Der Kongress tanzt nicht, er trauert

Einsame Bank in Italien, Foto: Stefan Groß

Man muss nur genau hinhören. Die Streicher spielen vorsichtig den ersten A-Dur-Akkord, ein schwerer, zweitaktiger Rhythmus legt sich über den Raum, beherrscht ihn, bis sich Bratschen und Violincelli dazugesellen. Dann ist es zu hören… ein leises, crescendo poco a poco erklingendes Wehklagen, unüberhörbar bahnt es sich durch die starren Verhältnisse der Prozession tief hinein in das menschliche Gehör. Der Atem stockt. Die Sargträger schreiten voran. Der Tote verlässt den Saal.

Währenddessen übernehmen die ersten Violinen die zweite Stimme, die Schwere löst sich und lässt wohlklingende Höhen zu, man atmet durch – die Themen, anfangs mehr im Dunkeln liegend, stehen plötzlich in freundlich hellem Glanze dar.

Zu Beethovens Siebter Symphonie verlässt der verstorbene Helmut Kohl den Plenarsaal des Europäischen Parlamentes, um schließlich in Speyer seine letzte Ruhestätte zu finden. Ist es sinnvoll, die Trauer um einen Staatsmann von ihrem Ende her zu denken, dem finalen Auszug, wenn alle Reden ertönt sind? Will man eine Person ehren, so muss man über sie reden. All das Gute und Wahre, das sie verkörperte, wird nicht im letzten Auszug offenbar, sondern vorher. Doch das Ableben epochaler Figuren – und eine solche war Helmut Kohl – kommt nicht in der Rückschau ihres Wirkens zur Wirklichkeit. Die Person Helmut Kohl ist tot. Und die Realität seines Epochemachens zeigt sich erst dann, wenn diese vorüber ist. Die Redner und Nachrufschreiber haben über das Geschichtliche alles gesagt. Was in Zukunft gesagt werden muss, drängt jedoch erst dann zur Oberfläche, wenn der Sarg die Trauergemeinde verlässt.

Beethovens Siebte war eine bemerkenswerte Wahl für diesen deutungswürdigen Moment. Die Symphonie wurde am 8. Dezember 1813 im Festspielsaal der Wiener Universität als Benefizkonzert unter Beethovens Dirigat uraufgeführt. Die Erlöse kamen antinapoleonischen Kämpfern zugute, die anderthalb Monate zuvor in der Völkerschlacht bei Leipzig den »Weltgeist zu Pferde« aus Deutschland vertrieben. »Die Jubelausbrüche während der A-Dur-Sinfonie … übertrafen alles, was man bis dahin im Konzertsaal erlebt hatte«, notierte Anton Schindler. Und Beethoven selbst bedankte sich mit den Worten, »uns alle erfüllt nichts als das reine Gefühl der Vaterlandsliebe und des freudigen Opfers unserer Kräfte für diejenigen, die uns so viel geopfert haben«. In der Symphonie erklingt das Europa des jungen 19. Jahrhunderts: Sich entreißende Nationen, heillose Heere, sprühende Ideen, politische Großverschiebung. Nicht umsonst schrieb die junge Bettina von Arnim an den Dichter Egmont, beim Anhören dieser Musik habe sie sich vorgestellt, »den Völkern mit fliegender Fahne voranziehen zu müssen«.

Es ist nicht das erste mal, dass die Siebte zu einem hochstaatlichem Anlass spielt. Beinahe ein Jahr nach der Uraufführung durfte Beethoven eine Akademie auf dem Wiener Kongress veranstalten. Das Konzertereignis fügte sich gut in den gesellschaftlichen Rahmen des Kongresses – die russische Zarin soll begeistert gewesen sein, berichtete man sich. Und auch hier war die Symphonie nicht Fehl am Platz. Die europäischen Herrscher, die nach den napoleonischen Kriegen in einer Stadt zusammenkamen, berieten über die Neuordnung des Kontinents. Das heißt, wenn sie nicht gerade tanzten. Die Acte final, bestehend aus 121 Artikeln, sollte das kriegsvitale Europa in ein System der Gleichgewichte führen. Dazu tummelten sich Diplomaten, Staatssekretäre, Minister, Regierungschefs und Monarchen auf Banketts, Verhandlungstreffen, Bällen und Gelagen. Im kulturell, künstlerisch, musikalisch blühenden Wien kam die Elite eines ganzen Kontinentes zusammen, um der Dominanz einer der europäischen Nationen ein Gleichgewicht der Mächte entgegenzusetzen. Gleichgewicht… der Tanz verdichtete dieses Europa in einem gesellschaftlichen Symbol. War dies eine gute Ordnung? »Das sogenannte Kongresssystem markierte die Geburtsstunde der Konferenzdiplomatie und gilt heute als Wegbereiter kooperativer Konfliktbearbeitung«, schreibt die Historikerin Anne-Sophie Friedel. Manchen gilt der Wiener Kongress sogar als Vorläufer Vereinten Nationen oder der Europäischen Union. Doch die Ordnung, wie sie sich nach Wien in Europa entfaltete, war nicht kooperativer Natur. Solidarität kannten die Unterzeichner nur im Hinblick auf revolutionäre Umtriebe, die, das hatte Frankreich gezeigt, die lästige Eigenschaft hatten, keine Rücksicht auf Ländergrenzen zu nehmen. Im Orchester der Nationalinteressen entstand die Melodie eines geordneten Egoismus. Das Orchester spielte lange, doch nicht lange genug: 1914 stürzte der Kontinent und mit ihm der Rest seiner Welt in den Abgrund des Krieges.

»Nie wieder Krieg« – dies war immer das Motto Helmut Kohls gewesen. Schon als Jugendlicher, als er knapp dem Einzugsalter der Wehrmacht entging, prägte ihn dieser Satz. Sein älterer Bruder, Walter, fiel ende November 1944 als Soldat bei einem Tieffliegerangriff in Haltern. Ein sinnloser Tod in einem gottlosen Krieg. Helmut Kohl begriff, dass sich dieses Europa verändern muss, sodass die kriegerischen Jahrzehnte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nie wieder möglich sein werden. Die Provinz lehrte ihm wie dies anzustellen war, obgleich ihm seine Herkunft immer wieder zum Nachteil ausgelegt wurde. In der Pfalz lebte er unter französischen Einflüssen: In den 1790er Jahren war das gesamte linksrheinische Gebiet Teil der Französischen Republik, es galt der Code Civil – und bis heute ist es von dort nicht weit in die französische Nachbarschaft, die Bande sind eng. In der Enge der Heimat wurde Kohl zum Internationalisten; lange bevor er die Welt bereiste, erkannte er die Relativität staatlicher Grenzen. Bei Weißenburg – hier beginnt der Elsass – hat er schon 1947 demonstrativ den Schlagbaum demoliert. »Wir wollten die Vereinigten Staaten von Europa«, wird Kohl später zu diesem Tag notieren.
Gab es je das Europa Kohls? Das der Kooperation, Einheit, Zusammenarbeit, das der Staatswerdung, der eingerissenen Schlagbäume? Streit um die Europolitik, Streit um die Flüchtlingskrise, Brexit, Uneinigkeit über Uneinigkeit… Die Liste der Einwände ist lang. War alles am Ende nur ein hehrer Wunsch? »Alle Menschen werden Brüder // Wo dein sanfter Flügel weilt…«, erklang am Freitagvormitag noch vor Beethovens Siebter – mit deutschem Text. Davor die deutsche Nationalhymne. Zu beiden Stücken erhob sich der gesamte Saal; waren es deutsche Stücke, oder waren es europäische? Die Leitartikel häufen sich, die hinter der Europahymne noch immer dasselbe Orchester der Nationalstaaten spielen hören. Der Sarg war mit einer Europaflagge bedeckt, aber getragen haben ihn Offiziere der Bundeswehr. Die Totenwache des Eurokorps salutierte, und doch erhielten die Soldaten ihre Marschbefehle aus Paris, Madrid, Berlin, Brüssel. Gleich vier der Redner griffen Kohls Warnung vor einem »deutschen Europa« auf. Ein Europäischer Staatsakt ward angekündigt, geladen hatte man zu einem »Trauerakt«. Wir befinden uns hier in der dünnen Luft staatlicher Symbolik. Aber wo kein Staat besteht, kann er auch nicht ehrend in Erscheinung treten.

Wieviele Europas wohl im Europaparlament umherliefen? Ein französisch-dirigistisches, ein ungarisch-völkisches, ein deutsch-geordnetes… Wie die Vorstellungen über die Auslegung und Zukunft dieses Staates auseinanderfallen! Und doch waren sie am Freitag alle da: Die Briten, Franzosen, Belgier, Holländer, Deutschen, Spanier, Ungarn, Polen, Italiener. Auch Amerikaner und Russen kamen zu diesem Trauerkongress. Sie versammelten sich, um einen aus ihrer Mitte zu würdigen. Jemanden, der ihr Europa entscheidend geprägt hat. Es war eben doch irgendwie Kohls Europa, das zusammenkam. Vertreter aller Herren Länder redeten, zeigten sich Respekt, wie es sich für formale und echte Republiken eben gehört. Von einer europäischen Ordnung war die Rede, die im Argen lag und noch entstehen werde. Sicher ist, dass jeder, der dieses Wort in den Mund nahm, eine andere meinte. Aber was kümmert es? Es wurde geredet und nicht geschossen, besser ließe sich das Vermächtnis Kohls nicht darstellen.

Es herrscht Frieden. Aber reicht das noch? Ahnungslos fragten sich die Wohlgesinnten, wie aus diesem Sprachenwirrwarr noch ein Staat werden solle. Währenddessen spielte der russische Ministerpräsident auf das Verprechen enger Zusammenarbeit an und klang dabei allzu eurasisch, wofür er böse Blicke des ukrainischen Präsidenten erntete. Der amerikanische Vertreter erlaubte sich subtil auf die europäische Hilflosigkeit im Kosovokonflikt hinzuweisen. Aller protokollarischen Ordnung zum Trotz: Hier ringt ein Kontinent samt seiner Flügelmächte um seine zukünftige Form. Vielleicht war es kein Zufall, dass ausgerechnet der zweite Satz der Siebten dem Auszug Kohls zur Stimme verhalf. Die europäischen Staatschefs dürften, sollten sie auch nicht die ganze Symphonie im Ohr haben, den dunklen Rhythmus und vor allem die entrückten Themen des letzten Satzes vorausgeahnt haben.  Hier kommt etwas auf uns zu, das wir weder kennen noch vollends bestimmen können. Die Zukunft Europas lag in der Luft. Nur war sie nicht in Worte zu fassen, wie es gute Musik eben so an sich hat. Und während Helmut Kohl aus dem Plenarsaal getragen wurde, verließ mit ihm auch eine wohlbekannte Epoche den Raum. Wird man sie vermissen? Der Kongress zumindest trauert. Man muss nur genau hinhören.

Über Oliver Weber 12 Artikel
Oliver Weber wurde 1997 in Kelheim geboren. Er schreibt als freier Journalist für diverse Online- und Printpublikationen. Im Zentrum seiner Analysen, Kommentare und Essays steht das tagesaktuelle Geschehen aus Politik, Wirtschaft und Kultur."

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