DER GLÄSERNE FAUST – Vortrag von Michael Jaeger im Residenztheater am 10. März 2018 Faust – oder die Erfahrung der Modernität

Vortrag Dr. Jaeger, (C) OMNIS TERRA MEDIA GmbH
Vortrag Dr. Jaeger
(C) OMNIS TERRA MEDIA GmbH

Wer sich wieder einmal mit Faust beschäftigen möchte, der findet während des „Faust-Festivals“ in München ein Füllhorn, aus dem er monatelang bis Juli 2018 schöpfen kann. So lassen sich in allen kulturellen, künstlerischen und gesellschaftlichen Bereichen die Erlebnisse und Erfahrungen teilen – was ein einzigartiges kommunikatives Phänomen schafft: „Faust“ ist als Motto omnipräsent und wird öffentlich zum Gesprächsthema.

Wir wollen nun wissen, was uns „Faust“ heutzutage zu sagen hat. Jedes Zitat, jeder Reim, jede Aussage wird auf Herz und Nieren geprüft und in einen historischen und aktuellen Zusammenhang gestellt. Michael Jaeger, Faust-Experte und Buchautor, bietet im Sinne dieser Aktualisierung ein faszinierendes Spektrum an logischen Schlussfolgerungen, was die Besucher und Besucherinnen seines Vortrages im Residenztheater in ihren Bann zieht. Goethes „Faust“ trifft offenbar den neuralgischen Punkt unserer Zeit und lässt uns reflektieren über Sinn und Unsinn des großen Welttheaters unserer Gegenwart, am Beispiel der Tragödie seines ungeduldig strebenden Dramenhelden.

Welche geistigen Prinzipien stecken hinter dem historischen Faust, welche treiben Goethes Faust an? Der Pakt, den Faust in der alten Legende von 1587 mit dem Teufel schließt, wird bei Goethe umgewandelt zu einer Wette: „Kannst du mich schmeichelnd je belügen,/Daß ich mir selbst gefallen mag,/Kannst du mich mit Genuß betrügen,/Das sei für mich der letzte Tag!/Die Wette biet’ ich“, so lautet Fausts berühmte Wettformel. Darüberhinaus versichert Faust Mephisto: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen:/Verweile doch! du bist so schön!/Dann magst du mich in Fesseln schlagen,/Dann will ich gern zugrunde gehn!“

In seiner gleichsam programmatischen Unzufriedenheit will Faust jede bestehende Realität stets durch eine andere Wirklichkeit ersetzen. Da er in keinem Augenblick verweilen und die Schönheit des Daseins bewundern darf, ist Faust in ständiger Bewegung. So scheint er den Kult eines Rastlosen zu verkörpern, der dem Konsumrausch verfallen scheint. „Immer vorwärts“ heißt daher die Devise, der er sich verschrieben hat. Er will die Welt neu erschaffen und ist doch ein zerrissener Mensch, ein Verzweifelter, geplagt von der Todesangst vor dem Verweilen. Nirgends darf er zur Ruhe kommen, nichts kann ihn länger erfreuen. Gibt es etwas, was ihm noch kostbar, wertvoll oder gar heilig ist? So könnten die berühmten Gretchenfragen heute in unseren Ohren klingen, die Margarete an ihn richtet. Faust jedoch verflucht alles Hier- und Jetztsein und scheint solchermaßen die Dialektik der Aufklärung anzutreiben. Scheitern doch zuletzt seine Ausbruchsversuche, so Michael Jaeger in seiner brillanten Argumentation, die stets an Hand von Goethes Zitaten untermauert wird. Jaegers Textdeutung lässt Faust neben uns neu entstehen, wir verstehen ihn viel besser als vorher. Zugleich aber bemerken wir die Widersprüche, die so charakteristisch für Goethes Text sind. Denn in dieser Tragödie entwickelt sich ein Themenkomplex, der Goethes Auseinandersetzung mit sich selbst dramatisiert.

Die Konflikte in Goethes Drama spiegeln sich wider im heutigen Zeitgeist, zumal in seiner vorrangig materiellen Orientierung. Vor allem Goethes visionäre Schau der Konsequenzen einer Kolonisierung aller Lebensbereiche, wie sie Faust im fünften Akt des zweiten Tragödienteils vorantreibt, macht uns die Aktualität seiner Gedanken bewusst.

„Verweile doch! du bist so schön!“, dieser Kernsatz von Goethes „Faust“ lässt uns nicht nur aufhorchen, er motiviert uns zur (selbst-) kritischen Reflexion: Es gibt nämlich auch jene Partien in Goethes „Faust“ zu entdecken, in denen die Wette nicht gilt. Das lässt uns hoffen!

„Faust“ lesen wir heute anders, dieser Text wächst mit der Zeit, und womöglich ist gerade dieses zeitübergreifende Bedeutungspotential das Kennzeichen eines Klassikers. Michael Jaegers meisterhafter Vortrag, Faust als unseren Zeitgenossen zu erleben, in seinen Absichten, Erfolgen und Misserfolgen unsere eigene Lebensgeschichte wiederzuerkennen, lässt uns solch ein Festival als Gemeinschaftswerk verstehen: Kultur als lebendiger Gesprächs- und Diskussionsraum, in dem sich unsere Wirklichkeit neu erkennen lässt und an dem wir alle gemeinsam teilhaben können.

 

Werke von Michael Jaeger , im Buchhandel oder online erhältlich:

Global Player Faust – oder: Das Verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes (2008). 7. Aufl. Verlag Königshausen & Neumann. Würzburg 2018.

Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie – oder: Die große Transformation der Welt (2014). 3. Aufl. Verlag Königshausen & Neumann. Würzburg 2015.

Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne (2004). 3. Aufl. Verlag Königshausen & Neumann. Würzburg 2010.

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s.a. erste Webserie FAUST – ein zeitloser Mythos www.omnisterra-media.de