Jakob Hein: Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken, Galiani, Berlin 2022, 20 EURO (D)
Die Handlung des neuen Werkes von Jakob Hein spielt einem kleinen Dorf in der DDR in den frühen 1980er Jahren im märkischen Oderland. Dies war die Zeitspanne, wo die Akzeptanz des Staatssozialismus innerhalb der Bevölkerung zu sinken begann und sich Proteststimmung breitmachte. Das Leben in dem Dorf wird zunächst als das genaue Gegenteil geschildert. Dort kennt jeder jeden, die Zeit scheint stillzustehen, in der Provinz ist wenig geboten bis auf das Sichten von Kranichen und eine reizvolle Natur.
Die Geschichte wird durch die Perspektive verschiedener Einwohner geschildert, die zugleich Hauptpersonen sind. Wie die Seniorin Lieselotte Sawidski, oder ihre Nachbarin Gerda, die im Laufe der Handlung stirbt.
Die Idylle wird erst dann zerstört, als Gerdas Enkel Michael nach ihrem Tod in das renovierungsbedürftige Bauernhaus einzieht. Michael ist anders als die anderen Dorfbewohner: Er musste sein Psychologiestudium abbrechen, weil er sich an der Uni nicht systemkonform zeigte und exmatrikuliert wurde. Um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, greift er eine Gabe zurück, die er während seine Studentenzeit entdeckte: Er kann Menschen hypnotisieren und diese auf Gedankenreise an alle schönen Orte der Welt schicken.
Bedarf dafür gab es reichlich, die weitgehende Reisebeschränkungen in der DDR mit Ausnahme des sozialistischen Auslandes lockten schon bald aus Berlin und der umliegenden Gegend Klienten an. Die passten gar nicht in das beschauliche Dorf: Junge gestylte Frauen, Künstler, Lebenskünstler und alternativ denkende Personen. Sie alle stiegen in Michaels Bauernhaus ab und blieben dort einige Zeit, um sich ans Ziel ihrer Sehnsüchte bringen zu lassen. Das Gefühl, in einem Gefängnis leben zu müssen, wurde durch den Hypnositeur durchbrochen. Die äußerliche Enge wurde ersetzt durch die innere Suggestionen und die Macht der Phantasie. Die Gedanken sind frei. Dort konnte man das erleben, wovon man insgeheim träumte.
Dies waren alles Gedankenreisen an Orten oder Metropolen im Westen. Nach diesen kehrten die Klienten wieder euphorisiert in die DDR zurück und fühlten sich nach dem Hochgefühl schon bald desillusioniert.
Eine dieser Klienten war die junge Anika, die nach einer Parisreise dauerhaft wohnen blieb und die Chance sah, durch eine Art Marketing die Hypnosesitzungen weiter bekannt zu machen.
Das für die Dorfbewohner undurchschaubare Treiben wurde von ihnen misstrauisch beäugt. Es tauchten schnell skurrile Gerüchte auf, auch das von dem Hort der Republikflucht. Die einzige Ort der Dorfbewohner, der Enge zu entfliehen, war das Beobachten der Kraniche, Synonym für die Sehnsucht nach der Ferne.
Durch die erhöhte Aufmerksamkeit des Treibens in Michaels Bauernhaus werden auch linientreue SED-Kader aufmerksam, bis sich sogar die Stasi dafür zu interessieren beginnt. Selbst die Vorstellungskraft als Fluchtmöglichkeit soll vereitelt werden. Der allmächtige Staat will bis in die letzten Winkel der Persönlichkeit vordringen und sogar die Kontrolle über Träume und Gefühle bekommen. Der in der DDR aufgewachsene Hein wird dabei bestimmt seine biografischen Erlebnisse miteingebracht haben.
Die Vorstellungskraft als Mittel zur Realitätsflucht hat eine lange Tradition. In der Kunst der Romantik oder die Dichtung wurde durch seine Distanz zur Wirklichkeit Veränderung ermöglicht. Eine Möglichkeit der phantasiemäßigen Erfüllung von Wünschen und Sehnsüchten, die die wirkliche Welt nicht leisten kann. In diesem Zusammenhand kann die Möglichkeit der Alltagsbewältigung auch als eine Form des politischen Widerstandes gewertet werden.
Dieser während der Corona Pandemie geschriebene Roman kann sich auch auf Gedankenreisen in der Einsamkeit, Enge der Wohnung oder die drastische Einschränkung des realen Reisens beziehen. Die Flucht in schönere Welten kann nicht nur durch die Visualisierung im TV oder anderen Medien vonstatten gehen, sondern auch durch die Macht der Phantasie.
Die Kernbotschaft lautet: Eine äußere beklemmende und unglücklich machende Situation kann jederzeit durch die Kraft der Gedanken überwunden werden und im Inneren das Glück selbst erlebt werden. Gedankenfreiheit und die Kraft der Vorstellungskraft wird von Hein als persönliches Glück in diesem Roman beschrieben. Damit lädt der Autor zu einer persönlichen Auseinandersetzung in diesem tiefgründigen und dennoch leicht geschriebenen lesenswerten Roman ein.