Der Lockdown wird die Gesellschaft spalten und die Corona-Demos sind wider die Vernunft

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Die Virologen haben vor einer weiteren Verbreitung des Coronavirus gewarnt. Auch die Kanzlerin warb am Montag für ein erneutes Vertrauen in die Maßnahmen des Staates nach dem Lockdown. Doch was sich bei den Corona-Demos abspielt, widerspricht dem Gesunden Menschenverstand.

Corona – Die neue Metaphysik

Selten hatten Wissenschaftler so eine Deutungshoheit wie in Zeiten der Coronakrise. Aber wenn die Stunde schlägt, werden selbst scheue Virologen zu Erklärern der Wirklichkeit –Wahrheitsanspruch inklusive. Doch genau besehen sind die Deuter selbst in permanenter Selbstkorrektur. Die Deutung der Virologen gleicht einem Eiertanz um die Wahrheit. Auch ihnen ist das Coronavirus eine Art metaphysischer Rest, das sich permanent dem klaren Verstand entzieht. Wie die albanische Weissagerin durch die gläserne Kugel geben sie okkulte Ratschläge zur Bekämpfung und predigen eine Heuristik der Furcht, die einen das Gruseln in einer anderen Dimension neu erlernen lässt. Denn im Angesicht des Virus zeichnen sich alle Mühen der Wissenschaftler durch eine bemerkenswerte Hilf- und Ratlosigkeit aus. Corona erscheint als neuer Gott und die Wissenschaft darüber wie eine neue Metaphysik, die sich aber wie die alte nur deutend an Inhalt, Form und Erscheinung des Absoluten oder Verborgenen anzunähern vermag. Das hat sich nach zwei Monaten Viruskrise bis heute nicht verändert.

Die Zeiten der Aufklärung scheinen im 21. Jahrhundert vorbei. Nie gab es weniger Wissen über das Nichtwissen hatte Jürgen Habermas erst jüngst kritisiert und nie eine größere Vielstimmigkeit der Meinungen zu einem ganz konkreten Sachverhalt. Und in der Tat, diese neue Unübersichtlichkeit prägt gravitätisch unseren Alltag.

Der Tanz der Virologen und Wissenschaftler

Auf der einen Seite plädierten Christian Drosten und Co mit aller Nachhaltigkeit auf Entschleunigung, Kontaktsperren und favorisierten den Shutdown als Präventiv samt kategorischen Abstands-Imperativ. Dagegen hielt die älteste und wohl seriöseste Wissenschaftsakademie der Welt, die „Leopoldina“, ein Ende des Lockdowns für das Gebot der Stunde und gab ein interdisziplinäres Plädoyer für einen geordneten Rückzug in den Alltag. Im bunten Allerlei verwirrte auch eine Aussage von Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery, der gerade als sich alle sechzehn Bundesländer auf das Tragen von Atemmasken geeinigt hatten, dem Tragen des Mundschutz zur Coronaeindämmung eine radikale Absage erteilte, ja, die gesetzliche Maskenpflicht für grundfalsch erklärte. Zuvor haderte auch das Robert Koch Institut über die Schutzfunktion von Masken, bevor es diese zumindest zum Selbstschutz empfahl.

Für den Verbraucher derartig breitgefächerter und sich einander ausschließender  Interpretationen gebiert dies aber nur noch Unübersichtlichkeit, die die fehlenden Informationen während der Flüchtlingskrise gar noch zu überbieten drohen. War Deutschland schon 2015 in Migrationbefürworter und -kritiker gespalten, so in Coronazeiten umso mehr. Der harte Kampf zwischen den Lockdown-Befürwortern und -gegnern ist entbrannt. Der Kampf um Verbote und Öffnungen hat sich vom Kanzleramt in den Straßenkampf verlegt und feiert dort das Fest der reinen Unbekümmertheit. Angela Merkels Kassandrarufe sind mit den bundesweiten Lockerungen im gleichen Umfang verflogen wie die sechzehn Landesfürsten in föderaler Vielstimmigkeit nun geradezu Öffnungsorgien feiern. Wie schon vor Jahrhunderten ist Deutschland wieder in seine kleinen Fürstentümer aufgespalten, die den herrschaftsfreien Diskurs als neue Souveränität gegen den Souverän feiern. Aber wenn es schief geht, können sie es dieses Mal nicht der Kanzlerin anlasten, die den Selbstermächtigungsorgien eine radikale Absage erteilte und sich letztendlich – im Falle des Scheiterns und einer zweiten Welle – zumindest unbeschadet als moralische Instanz hinausretten kann.

Corona-Demos beschädigen den Staat

Was sich aber jetzt auf den Straßen mit den neuen Corona-Demos als Foren unter dem Deckmantel des „liberal-freiheitlichen Protestes gegen den Shutdown abspielt, gleicht einer Farce. Die Lockdown-Gegner schlagen über die Strenge und überschreiten das Maß des Gesunden Menschenverstandes. Die Revolte wird zum Happening, freiwillige Coronainfektion eingeschlossen oder gar bewusst gewollt. Wer bei derartig leichtsinnigen Darbietungen die Wahrung der Bürgerrechte vertreten wissen will, geht fehl. Sie sind nichts anderes als egoistische Manifestationen von irrlichtartig dahinschwirrenden Selbststilisieren, die bewusst auf Konfrontation mit dem Staat gehen, weil sie weder Abstand halten noch Mund/Nasenschutz/Bedeckung tragen. Wenn sich Politiker wie der Eintags-Ministerpräsident von Thüringen, Thomas Kemmerich, zu derartigen okkulten Märschen missbrauchen lassen, dann haben Christian Lindner (FDP) und Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE) mit ihrer Kritik an einem derartig verantwortungslosen Umgang in der Coronakrise Recht. Lindner kritisierte die Aktion des Thüringer Landesvorsitzenden dann auch scharf: „Die Aktion von Thomas Kemmerich schwächt unsere Argumente. Ich habe dafür kein Verständnis“ und Ramelow twitterte „Vorbildfunktion? – Fehlanzeige!“ Zwar hatte sich Kemmerich später für seine Teilnahme entschuldigt, doch für den nach der Ministerpräsidentenwahl mit AfD-Stimmen ohnehin angeschlagenen FDPler bleibt es kein Ausweis für sein politisches Gespür.  

Wer das „Lebe gefährlich“ Nietzsches prädestiniert, geht wie in Berlin, München und Gera maskenlos auf die Straße, provoziert den Staat und treibt die Schere zu den Lockdown-Gegnern weiter auseinander. Das Ergebnis wird eine weitere Polarisierung der Gesellschaft sein, die dann gar keines Populismus, sei er von rechts oder links ausgreifend kommend, bedarf, um weiter auseinander zu driften.

Wenn es zum Wesen der Wissenschaft gehört – wie schon Georg Friedrich Wilhelm Hegel betonte – sich in Widersprüche zu verstricken, um aus Fehlern zu lernen, muss die Politik wieder transparenter und vor allem für die Bürger verständlicher ihre Maßnahmen und Verbote kommunizieren. Sonst droht sie nicht nur missverstanden, sondern zu einem unbekannten Akteur mit metaphysischen Qualitäten zu werden, den niemand versteht. Derartige Transparenz hatte die Bundesregierung aber schon im Flüchtlingsjahr vermissen lassen und die AfD auf den Plan gehoben. Verfängt sie sich in derselben Intransparenz wie 2015 könnte mit der ausufernden Zahl von Corona-Demos eine zweite Pandemiewelle auf uns zurollen, die mit Sicherheit verheerender wird.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".