Der „kleine Hemingway des Montparnasse“

„Für seine bedeutungsvolle Verfasserschaft, die mit scharfsichtigem Ernst menschliche Gewissensprobleme in unserer Zeit beleuchtet“, wurde 1957 dem damals 43-Jährigen der Literaturnobelpreis verliehen. Am 7. November 2013 wäre Albert Camus 100 Jahre alt geworden. Doch er schaffte nicht einmal die Hälfte. Nur zwei Jahre nach der höchsten literarischen Ehrung war er tot. Umgekommen auf der Landstraße nahe Villeblevin bei einem tragischen Verkehrsunfall. Iris Radisch hat 57 Jahre nach der schwedischen eine deutsche „Laudatio“ verfasst. Sie würdigt den in der Nähe von Algier, in Mondovi, Algerien, geborenen Schriftsteller, Bühnenautor und „Philosoph des Absurden“ auf ihre ganz persönliche Art: eine Biografie, die in allen Belangen seinem Sujet würdig wird.
„Camus hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass es für ihn undenkbar war, die Literatur von den elementaren Erfahrungen der Menschen zu lösen, von dem großen Schmerz und dem großen Glück, die ein Leben bestimmen.“, schreibt die Autorin. Und genau dieser Satz bestimmt auch den Duktus ihrer zu Papier gebrachten, ausgezeichneten Recherchen. Im Gegensatz zu der „Gleichgültigkeit der Mutter, die irgendwo im Abseits des Autismus ihr Leben verbracht hat“ und Camus sowie all seine literarischen Figuren, die „von einer ähnlichen Aura der Kälte umgeben sind und niemals die seelische Nähe anderer Menschen suchen“, prägte, zeichnet Iris Radisch ein unglaublich lebhaftes und emotionales Bild des Franzosen. Denn trotz aller menschlicher Kühle sind Camus' Romane und Erzählungen lichtdurchflutete „Sommerbücher“, „elektrisiert von der Hitze des Mittags, der nie zu enden scheint (…), geschrieben unterm höchsten Sonnenstand, in dem die Dinge keine Schatten werfen und mit sich allein sind.“
Virtuos und sprachgewaltig, intellektuell und vielschichtig stellt Iris Radisch den Lebensweg Camus' dar: vom „Schweigen im Armenviertel einer französischen Kolonie (…), losgelöst von der religiösen und kulturellen Nabelschnur zum unbekannten europäischen Mutterland – ohne Kenntnis von der eigenen Geschichte und dem eigenen Herkommen in einem Niemandsland endloser Gegenwart, durch das hin und wieder lärmend eine Straßenbahn fährt“ bis hin zum weltgewandten Pariser Starautor. Dabei richtet sie ein besonderes Augenmerk neben all den prägenden und ihn beeinflussenden Zeitgenossen wie Jean Grenier, Pascal Pia, den Dichter René Char oder den mit ihm im Autowrack umgekommenen Michel Gallimard, vor allem auf den Mann, dessen Leben nicht unterschiedlicher beginnen konnte, als das Seinige: der Systematiker und Absolvent der Pariser École Normale Supérieure Jean-Paul Sarte. Er war es auch, der den titelgebenden, alles andere als freundschaftlichen und anerkennenden Ausspruch äußerte. Zwar erkannte er die Sprengkraft des Werkes des „geistigen Handwerkers“, aber die Originalität seines Autors anerkannte der „intellektuelle Bohemien“ nicht. Am Ende „hat die Geschichte Sartre unrecht gegeben. Und Camus in allem bestätigt. (…) seine Kritik des Totalitarismus hat sich als eine der hellsichtigsten Gegenwartsanalysen des 20. Jahrhunderts erwiesen.“
Gleichfalls hervorragend gelingt der Autorin zudem die harmonische Einflechtung des Lebenswerkes ihres „Helden des Schreibens am Nullpunkt der Literatur“. Sie bindet nicht nur Camus' Welterfolge wie „Der Fremde“, „Mythos des Sisyphos“ oder „Die Pest“ ein, sondern Radisch geht auf sein komplettes Oeuvre intensiv und erläuternd ein: Bücher, die aus dem Zerrissen Sein eines Menschen „zwischen den Gegensätzen des Lebens“ geboren wurden, der zudem „davon überzeugt ist, keine Zeit mehr zu haben – für den Aufschub des Glücks, für Verstellungskünste der Zivilisation, für das Irgendwann der Geschichtstheologie.“ Radisch macht Camus' „philosophische Erkundung der Welt“ für den Leser spürbar und stellt seine Stärke – die „Literarisierung die Philosophie“ ganz nach dem Vorbild Montaignes, Pascals und Nietzsche, in den Vordergrund.

Fazit: „Er hat nie versucht, auch nur einen seiner Widersprüche zu lösen, er wollte das Leben und das Sein niemals beschneiden“, erinnerte sich seine ehemalige Geliebte Maria Casarès. Albert Camus selbst bezeichnet es anders: „Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.“ Dieses individuelle, kontrollierte Erleben des Schriftstellers und Existenzialisten, diesen zwischen den Gegensätzen seines Lebens zerrissenen Mann, der am liebsten alles zugleich mochte – “ Norden und Süden, französische Kultur und mediterrane Lebensart. Askese und Ausschweifung.“, könnte als Zusammenfassung in einem Satz über der Biografie von Iris Radisch stehen. Intelligent, wortstark, emotional, aber auch kritisch beleuchtend, stellt sie den „algerischen Gassenjungen“ als Menschen mit Schwächen, aber auch vielen Stärken dar und setzt ihn wirkungsvoll in sein gelebtes Zeitalter. Eine äußerst gelungene Würdigung. Ein großartiges Geburtstagsgeschenk.
„So hat mich jedes Mal, wenn ich den tiefsten Sinn der Welt zu erfühlen glaubte, vor allem ihre Einfachheit erschüttert.“ (Albert Camus)

Iris Radisch
Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie
Rowohlt Verlag (September 2013)
352 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3498057898
ISBN-13: 978-3498057893
Preis: 19,95 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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