Der Grundwiderspruch des Empirismus

Zusammenfassung:

Auf der erkenntnistheoretischen Richtung des Empirismus lastet ein fundamentaler Widerspruch: Vorbedingung aller Erfahrung ist die Zeit, Erfahrung bedeutet lernen aus der Vergangenheit für die Zukunft. Andererseits findet gerade aufgrund der Zeitlichkeit der Erfahrung in der Erfahrung keine exakte Wiederholung statt. Damit wird bei strenger Betrachtung jeglicher Verallgemeinerung der Boden entzogen. Erfahrung besteht dem­nach aus singulären, unwiederholbaren Tatsachen, so daß Erkenntnis allenfalls auf konventionalistischer Basis möglich ist.

In der Philosophiegeschichte haben sich zwei große erkenntnistheoretische Strömungen herausgebildet – der Empirismus und der Rationalismus. Empiristen sprechen der Erfahrung (Empirie), zumal der sinnlichen Erfahrung, die führende Rolle im Prozess der Erkenntnisgewinnung zu. Rationalisten sind hingegen der Ansicht, daß unser Wissen entscheidend durch bestimmte apriorische (vorempirische) Kategorien geprägt wird.

Kant hat sich, aus heutiger Sicht wohl eher erfolglos, um eine Synthese und Versöhnung der beiden Schulen bemüht. (1781) Auf einige grundlegende Widersprüche des Empiris­mus hat Willard Van Ormand Quine in einer berühmten Arbeit hingewiesen. (1951) Darin attackiert er zwei alte und wichtige „Dogmen“ des Empirismus. Zum einen ist laut Quine der Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Sätzen bei weitem nicht so deutlich ausgeprägt, wie traditionell von den Empiristen angenommen. Zum anderen ist auch der Reduktionismus, d.h. die Annahme, daß jede sinnvolle Aussage ein logisches Konstrukt ist, das auf unmittelbare Wahr­nehmung zurückgeführt werden kann, proble­matisch. Wahrnehmung wird immer im Lichte bestehender Konzepte modifiziert und interpretiert.

Eine weiterführende tiefschürfende Kritik der empirischen Epistemologie, wie sie hier versucht wird, offenbart jedoch, daß die empiristische Konzeption weitere Schwierig­keiten nach sich zieht, die dem Skeptizismus neue Nahrung geben.

Erfahrung und Begriffe

Um sinnvoll über die Welt denken und sprechen zu können, benötigen wir Begriffe. In der klassischen Erkenntnistheorie beziehen sich Begriffe auf Gegenstände. Dabei können Gegenstände nicht nur materielle Objekte, sondern auch Abstrakta sein. Eines der grundlegendsten Probleme des Empirismus ist die Ableitung der Begriffeaus der Erfahrung.

Die Abstraktionstheorie der Begriffsbildung geht davon aus, daß wir Begriffe aus der (Sinnes)Erfahrung konstituieren, indem wir Objekte aufgrund von Gemeinsamkeiten unter Ausklammerung der Unterschiede zusammenfassen. Sie ist an sich bereits zwei­schneidig. So setzt z.B. der Vergleich verschiedener Gegenstände schon den Begriff der Verschiedenheit und Gemeinsamkeit bzw. Ähnlichkeit voraus. Ich kann mithin nicht bei Null, mit einer Tabula rasa beginnen. Um zu Begriffen zu gelangen, muß ich schon über gewisse Konzepte und Begriffe verfügen. Doch die Dinge sind erheblich komplizierter.

Nach Thomas Hobbes läuft der Erkenntnisprozess so ab, daß Eindrücke aus der Außen­welt über die Sinnesorgane subjektive Wahrnehmungen oder Empfindungen in uns aus­lösen. Spuren der Wahrnehmungen werden im Gedächtnis gespeichert. Die Erfahrung ist die Gesamtheit der im Gedächtnis abgelegten Wahrnehmungen, wobei Künftiges in Ana­logie früherer Erlebnisse antizipiert wird.

Bei John Locke, der üblicherweise als der Begründer des erkenntnistheoretischen Empi­ris­mus in der neueren Philosophie angesehen wird, stammt alle Erkenntnis ebenfalls aus der Erfahrung, und zwar durch die Wahrnehmung äußerer Gegenstände (sensation) oder der internen Prozesse des Geistes, der Selbstbeobachtung (reflection).

Laut David Hume bilden einfache, unteilbare und aus diesen zusammengesetzte Sinnes­eindrücke (impressions) die Grundlage der menschlichen Vorstellungen, Erinnerungen und Gedanken (ideas),d.h. der gesamten Denktätigkeit. Eine gewisse Beständigkeit und Wiederkehr bestimmter Eindrücke erweckt die Illusion real, d.h. außerhalb des Menschen existierender Dinge. Die Welt, wie sie in unseren Perzeptionen existiert, besteht aus atom­artigen Ereignissen, die zusammengesetzt erscheinen, allerdings nicht kausal ver­knüpft sind. In Anlehnung an Hume zerlegt Ernst Mach die Welt in unteilbare „Elemente“ neutralen (weder materiellen noch geistigen) Charakters, die sich, in be­stimmter Weise geordnet, zu Komplexen verbinden können.

Philosophiehistorischer Ausgangspunkt des von Ludwig Wittgenstein und Bertrand Russell vertretenen logischen Atomismus sind die Auffassungen Humes. Viele Punkte an dieser Doktrin sind unklar, besonders bei Wittgenstein, der sich überdies einer eigenwilligen Terminologie bedient. Der logische Atomismus wird üblicherweise so ausgelegt, daß es unmittelbar gegebene, einfache, unteilbare, diskrete und voneinander isolierte „Atome“ oder Einzeltatsachen gibt, die die Gesamtheit der menschlichen Sinnes­empfindungen bzw. Erfahrung ausmachen. Atomaren Tatsachen korrespondieren atomare Sätze, die ihrerseits die Basis der Wissenschaft darstellen. Während Wittgenstein von „Sachverhalten“ spricht, gebraucht Russell den Terminus „Ereignis“. Russell und Wittgenstein waren jedoch nicht in der Lage, ein überzeugendes Beispiel für wenigstens eine solche elementare Tatsache oder Ereignis anzugeben. Ein Grund dafür ist, wie erwähnt, daß die Grenze zwischen Beobachtung (Wahrnehmung) und theoretischem Wissen nicht klar zu ziehen ist, wie Quine nachweist. (1951) Beobachtungen sind immer auch „theoriegeladen“. Auch Wilfried Sellars behauptet, daß unmittelbares Wissen eine Fiktion darstellt und nennt dies „myth of the given“ – „Mythos des Gegebenen“. (1956) Wissen hat keine rein nichtsprachliche Grundlage, ist nicht auf Sinnesdaten reduzierbar.

Offenkundig haftet jedem Begriff eine gewisse Allgemeinheit sowie Konstanz bzw. Inva­rianz des Inhalts an. Selbst Begriffe, die nicht auf eine Vielzahl von Gegenständen, sondern auf singuläre Objekte angewendet werden, also vermeintliche Einzelbegriffe (Individualbegriffe), haben immer noch einen gewissen Grad an Allgemeinheit. Der Begriff „Tisch“mag sich auf einen konkreten Tisch beziehen, er bezeichnet aber zugleich den allgemeineren Inhalt des „Tischseins“. Dasselbe gilt von zunächst sehr elementar an­mutenden Ausdrücken wie „hier“ oder „rot“. Auch singuläre Begriffe wie „der deutsche Bundeskanzler im Jahre 2001“ haben bei genauerer Analyse Bezug zu einer Vielzahl von Objekten. Wittgenstein bemerkt übrigens zutreffend: „Immer wieder fühlt man, daß auch im Elementarsatz von allen Gegenständen die Rede ist.“ (1984) Zudem bestehen Indivi­dualbegriffe, wie im obigen Beispiel, mit „deutsch“, „Kanzler“, „Jahr“ usw. aus Be­griffen, die selbst eine gewisse Allgemeinheit beanspruchen können. Begriffe beziehen sich demnach stets auf mehr als ein Objekt, insofern ist eine klare Abgrenzung von Einzel- und Allgemeinbegriffen nicht durchführbar. Es fragt sich mithin, ob und wie Verallgemeinerung möglich ist.

Erfahrung, Induktion, Zeit

Die Auseinandersetzungen um die Allgemeinbegriffe haben eine lange Tradition in der Philosophie. Im Mittelalter stritten die Scholastiker leidenschaftlich über die Natur der Universalien. Waren sie „vor den Dingen (Gegenständen, Einzelerscheinungen)“ – ante rem“ (Realisten) – oder „nach den Dingen“ – „post rem“ (Nominalisten)? Sie blieben letztlich eine schlüssige Antwort schuldig.

Hume erkannte scharfsinnig, daß Generalisierung aufgrund von Einzelbeobachtungen – Induktion – logisch unmöglich ist. Selbst wenn die Sonne bisher stets aufgegangen ist, ist das keine Gewähr, daß sie auch morgen aufgehen wird. Er bestritt also in seinem Skepti­zismus die Gültigkeit des Schlusses von der Vergangenheit auf die Zukunft und war sich dessen bewußt, daß Kausalität nicht aus der Erfahrung abgeleitet oder durch diese verifi­ziert werden kann, weil sich Beobachtungen bestenfalls auf die Vergangenheit beziehen können und keine Garantie für ihre Gültigkeit in der Zukunft gegeben ist.

Humes Ansatz war jedoch nicht hinreichend profund. Er konzentrierte sich vor allem auf den Kausalitätsbegriff und erkannte zutreffend, daß Induktion keine Begründung für Kausalität darstellt, doch er unterließ es, die Gültigkeit der Induktion auch auf einzelne Gedanken und Ideen an sich anzuwenden. Auf der anderen Seite findet man bei ihm folgende Zeilen: „First, when we analyze our thoughts or ideas, however compounded or sublime, we always find that they resolve themselves into such simple ideas as were copied from a precedent feeling or sentiment.“ (1758) Induktion bedeutet aber ein Lernen aus der Vergangenheit. Wenn, wie Hume meint, auch unsere Gedanken und Ideen Kopien vergangener Gefühle oder Empfindungen sind, kommt die Zeit und mit ihr fast unver­meidlich ein quasi induktives Element ins Spiel.

Humes „ideas“, die die Grundlage der Erkenntnis bilden, müßten demnach ebenfalls ge­wissermaßen durch einen induktiven Prozess gewonnen werden. Denn Begriffe werden in verschiedenen Situationen benutzt, und zwar stets mit derselben Bedeutung. Erkenntnis erfordert insofern allgemeine bzw. universale Begriffe, also bestimmte Invarianten. Wie sind diese Allgemeinheit sowie Invarianz des Inhalts zu erklären?

Bei vertieftem Nachdenken finden wir, daß die Zeit einen zentralen Kern unserer Existenz sowie der Erfahrung bildet. Wir können davon ausgehen, daß zumindest eine subjektive Zeit existiert: Das Bewußtsein ändert sich ständig, evolviert in der Zeit. Um mit Einstein zu sprechen:

„Die Erlebnisse des Menschen erscheinen als in einer Erlebnisreihe angeordnet, in welcher die einzelnen unserer Erinnerung zugänglichen Einzelerlebnisse nach dem nicht weiter zu analysierenden Kriterium des „Früher“ und „Später“ geordnet werden. Es besteht also für das Individuum eine Ich-Zeit oder subjektive Zeit.“ (1979)

Nun gibt es Philosophen wie Kant, die eine sehr subjektivistische Zeittheorie vertreten und behaupten, Zeit (und Raum) sei(en) eine Denknotwendigkeit und eine Schöpfung des menschlichen Geistes (apriorische Anschauungsformen). Mit dieser „kopernikanischen Wende“ glaubte Kant elegant viele Probleme der Erkenntnistheorie zu lösen. Aber selbst er konnte, obwohl er der Zeit den objektiven Charakter absprach, den subjektiv erlebten Zeitablauf nicht verleugnen: „…meine Vorstellungen folgen einander; aber das heißt nur, wir sind uns ihrer als in einer Zeitfolge, d.i. nach der Form des inneren Sinnes bewußt.“ (1781)

Um John Searle ein wenig zu paraphrasieren, können wir sagen, daß wir eine Menge Überraschendes über unsere Subjektivität herausfinden können, aber kaum, daß die psychologische Zeit nicht existiert. Wenn man allerdings den subjektiven Zeitablauf als eine Tatsache akzeptiert, entstehen sogleich große epistemologische Probleme. Eine sehr wichtige Konsequenz ist, daß ich keine zwei oder gar mehr exakt identische Sinnes­eindrücke oder Wahrnehmungen haben kann – auch wenn es mir bisweilen subjektiv so scheint, daß dem so ist. Ich kann – logisch betrachtet – z.B. nie einen Tisch zweimal auf präzise die gleiche Weise erleben! Es gibt niemals eine exakte Wiederholung, keine präzisen Kopien der jeweiligen mentalen Inhalte sowie Wahrnehmungen aufgrund der Struktur der Zeit, die von der Vergangenheit in die Zukunft fließt.

Gerald Edelman über „die unvergleichliche Mannigfaltigkeit des Seins“: „Wenn eine fundamentale Eigenschaft bewußter Erfahrung darin besteht, von Grund auf privat, einheitlich und kohärent…zu sein, so besteht eine nicht minder fundamentale Eigenschaft in dem, was wir als ihren außerordentlich hohen Grad an Differenziertheit oder Infor­mati­vität bezeichnen wollen…Bedenken Sie die Unmenge an Personen, die einem im Verlauf des Lebens begegnen, die Vielzahl an Gemälden oder die Unzahl an einzelnen Auf­nahmen für einen Film … Die Bandbreite möglicher Bewußtseinszustände ist so groß, daß nicht zu befürchten steht, die Erfahrungen des Lebens, die Möglichkeiten der Kunst, Dichtung und Musik könnten jemals ausgehen. Und doch können wir aus der ungeheuren Anzahl an verschiedenen möglichen Bewußtseinszuständen, die wir erfahren oder uns vorstellen können, problemlos eine Auswahl unter diesen treffen, auch wenn wir nicht ohne weiteres imstande wären, mit Worten zu beschreiben, wodurch sie sich genau unterscheiden.“ (2002)

Wir können Edelmans These dahingehend verschärfen, daß es nicht nur ungeheuer viele verschiedene Bewußtseinszustände gibt, sondern daß es in dieser Mannigfaltigkeit logisch (und praktisch) keine zwei gleichen Bewußtseinszustände geben kann.

Karl Popper führt folgendes interessante Beispiel an: „Ich schaute zweimal aufmerksam auf das gleiche Objekt. Und da mein Bewußtsein gelernt hat, wie es mich über meine Umwelt zu informieren hat, informierte es mich auch darüber. Und zwar durch Bildung einer Hypothese „Das ist dieselbe Blume wie zuvor.“…Doch genau deshalb, weil ich so informiert wurde, als ich angeblich „die beiden Erfahrungen“ identifizierte, ist die zweite Erfahrung oder der zweite Bewußtseinszustand anders (Hervorhebung von B.W.) als der erste. Das subjektive Erlebnis (das gebildete „Urteil“, die gemachte Annahme) war etwas anderes: Ich erlebte eine Wiederholung, was ich beim ersten mal nicht tat“ (1982)

Popper zieht daraus den Schluss: „Wenn das stimmt, dann ist die Theorie vom Bewusst­sein als Abfolge von (oft wiederholten) elementaren oder atomaren Wahr­nehmungen falsch.“ Doch auf einer fundamentaleren Ebene müssen wir gerade den entgegengesetzten Schluss ziehen. Popper gibt selbst zu, daß es keine zwei exakt gleichen Bewußtseins­zustände geben kann, weil sie subjektiv allenfalls als Wiederkehr der vorhergehenden interpretiert werden, das ist aber keine Identität. Auf logischer Ebene ist Wiederholung indessen keine Identität. Bewußtseinszustände, mögen sie relativ „einfach“ oder hoch­komplex sein, erscheinen demnach gerade als einzigartig und atomar.

Wenn dem aber so ist, gibt es in der Erfahrung keine wirkliche Repetition und keine Mög­lichkeit von Verallgemeinerung. Die Welt wäre auf rein logischer Ebene eine Ansamm­lung von zusammenhanglosen Bewußtseinszuständen: Sinneseindrücken, Wahrnehm­ungen, Gedanken usw. Es gibt darin demzufolge auch keine echten Allgemeinbegriffe. Jeder Begriff, auch jeder angebliche Allgemeinbegriff, kann in diesem Sinne bloß ein einziges Mal angewendet werden, weil er aufgrund der Evolution des Bewußtseins in der Zeit streng logisch inhaltlich nicht invariant sein kann. Allgemeinbegriffe sind aus dieser Sicht auch atomar, also Einzelbegriffe. Wir könnten diesen Standpunkt als eine Form des extremen Nominalismus betrachten. Unsere subjektiven Erlebnisse sind eine Abfolge von Bewußtseinszuständen und Wahrnehmungsinhalten, bei denen keiner dem anderen logisch gleicht. Über eine solche Welt läßt sich im Grunde kaum etwas aussagen oder er­fahren.

Andererseits jedoch ist gerade Zeit im Sinne des Empirismus die wichtigste Voraus­setzung der Erfahrung. Hierzu schreibt Carl v. Weizsäcker: „Eine mögliche Definition der Erfahrung lautet, sie bestehe darin, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen … In diesem Sinne ist die Zeit eine Vorbedingung der Erfahrung; wer Erfahrung gelten läßt, der versteht den Sinn der Worte Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.“ (1974) Erfahrung ist ohne Zeitlichkeit in der Tat nicht denkbar.

Hier kann aber sofort die Gegenthese aufgestellt werden: Auf der anderen Seite macht gerade die Zeitlichkeit der Erfahrung Erfahrung – streng logisch – unmöglich. Aufgrund der Struktur der (subjektiven) Zeit, die aus der Vergangenheit in die Zukunft fließt, findet in der Erfahrung keine Wiederholung statt. Die Welt ist auf – auf logischer Ebene – eine Ansammlung von losgelösten, unwiederholbaren, singulären Eindrücken, Erlebnissen und mentalen Zuständen. Ob es objektive, in der Zeit beharrende Gegenstände und ihnen korrespondierende Begriffe gibt, können wir daher nicht wissen. Das zeitlich Kontinu­ierliche ist lediglich ein Postulat.

Wenn dem aber so ist, hat Hume mehr als recht – Induktion, die als Basis der Erkenntnis dienen könnte, ist vollkommen unmöglich. Das führt zu einer Konklusion, die wir, zugegeben etwas gewagt und hochtrabend, als den Grundwiderspruch des Empirismus bezeichnen können: Der Begriff der Erfahrung setzt mehr oder minder implizit den Begriff der Zeitlichkeit voraus. Auf der anderen Seite macht gerade die Zeitlichkeit der Erfahrung Erfahrung – streng logisch – unmöglich.

Der konsequente Empirismus führt demnach zu einem krassen Nominalismus, Subjekti­vismus und Skeptizismus. Humes Skeptizismus war in diesem Sinne nicht folgerichtig genug. Er war der Ansicht, daß vergangene Erfahrung keine Gewähr für künftige Erfahrung ist. In Wirklichkeit zeigt die Analyse, daß noch nicht einmal Erfahrung über die Vergangenheit möglich ist. Erfahrung, Wissen und Wissenschaft scheinen logisch unmöglich. Hume und dem logischen Atomismus ist in folgendem Sinne zuzustimmen: Jeder „Sinneseindruck“ bzw. jeder mentale Zustand ist in der Tat atomar, aber nicht derart, daß er wirklich elementar wäre (in Wirklichkeit sind alle Wahrnehmungen komplex), sondern weil er einzigartig und unwiederholbar ist. Sowohl Hume als auch die logischen Atomisten scheuten die Schlussfolgerung oder erkannten nicht, daß die logischen Atome zwar paradoxerweise die Form von Allgemeinbegriffen haben, aber zu­gleich absolut individuell sein können.

Ein extremer Nominalismus ohne wie auch immer geartete Allgemeinbegriffe ist mit einem extremen Skeptizismus gleichzusetzen, der sich natürlich selbst aufhebt. Sinnvolles Sprechen ist im Rahmen einer solchen Auffassung nicht möglich. Das träfe dann auch auf den vorliegenden Text zu, der sich ebenfalls als sinnlos entpuppte. Um aber zu einer solchen Schlussfolgerung zu gelangen, muß man zunächst sprechen, auch wenn sich das Gesprochene im nachhinein als genaugenommen sinnlos erweist. Es ist mehr oder weniger die Situation, die Wittgenstein mit der Leiter-Metapher am Ende des Tractatus ausgedrückt hat: „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher sie ver­steht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausge­stiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“ (1963)

Wittgensteins Worte können aber auf den Skeptizismus angewandt werden, wie er hier formuliert wurde. Um die Fragwürdigkeit oder gar Sinnlosigkeit eines Unterfangens zu beweisen, muß ich irgendwo mit der Untersuchung beginnen. Um den Skeptizismus zu formulieren, sind zunächst unbegründete Begriffe nötig, die ihrerseits zweifelhaft und womöglich unsinnig sind. Am Ende kann diese Methode aber doch fruchtbar sein und zu neuen Erkenntnissen führen, die auf die Ausgangsbasis zurückreflektieren. Der Kreis schließt sich.

Der konventionalistische Ausweg

Der Moment ist gekommen, uns die Frage zu stellen: Müssen wir an dieser Stelle ver­zweifelt aufhören oder gibt es eine Möglichkeit, unsere Untersuchung fortzusetzen? Wie könnte der Übergang zu einer Erkenntnistheorie aussehen, die auf empiristischer Grund­lage bleibt, also dem Apriorismus keine Zugeständnisse macht, in der doch etwas ge­wusst werden kann?

Wir sollten uns zunächst vor Augen halten, daß kein Weg eine sichere Gewähr bietet. Die logische Analyse der Erfahrung führt zu skeptischen Schlussfolgerungen, wie sie in dieser Konsequenz selten in der Philosophiegeschichte formuliert worden sind. Auf der anderen Seite sind wir an Wissen interessiert, und so wankend das Fundament sein mag, auf dem es aufbaut, so ist es immer noch akzeptabler als der schrankenlose Skeptizismus. Offenbar müssen wir den extremen Nominalismus abschwächen, wenn sinnvolles Sprechen und Erkenntnis möglich werden sollen.

Auf logischem Niveau gibt es in der Erfahrung nichts Allgemeines, sondern nur einzelne, unwiederholbare, singuläre Ereignisse (mentale Zustände, Sinnesdaten, Wahrnehmungen usw.). Es ist nicht einzusehen, wie man daraus zu wirklich allgemeinen Begriffen, Sätzen usw. gelangen kann. Gerade diese liegen aber allem Wissen zugrunde. Begriffe haben andererseits offenbar ihren Ursprung in der Erfahrung, werden doch irgendwie aus der Erfahrung „abstrahiert“, auch wenn diese Ableitung, wenn unsere Analyse stimmt, philosophisch nicht streng nachzuvollziehen und zu rechtfertigen ist. Im übrigen können wir auf naturwissenschaftlicher Ebene durchaus Ansätze zu einer Erklärung der Univer­salien finden. Es ist unbezweifelbar, daß das Gehirn Wahrnehmungsprozesse strukturiert. Wir wissen alle selbst, daß uns die Welt nicht wie ein wahlloses Sammelsurium von einzelnen losgelösten Wahrnehmungen vorkommt. So ist beispielsweise zum Gesichts­sinn beim Neurophysiologen Wolf Singer zu lesen: „Was schließlich wahrge­nommen wird, hängt in kritischer Weise davon ab, wie und nach welchen Kriterien das Sehsystem die Gruppierung von Merkmalen zu kohärenten Figuren vornimmt und welche Lösungen dieser vorbewusst ablaufende Gruppierungsprozess anbietet … Aus erkenntnis­theo­retischer Sicht besonders beunruhigend ist dabei, daß diese interpretativen Vorgänge weitestgehend unbewusst ablaufen…“ (2002) Derartige (unbewusste) Strukturierungs­prozesse im Zentralnervensystem könnten Grundlage geordneter Wahrnehmung und damit der Universalbegriffe sein. Dabei taucht indessen das Problem auf, daß wir für philosophische Zwecke auf die Ergebnisse von Einzelwissenschaften erst dann zurück­greifen können, wenn wir einigermaßen sicher sind, daß diese Wissenschaften eine meta­wissenschaftliche Rechtfertigung haben, also „möglich“ sind, aber nicht vorher. „Reine“ Epistemologie kommt vor den konkreten Wissenschaften. Daher ist die naturalistische Erklärungslinie an dieser Stelle wenig hilfreich.

Augenscheinlich können wir auf der vorgeschlagenen Grundlage ohne eine Reihe konventionalistischer Annahmen nicht auskommen, wenn Erkenntnis möglich werden soll. Der einzige Ausweg für einen konsequenten Empiristen ist deshalb vermutlich der Konventionalismus. Begriffe sowie aus ihnen erwachsende (wissenschaftliche) Theorien sind Vereinbarungen. Wir setzen konventionalistisch voraus, daß der Geist bei seinen Operationen in allgemeinen und invarianten Kategorien – Begriffen – zu denken vermag. Exakt begründen können wir diese Universalität und Invarianz der Begriffe freilich nicht.

Es ist v. Weizsäcker zuzustimmen: „Ich setze einfach voraus, daß…Erfahrung als Quelle besonderer Gesetze, die auch in Zukunft ihre Gültigkeit haben, möglich und sinnvoll ist.“ (1986). Erfahrung im weiteren Sinne wäre nicht nur die Quelle von (physikalischen) Gesetzen, sondern auch von Wissen schlechthin. Aber trotz unseres Plädoyers für den Konventionalismus ist unsere Position nicht einfach mit diesem Begriff zu umschreiben. Ebensowenig kann man sie als „Positivismus“, „Instrumentalismus“ oder „Pragma­tismus“ bezeichnen. Denn wir glauben, daß wir zumindest Zipfel der Realität zu fassen bekommen, obwohl wir wahrscheinlich nicht die „Essenz“ der Dinge oder „das Ding an sich“ erkennen. Diese Realismus ist, wie wir gesehen haben, logisch nicht zu recht­fertigen, sondern strenggenommen bloß ein Glaube, nichtsdestoweniger ein tief ver­wurzelter Glaube. Es ist in der Tat etwas erschreckend anzunehmen, daß unsere An­sichten über die Welt in jeder Beziehung grundfalsch sein könnten und unsere Theorien nichts über die Wirklichkeit aussagen, sondern bestenfalls Instrumente zur Vorhersage sind. Deshalb ist hier abschließend als Konzession an den Realismus nicht ganz ohne Pathos anzufügen: Auch wenn vieles von dem, was wir über die Welt denken bzw. zu wissen glauben, konventionalistisch sein mag, so ist es doch recht unwahrscheinlich, daß es keinerlei Bezug zur Realität aufweist. Und selbst wenn sich alle unsere Ansichten als falsch herausstellen sollten, so werden sie dennoch nicht nutzlos gewesen sein.

Literaturverzeichnis:

Edelman, G.M., Tononi, G. (2002), Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewußtsein ent­steht, München: C.H. Beck.

Einstein, A. (1979), Grundzüge der Relativitätstheorie, Berlin: Akademie-Verlag.

Hume, D. (1758), An Essay Concerning Human Understanding, London.

Kant, I. (1781), Kritik der reinen Vernunft, Riga.

Popper, K., Eccles, J. (1982), Das Ich und sein Gehirn, München, Zürich: Piper.

Quine, W.V.O, (1951), Two Dogmas of Empiricism, The Philosophical Review 60.

Sellars, W., (1956) Empiricism and the Philosophy of Mind, in Herbert Feigl and Michael Scriven, eds., Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Volume I: The Foundations of Science and the Concepts of Psychology and Psychoanalysis (University of Minnesota Press, 1956), pp. 253-329.

Singer, W., (2002), Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Weizsäcker, C. F. v. (1974), Die Einheit der Natur, München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Weizsäcker, C. F. v. (1986), Die philosophische Interpretation der modernen Physik, Halle (Saale): Nova Acta Leopoldina.

Wittgenstein, L., (1963), Tractatus Logico-philosophicus, Logisch-philosophische Ab­handlung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Wittgenstein, L., (1984), Werkausgabe Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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