Der Doppelsuizid von Stefan und Charlotte Zweig. Erinnerungen an den 80. Todestag

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Stefan und Charlotte Zweig haben sich am 23. Februar 1942 in ihrem brasilianischen Exil in Petropolis gemeinsam umgebracht. Ihr Doppelszuizid ist und bleibt ein großes Rätsel, vor dem Literaturwissenschaftler, Suizidforscher und die sehr zahlreichen Leser von Stefan Zweigs Werken stehen. Das Stefan-Zweig-Zentrum in Salzburg hat kürzlich eine Ausstellung mit dem prägnanten Titel „Stefan Zweig. Weltautor“ veranstaltet und ein Buch hierzu im Zsolnay-Verlag veröffentlicht (Fetz et al 2021). Gleichwohl bleibt auch nach 80 Jahren dieser Doppelsuizid ein Rätsel für die Interessierten. Thomas Mann, der mit Stefan Zweig befreundet war und einen ausführlichen Briefwechsel mit ihm hatte, nannte den Suizid „ein rätselhaftes Vorkommnis“. Aber nicht nur dies, er fand ihn auch verachtenswert „albern, schwächlich und schimpflich“. Auch Hannah Arendt war empört über diesen Schritt. Unter den anderen Schriftsteller-Emigranten wurde der Suizid wie eine Kapitulation oder eine Desertierung gewertet. Der sehr einflussreiche Stefan Zweig fiel nun als wertvoller Unterstützer von anderen hilfesuchenden Emigranten aus. Stefan Zweig war in der Kriegszeit der meistübersetzte und meistgelesene deutschsprachige Autor weltweit. Thomas Mann und Hannah Arendt hätten ihn sich als wirkungsvollen Kämpfer gegen das Naziregime gewünscht. Im Kriegsjahr von Stalingrad war der Verlust jedes Kämpfers schmerzlich. Doch jenseits von politischen Erwägungen, die die befreundeten Thomas Mann und Hannah Arendt geleitet haben mögen, ist für einen Suizidforscher die relevante Frage: Was waren wohl die persönlichen Motive von Stefan Zweig für diesen Suizid? Und warum ein Doppelsuizid?

Der Doppelsuizid von Stefan und Charlotte Zweig am 24. Februar 1942

Stefan Zweig hatte als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Textilunternehmers lange Zeit ein relativ unbeschwertes Leben. Die ersten 36 Jahre seines Lebens verbrachte er überwiegend in seiner Geburtsstadt Wien. Von 1919 bis 1933 lebte er in Salzburg. Dann floh er vor dem Naziregime ins Exil, zuerst nach England, dann in die USA, schließlich nach Brasilien. Sein letzter Wohnort war im brasilianischen Petropolis, in dem er auch starb. Er lebte nicht lange dort. Nach seiner Ankunft dort im September 1941 lebte er also in Petropolis weniger als ein halbes Jahr. Stefan und Charlotte Zweig haben sich mit einer tödlichen Überdosis der Schlafmittels Veronal gemeinsam das Leben genommen. Es war ein geplanter Doppelsuizid eines Ehepaares, im wechselseitigen Einverständnis und mit einem symbolischen „Suizidpakt“. Es war keine Kurzschlusshandlung, keine Impulstat, sondern eher ein Bilanzsuizid. Sie hatten sich als Paar verständigt, gemeinsam aus dem Leben zu gehen. Aber warum?

Der „Weltautor Stefan Zweig“

Im Jahr 2021 wurde Stefan Zweig in einer vielbeachteten Ausstellung in Salzburg als „Weltautor“ gepriesen. Dies ist keine Übertreibung. Auch heute noch zählt er mit Thomas Mann und Hermann Hesse zu den meistgelesenen deutschsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Zu seinen Lebzeiten war er der deutschsprachige Dichter, der am häufigsten in andere Sprachen übersetzt wurde. Er ist also wirklich ein „Weltautor“. Von Stefan Zweig existieren während seiner Lebensperiode mindestens 60 Originalausgaben – darunter weltberühmte Werke wie die „Schachnovelle“, „Die Verwirrung der Gefühle“ oder „Sternstunden der Menschheit“. Er verfasste vielbeachtete Biographien über Balzac oder Marie Antoinette. Sehr berühmt wurde seine Trilogie „Die Baumeister der Welt. Versuch einer Typologie des Geistes“. Der erste Band „Drei Meister“ widmet sich Balzac, Dickens und Dostojewski. Der zweite Band „Der Kampf mit dem Dämon“ setzt sich mit den Werken von Hölderlin, Kleist und Nietzsche auseinander. Im dritten Band „Drei Dichter ihres Lebens“ schreibt er über Casanova, Stendhal und Tolstoi.

Der literarische Ruhm von Stefan Zweig ist also unumstritten. Er war darüber hinaus befreundet mit Sigmund Freud und hatte einen ausführlichen Briefwechsel mit ihm. Sich selbst bezeichnete er als einen „Psychologen der Leidenschaften“. Viele Literaturwissenschaftler betonen seine außergewöhnliche psychologische Empathie und Psychoanalytiker beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit seinem Werk. Stefan Zweig war auch ein fleißiger und zuverlässiger Briefeschreiber. Im Verlag S. Fischer sind seine Briefe in vier Bänden erschienen. In Einzelbänden sind besonders die Briefwechsel mit Siegmund Freud, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Maxim Gorki, Romain Rolland, Richard Strauss und Hermann Bahr interessant.

Heinrich von Kleist und Sigmund Freud als „Suizid-Vorbilder“

Liest man die zahlreichen Biographien über Stefan Zweig, so wird deutlich, dass er über weite Strecken seines Lebens ein ruheloser, getriebener und zerrissener Mensch war, mit vielen Lebenskrisen und Konflikten. Starke Stimmungsschwankungen und depressive Zustände werden immer wieder beschrieben, bereits vor 1933. In seinen Krisenzeiten tauchten auch immer wieder Suzidgedanken auf. Mit seiner ersten Ehefrau Friederike lebt er bis 1933 zusammen, seit seiner Ausreise und Exil waren sie meistens getrennt und ließen sich 1938 scheiden. Im Jahr 1938 heiratete er seine zweite Frau Charlotte Altmann, mit der der vier Jahre später den Doppelsuizid beging. Bemerkenswert ist die von vielen Biografen bestätigte „Tatsache“, dass Stefan Zweig bereits vor 1933 mehrmals seine erste Ehefrau Friederike aufgefordert hat, mit ihm gemeinsam einen Suizid zu begehen (vgl. Haenel 2004).

Diese frühe Phantasie, Vorstellung oder Wunsch eines Doppelsuizids mit der Ehefrau erinnert sehr an den Doppelsuizid von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel. Mit diesem hat sich Stefan Zweig jahrelang intensiv auseinandersetzt. In seinem Buch „Der Kampf gegen den Dämon“ (1925) widmete er Kleist mehr als 70 Druckseiten und schrieb darin ausführlich über dessen Doppelsuizid. Das Thema „gemeinsam mit der Ehefrau aus dem Leben gehen“ hat ihn also bereits lange beschäftigt, bevor die Bedrohung durch das Naziregime einsetzte. Zahlreiche Autoren focussieren bei der Analyse der Suizidmotivation von Stefan Zweig die Nazibedrohung und die Belastungen des Exils. Dies scheint zu kurz zu greifen, insbesondere wenn man die intensive Kleist-Rezeption zur Kenntnis nimmt.

Ein weiterer nicht unwesentlicher Faktor bei der Suizidmotivation von Stefan Zweig dürfte der assistierte Suizid von Sigmund Freud sein. Freud starb keinen natürlichen Tod – sein Arzt Max Schur hat mir Morphium „nachgeholfen“. Auch Freud hat sich jahrelang mit dem Thema des Suizids beschäftigt, immerhin war er unheilbar krebskrank, hatte einen langen Krankheitsverlauf und versicherte sich frühzeitig der Suizidbeihilfe durch seinen Leibarzt Max Schur (Csef 2019,2020). Mit Freud war Stefan Zweig über Jahrzehnte befreundet und hatte mit ihm einen ausführlichen Schriftverkehr. Nach seinem Tod war er einer der wenigen, die in London eine Trauerrede gehalten haben (Cremerius 2003).

Die Zweig-Biographie und Doppelsuizid-Analysen von Thomas Haenel

Um die Suizidmotivation von Stefan Zweig zu verstehen, dürften die Arbeiten von Thomas Haenel sehr aufschlußreich sein. Thomas Haenel ist Psychiatrie-Professor in Basel und innerhalb der Suizidforschung gibt er als Doppelsuizid-Experte. Seine Monographie „Suizid und Zweierbeziehung“ (2001) ist seit Jahrzehnten richtungsweisend für diese Thematik. Bereits im Jahr 1995 hat Thomas Haenel eine Biographie über Stefan Zweig veröffentlicht. In den folgenden Jahren schrieb er zahlreiche Fachpublikationen über den Doppelsuizid und auch über Stefan Zweigs Doppelsuizd (Haenel 1981, 2004, Elsässer & Haenel 2000). Haenel vermutet bei der Gesamtschau seiner zahlreichen Publikationen zu Stefan Zweig eine komplexe und multifaktorielle Motivationsstruktur für den Suizid. Biographische Vorbelastungen (schon früher häufig Suizidgedanken), depressive Komponente, aktuelle Belastungen im Exil und die oben genannten Vorbilder von Heinrich von Kleist und Sigmund Freud. Hinzu kam die intersubjektive Verstärkung des gemeinsamen Suizidvorhabens durch seine zweite Ehefrau Charlotte. Während seine erste Ehefrau Friederike diese Avancen klar und deutlich ablehnte, zeigte Charlotte Verständnis und Zustimmung. Damit war der Doppelsuizid-Pakt besiegelt.

Neuere Erklärungsversuche

In mehreren Ländern (Frankreich, Brasilien, Österreich) scheint es eine Stefan-Zweig-Renaissance zu geben. Es wird viel über ihn publiziert. Zum Anlaß von Gedenktagen wir dann nicht selten die Suizidmotivation diskutiert. Joachim Lottmann schrieb vollmundig den Artikel „Der wahre Grund für den Selbstmord von Stefan Zweig“ in der „Welt“ im Jahr 2017. Die Antwort blieb leider aus und blieb nebulös. Keine Auseinandersetzung mit aussagekräftigen Quellen und keine schlüssige Conclusio. Kürzlich versuchte sich Thomas Milz in der NZZ unter dem Titel „Das Ende eines radikalen Pazifisten. Vor 80 Jahren nahm sich Stefan Zweig in Brasilien das Leben“.  Eine schlüssige Antwort auf die Frage der Suizidmotivation blieb auch er schuldig. Die Analysen von Thomas Haenel erscheinen im Vergleich dazu sehr fundiert und aufschlussreich, sie liegen allerdings Jahrzehnte zurück und haben neuere Beiträge der Stefan Zweig-Forschung noch nicht berücksichtigen können. Die weitere Forschung sollte auch berücksichtigen, welche neue Bedeutung der Doppelsuizid im 21. Jahrhundert hat (Csef 2016, 2022)

In der Gesamtbetrachtung des „Großen und Ganzen“ dürfte der „Weltautor Stefan Zweig“ und sein grandioses Werk viel bedeutsamer erscheinen als die Frage nach den „wahren Motiven“ für seinen Selbstmord.

Literatur

Cremerius, Johannes (2003) Stefan Zweigs Beziehung zu Sigmund Freud. Eine heroische Identifizierung. In: Cremerius, Johannes, Freud und die Dichter. Imago Psychosozial Verlag, Gießen, S. 23 – 60

Csef, Herbert (2016) Doppelsuizide von Paaren nach langer Ehe. Verzweiflungstaten oder Selbstbestimmung bei unheilbaren Krankheiten? Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik, Ausgabe 1, S. 1 – 7

Csef, Herbert (2019) „Mit Anstand von dieser Welt verschwinden“. Zum 80. Todestag von Sigmund Freud. Tabularasa Magazin vom 5. September 2019

Csef, Herbert (2020) „Existenz auf Kündigung“. Zur Sterbehilfe beim Krebskranken Sigmund Freud. Suizidprophylaxe 47, Heft 1, S. 16 – 19

Csef, Herbert (2022) Doppelsuizide von Paaren nach jahrzehntelanger Ehe. Tabularasa Magazin vom 19. Mai 2022

Dines, Alberto (2006) Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt

Elsässer, Petra, Haenel, Thomas (2000) Doppelsuizid und erweiterter Suizid. Suizidprophylaxe 27, Heft 4, S. 126 – 131

Fetz, Bernhard, Inguglia-Höfle, Arnhilt, Larcati, Arturo (Hrsg., 2021) Stefan Zweig Weltautor. Paul Zsolnay Verlag, Wien

Haenel, Thomas (1981) Die Suizidproblematik bei Stefan Zweig. Schweizer Archiv für Neurologie, Neurochirurgie, Psychiatrie 129, 2, S. 297 – 314

Haenel, Thomas (1995) Stefan Zweig – Psychologe aus Leidenschaft. Droste Verlag, Düsseldorf

Haenel, Thomas (2001) Suizid und Zweierbeziehung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Haenel, Thomas (2004) Das Problem der Suizidalität im Leben und Werk von Stefan Zweig. Suizidprophylaxe 31, Heft 4, S. 92 – 97

Larcatio, Arturo, Renolder, Klemens, Wörgötter Martina (Hrsg., 2018) Stefan-Zweig-Handbuch. De Gruyter, Berlin, Boston

Lottmann, Joachim (2017) Der wahre Grund für den Selbstmord von Stefan Zweig. Die Welt vom 22.2.2017

Milz, Thomas (2022) Das Ende eines radikalen Pazifisten. Vor 80 Jahren nahm sich Stefan Zweig in Brasilien das Leben – als vor der Küste U-Boote auftauchten. NZZ vom 22.2.2022

Weinzierl, Kurt (2015) Stefan Zweigs brennendes Geheimnis. Paul Zsolnay, Wien

Zweig, Stefan (1920) Drei Meister: Balzac – Dickens – Dostojewski. Insel, Leipzig

Zweig, Stefan (1925) Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin – Kleist – Nietzsche. Insel, Leipzig

Zweig, Stefan (1928) Drei Dichter ihres Lebens. Casanova – Stendhal – Tolstoi. Insel, Leipzig

Zweig, Stefan (1931) Die Heilung durch den Geist. Mesmer – Mary Baker Eddy – Freud. Insel, Leipzig

Zweig, Stefan (1942) Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Bermann-Fischer, Stockholm

 

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

 

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.