Der Jagdflieger und Tante Else

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Mein Vater war im Sommer 1936 nach Rodach gekommen, meine Mutter folgte mit mir Ostern 1937. Als im Sommer Erdbeeren und Himbeeren und im Herbst die Äpfel in unserem Garten geerntet werden mussten, war meine 22jährige Mutter verzweifelt, weil sie in der Großstadt Berlin aufgewachsen war und keine Ahnung hatte.

In der Coburger Straße 4 wohnte damals die Witwe Julia Strecker mit ihren beiden Töchtern Else und Rosel. Sie betrieben einen kleinen Laden für Haushaltsgeräte, der wenig abwarf, gerade so viel, dass die drei Damen überleben konnten. Von ihnen wurde meine Mutter in Sachen Landleben beraten, wofür sie ihr Leben lang dankbar war. Die Mutter Julia Strecker starb 1956.

Bevor ich 1943 in die Schule kam und auch noch danach, war ich oft bei den drei Strecker-Damen zu Gast, die auch einen Garten im Götzengässle hatten. Die Oma Strecker hatte einen Sessel am Fenster zur Coburger Straße schräg gegenüber vom Hörnleins Fritz und seiner Bäckerei. Ich saß dann auf ihrem Schoß, wobei sie sang: „Wo iss denn mei Jörchla? Habter net mei Jörchla gsahn? Der iss auf der Kerwa und hat an Fatz`n Rausch!“

Eines Abends im Sommer oder Herbst 1942, als ich fünf Jahre alt war, draußen war es schon dunkel, bekam das Stoffgeschäft Oswald gegenüber Besuch von einem Oberfeldwebel der Luftwaffe, Berthold Graßmuck, 25 Jahre alt. Der Besuch galt dem Sohn der Oswalds, der Angehöriger der Waffen-SS war. Später hat er die älteste Tochter des Maurermeisters Max Steitz aus der Kirchgasse geheiratet.

An diesem Abend stand ich mit Tante Else allein im Verkaufsraum, das Licht war ausgeschaltet, und sie schaute wie erstarrt hinüber zum Ladeneingang bei Oswalds. Dann flüsterte sie mir zu: „Das ist ein Ritterkreuzträger!“ Ich wusste mit fünf Jahren nicht, was das ist, aber die Stimme Tante Elses sagte mir, dass es etwas Hohes, Erhabenes sein musste. Wenige Wochen später, am 28. Oktober 1942 sollte er, gerade 25 Jahre alt, über Stalingrad abgeschossen werden. Geboren ist er am 18. Januar 1917 in Rodach und gehörte seit 1940 zum Jagdgeschwader 52. Am 5.Oktober 1941 hatte er seinen ersten Abschuss in Russland, am 6. August 1942 waren es schon 50, bei der Verleihung des Ritterkreuzes 64.

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Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.