDR-Regimes, die für ihre Meinungsäußerungen von der Stasi verhaftet wurden. Diese Lesereisen von Täter und Opfer zeigten auf eindrucksvolle Weise, dass sich der ehemalige Hardliner seiner Vergangenheit stellte.
Für die Morde an der Berliner Mauer musste er sich 1995 verantworten. Aber im Gegensatz zu den Mitangeklagten räumte er seine Mitverantwortung ein. „Als einstiger Anhänger und Protagonist dieser Weltanschauung empfinde ich Schuld und Schmach bei dem Gedanken an die an der Mauer Getöteten. Ich bitte die Angehörigen der Opfer um Verzeihung.“ Von drei Jahren Haft wegen Totschlags hatte Schabowski nur ein Jahr seiner Strafe im offenen Vollzug abzusitzen. Wie sehr er sich politischgewandelt hatte, zeigt sein späteres Engagement für die CDU, die Akzeptanz des christlichen Glaubens, dem er zuvor kritisch gegenüberstand, und 2001 die Warnung an den damals Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit vor einer Koalition mit der PDS.
Schabowski stammte aus einfachen Verhältnissen. Geboren 1929 in Pommern qualifizierte er sich im sächsischen Leipzig und auf der Parteihochschule der KPdSU in Moskau, gehörte zum engsten Zirkel um den damaligen Parteichef Erich Honecker und wurde 1984 Vollmitglied des SED-Politbüros. Als Ziehsohn Honeckers vertrat er aber nicht immer und unbedingt dessen strikten Parteistalinismus und die DDR-Planwirtschaft. Schabowski galt intern als Kritiker, eher der leisen Art, bemühte sich aber, wirtschaftliche Reformen anzustoßen, um die von ihm deutlich erkannte wirtschaftliche Schwäche der DDR, die Misere des Systems, auszubügeln. Gegen Honecker und Stasi-Chef Erich Mielke warb Schabowski daher um den jüngeren SED-Kronprinz Egon Krenz, mit dem Ziel, Honecker abzulösen.
Die letzten Lebensjahre hatte er bescheiden in einer Plattenbauwohnung in der Wilhelmstraße in Berlin gelebt. Nach mehreren Herzinfarkten und Schlaganfällen ist er im Alter von 86 Jahren am 1. November 2015 in einem Pflegheim verstorben. Mit seiner DDR-Vergangenheit hatte er immer wieder gehadert und sich dazu in einem Interviewband 2009 geäußert. „Wir haben fast alles falsch gemacht – Die letzten Tage der DDR. Günter Schabowski im Gespräch mit Frank Sieren“. Ich selbst habe ihn als einen Menschen in Erinnerung, der offen für Diskussionen, der keineswegs ein Betonkopf war, sondern eher sensibel, ausgeglichen und den besseren Argumenten gegenüber aufgeschlossen. Er war ein DDR-Intellektueller, der leider die längste Zeit seines Lebens auf der falschen Seite stand.
Dass Schabowski kein politischer Ignorant war, belegt zuletzt seine Leidenschaft für den bekanntesten Roman von Arthur Koestler: „Sonnenfinsternis“. Das Buch, das in der Zeit der Stalinschen Säuberungen in den 1930er Jahren spielt und die Unterwerfung und Selbstverleugnung alter Revolutionäre zum Thema hat, die „Verbrechen“ gestanden, die sie gar nicht begangen hatten, hatte Schabowski schon früh beeindruckt. Vielleicht hat er in den letzten Jahren der DDR nicht nur nicht mehr an den Sieg von Kommunismus und Planwirtschaft geglaubt, sondern sich von einem Regime verabschiedet, das menschenunwürdig agiert. Mit Schabowski ist nun auch ein Stück innerdeutsche Geschichte mit gestorben und hat einen ihrer Protagonisten verloren.

(1) Die DDR-Nachrichtenagentur ADN hatte Schabowskis Text schon 19.04 Uhr verbreitet. 19.30 kam er dann in der Ost-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ im DDR-Fernsehen. Um 20.00 Uhr wurde er in der „Tagesschau“ mit der Meldung „DDR öffnet Grenze“ gesendet.

Pressekonferenz mit Günter Schabowski am 9.November 1989

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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