Der Publizist Dr. Hugo Müller-Vogg macht sich mit nunmehr über 40 Jahren Erfahrung als politischer Journalist Sorgen über den Trend zum Konformismus in Deutschland. Ein Gespräch über Distanz und Nähe zur politischen Macht, rot-grünen Einheitsbrei in den Medien und über die um sich greifende Angst, die deutsche Einwanderungspolitik zu kritisieren.
Roland Tichy: Herr Müller-Vogg, Sie sind mehr als 40 Jahre im Geschäft. Wie hat sich der typische deutsche Politikjournalist in dieser Zeit entwickelt?
Hugo Müller-Vogg: (Überlegt) Mir scheint, dass er unkritischer geworden ist. Auf der Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz zur politischen Macht ist er hin zu mehr Nähe gekippt.
Woran sehen Sie das?
Nehmen wir eine der Hochzeiten von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder: Dort bestand die Festgesellschaft zum großen Teil aus mit ihm befreundeten Chefredakteuren. Mehr Nähe geht kaum, oder? Andere Journalisten fühlen sich schon toll, wenn sie sich mit Politikern duzen. So oder so: Es gibt auf beiden Seiten einen Hang zur Kameraderie.
Redakteure, die Politikern näher sind als andere Journalisten, bekommen mehr mit. Das kann ein Wettbewerbsvorteil sein.
Aber wer noch etwas Restanstand hat, bekommt durch die Nähe auch Beißhemmungen. Wenn ich abends mit einem Politiker beim Bier versackt bin, kann ich ihn am nächsten Morgen nur schwer in die Pfanne hauen.
In den 1990-er Jahren sind die Bundesregierung und die meisten Bundesministerien von Bonn in die neue Hauptstadt Berlin umzogen. Damals hieß es, die kritische Distanz zwischen Journalismus und Politik würde zunehmen, allein schon wegen der Größe Berlins. Warum kam es anders?
Weil sich das Treibhaus Bonn, in dem man den Spitzenpolitikern wirklich kaum aus dem Wege gehen konnte, einfach nur verlagert hat. Heute befindet es sich auf den zwei Kilometern rund um den Reichstag. Dort sitzen die Abgeordneten und die relevanten Medien fast aufeinander.
Das heißt, es hat sich nichts verändert?
Doch, vor allem Sicherheitslage. Heute gehen Politikentscheider kaum noch ohne Bodyguard aus dem Haus. Allein dies hat den Aufwand etwa für ein abendliches Bierchen mit vertrauten Journalisten deutlich erhöht. Auch deshalb trinken Politiker ihr Bier heute lieber alleine zu Hause. Ein weiterer Unterschied ist, dass Journalisten in Berlin nicht mehr in der Parlamentarische Gesellschaft, dem Klub der Abgeordneten, ein und aus gehen können. Aber es gibt andere Wege, sich anzunähern.
Welche?
Über eine wohlwollende Berichterstattung kriegen es die meisten Journalisten nach wie vor ganz gut hin.
Evelyn Roll, Hauptstadtjournalistin der Süddeutschen Zeitung, schrieb schon vor Jahren von einer freiwilligen Gleichschaltung des deutschen Politikjournalismus.
Ich nenne es Herdentrieb. Und der macht Journalisten zunehmen unkritisch. In der Praxis funktioniert er beispielsweise so: Die Chefredakteure gucken morgens in die Konkurrenzmedien und fragen ihre Redakteure dann in vorwurfsvollem Ton: Warum findet dieses und jenes nicht auch bei uns statt? Die rennen ja ständig einander hinterher. Denn wer im Trend mitschwimmt, kann angeblich nichts falsch machen. Durch das Internet ist die Herde noch schneller geworden.
Durch den Klickzahlen-Druck?
Auch, ja. Heute sieht jede Onlineredaktion in Echtzeit, wie die Publikumsresonanz ausfällt. Wenn ein Beitrag der Konkurrenz besonders viel geklickt und kommentiert wird, rennen die anderen sofort hektisch hinterher und schreiben den Konkurrenzartikel ab oder um. Auch deshalb bleibt bei den etablierten Medien die Vielfalt auf der Strecke. Mir kommen konservative Sichtweisen als Gegengewicht zum rot-grünen Einheitsbrei inzwischen viel zu kurz.
Warum bekommen wir diesen Einheitsbrei ständig aufgetischt? Theoretisch ginge es anders.
In der Praxis tickt die große Mehrheit der heutigen Journalistengeneration grün-rot, wie Studien schon seit Jahren belegen. Eindimensionale Berichterstattung ist da nur zwangsläufig, zumal schlichter Meinungsjournalismus heute weit mehr verbreitet ist als früher, wo Fakten viel mehr Raum und Gewicht bekamen.
Haben wir heute mehr Fake-Journalismus?
Das würden die meisten Kolleginnen und Kollegen für die eigene Arbeit scharf von sich weisen – zu Recht. Unsere Zunft produziert nicht bewusst falsche Nachrichten. Aber es wird vieles unkritisch übernommen, ohne eigene Recherche. Allerdings gab es Fake-News im Journalismus schon immer. Denken Sie nur an die Spiegel-Nummer mit Heinrich Lübke.
Lübke war 1959 bis 1969 Bundespräsident. Der Spiegel nannte ihn damals „KZ-Baumeister“.
Und hatte sich für diese Behauptung auf Informationen der DDR-Staatsicherheit gestützt, die nicht stimmten. Aber warum soll man Fakten checken, wenn einem die Story in den Kram passt? Was mich genauso stört ist, wenn Journalisten mit bestimmten Begriffen versuchen, Politik zu machen.
An welche Begriffe denken Sie?
Nehmen wir nur das „Armutsgefährdungsrisiko“. Die Sozialwissenschaftler haben sich darauf geeinigt, dass jemand, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, als armutsgefährdet gilt. ARD, ZDF und viele andere Medien verwenden statt „Armutsgefährdungsrisiko“ lieber den Begriff „Armutsquote“, weil diese Kennzahl dramatischer klingt. Statt die Begriffe der breiten Öffentlichkeit verständlich zu erklären, benutzen Journalisten die „Armutsquote“ als Kampfbegriff im rot-grünen Sinne.
Was soll die falsche Vereinfachung?
Es ist viel leichter, einfach etwas herauszuposaunen, als es differenziert zu erklären. Und mit Worten lässt sich Politik machen, auch mit falschen und unscharfen Begriffen. Es steckt ja eine eindeutige politische Absicht dahinter, wenn Medien jeden Menschen, der ohne Visum – also illegal – nach Deutschland kommt, als Flüchtling bezeichnen. Dieser Begriff ignoriert jeden gesetzmäßigen Unterschied.
Der Ihrer Ansicht nach wo liegt?
Nicht meiner Ansicht nach, sondern von Gesetzes wegen! Es gibt zum Beispiel Asylsuchende nach Artikel 16 a des Grundgesetzes, Schutzsuchende nach der Genfer Konvention und illegale Immigranten, von denen viele allein aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen. Einer Differenzierung des journalistischen Lieblingsbegriffs „Flüchtling“ müsste normalerweise eine kritischere Berichterstattung über die deutsche Einwanderungspolitik folgen. Aber eine solche wollen die meisten etablierten Medien nicht.
Warum nicht?
Weil sie unbegrenzte Zuwanderung ebenso gut finden wie die meisten Politiker, denen sie nahe bleiben wollen.
Was wäre daran schlimm?
Parteien und Politiker würden den kritischen Kommentatoren womöglich weniger Informationen zustecken und weniger Interviews geben. Diese Art der Distanzierung können nur die wenigsten Politikjournalisten verknusen, zumal sie dadurch einen Wettbewerbsnachteil hätten. Deshalb wollen sie lieber gefallen. Kurt Tucholsky hat mal gesagt: Man muss Journalisten nicht bestechen; man braucht sie nur wie eine Macht behandeln. Und das wissen die Politiker sehr wohl und handeln danach.
Bleiben wir noch bei der Einwanderungspolitik: Wurde die Berichterstattung darüber schon mit den Willkommensjubel-Stories im Jahr 2015 zementiert?
Das glaube ich schon. Es sind damals sogar sonst so gegensätzliche Zeitungen wie die „ZEIT“ und die „BILD“ dem unkritischen Einheitsbrei verfallen. Bei „BILD“ gab es anfangs die Praxis, nicht über Gewalt in Flüchtlingsheimen und über die steigenden Zustimmungswerte der AfD zu berichten. Da auch Journalisten Menschen sind, fällt es ihnen heute sehr schwer, ihre Fehler von damals zuzugeben. Stattdessen werden Leute, die die problematischen Folgen der Einwanderungspolitik von Angela Merkel ungeschminkt beim Namen nennen, ganz schnell als rechtsradikal abgestempelt.
Manche Zeitungen haben zugegeben, dass sie sich getäuscht haben.
Dazu fällt mir ein Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein: eine scharfe Kritik an der medialen Willkommenskultur. Leider haben die FAS-Redakteure unterschlagen, dass sie selbst auch auf dem falschen Dampfer waren. Dagegen hat ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo sich explizit einbezogen, als er Fehler eingeräumt hat. Am Tenor der „ZEIT“-Artikel hat sich aus meiner Sicht aber wenig geändert.
Kann es sein, dass die Deutschen insgesamt konformistischer werden?
Die Deutschen waren noch nie besonders bekenntnisfreudig. Wenn man bei Veranstaltungen oder auf Empfängen mit anderen Gästen über Politik sprechen will, wird noch viel mehr herumgeeiert als früher. Soll ja keiner wissen, wo ich politisch stehe.
Wie müssen wir uns das vorstellen?
Wenn in einer Runde das Thema Flüchtlingspolitik aufkommt, dann spürt man deutlich, dass viele sich nicht konkret äußern wollen. Wenn dann jemand Merkels Politik vom Herbst 2015 unmissverständlich verurteilt, platzen aus anderen ihre Ablehnung und ihre Verärgerung über Merkel geradezu heraus. In sogenannten bürgerlichen Kreisen ist die Angst, sich unter Umständen in der Minderheit zu befinden, geradezu mit Händen zu greifen.
Wie beurteilen Sie Bundeskanzlerin Angela Merkel insgesamt?
Ihren größten Verdienst sehe ich darin, dass sie unser Land gut durch die Finanzkrise 2008/2009 geführt und auch in der Eurokrise im Großen und Ganzen richtig gehandelt hat. Ihr größter Fehler war, dass sie nach dem 4. September 2015 die Grenzen nicht wieder schnell geschlossen hat. Paradox ist, dass sie nun wieder obenauf ist, weil sie gerade im Bereich der inneren Sicherheit Probleme zu lösen verspricht, die sie zum Teil selbst verursacht hat.
Was macht Merkel, was Deutschland in 20 Jahren noch nützt?
Schwer zu sagen. Angela Merkel fährt auf Sicht. Ich glaube nicht, dass sie eine konkrete Version für Deutschland 2040 hat.
Vielen Dank für das Gespräch.
Im Juni gab Hugo Müller-Vogg uns ein Video-Interview, das Sie auf www.tichyseinblick.de anschauen können. Für diesen Interviewtext haben wir uns nochmals mit ihm zusammengesetzt.
Veröffentlicht in „Tichys Einblick“ Nr. 8/2017.
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