Der Dichter der Hölle. Zum – 100. Geburtstag von Primo Levi

Holocaust-Mahnmal Foto: Stefan Groß

Primo Levi ist einer der wichtigsten Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Am 13. Juli 2019 war sein einhundertster Geburtstag. Levi war der erste Schriftsteller zum Holocaust, der mit seinem Buch Weltruhm erlangte. Er überlebte das Konzentrationslager Auschwitz und beschrieb „Auschwitz als Hölle“. Das Geburtstagsjubiläum dürfte ein würdiger Anlass sein, seine Pioniertat in Erinnerung zu rufen.

Zur Biographie von Primo Levi

Primo Levi (1919 – 1987) wuchs in Italien (Turin) auf und ist dort vermutlich durch einen Suizid im Treppenhaus gestorben. Von 1944 bis 1945 war er im KZ Auschwitz. Er lernte im KZ Jean Améry kennen, mit dem er zeitweise in derselben KZ-Baracke lebte. Sie hatten zusätzlich die Gemeinsamkeit, dass sie beide in den kriegsnotwendigen Buna-Werken Monowitz zur Arbeit eingesetzt wurden, was vermutlich zum Überleben beitrug. Primo Levi hatte in Turin Chemie studiert und wurde in den Buna-Werken als Chemiker eingesetzt, Jean Améry war dort als Schreiber tätig. Nach der Befreiung aus dem KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 durch russische Soldaten folgte eine neun Monate dauernde Odyssee über Polen, Rumänien, Ungarn, Tschechoslowakei, Österreich und Deutschland, bis er schließlich wieder in seiner Geburtsstadt Turin ankam. In der Nachkriegszeit führte Primo Levi etwa vierzig Jahre lang eine Doppelexistenz als Chemiker und Schriftsteller. Er arbeitete relativ bald wieder als Chemiker und wurde bekannt für eine keramische Isolationstechnik. Er gründete schließlich ein eigenes kleines Unternehmen und wurde dort Geschäftsführer. Nach seiner Pensionierung war er dort noch als Berater tätig. Er blieb also Chemiker bis zum Lebensende. Seine dichterische Existenz charakterisierte er mit den Worten „Schriftsteller wider Willen“. Schreiben war für ihn ein Weg, „die Bürde grausiger Erinnerungen“  abzutragen.

Auschwitz als Hölle – Reminiszenzen an das Inferno von Dante

„Seit Auschwitz wissen wir, wessen der Mensch fähig ist. Und seit Hiroshima wissen wir, was auf dem Spiel steht.“ (Viktor Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. 1979)

Primo Levi hat Auschwitz als Hölle beschrieben und bezog sich damit auf das Inferno in der „Göttlichen Komödie“ von Dante. Häftling in Auschwitz zu sein bedeutete vom ersten Tag an einen Sturz in die Tiefe, in eine Hölle oder einen Abgrund. Der Ort des Grauens diente dem Zweck, die Inhaftierten psychisch und physisch zu vernichten. Die erste existenzielle Gratwanderung war die „Selektion an der Rampe“. Nur ein geringer Teil hatte das fragwürdige „Glück“, Zwangsarbeiter zu werden. Die meisten Neuankömmlinge wurden gleich aussortiert und vergast. Levi formulierte dies lapidar wie folgt:

„Die wenigsten kommen zur Arbeit, die meisten wandern ohne weiteres nach Birkenau und durch den Kamin“. (Levi, Ist das ein Mensch? 1961, S. 145).

Die Zwangsarbeiter hatten alle zu wenig Nahrung, waren unterernährt und ausgemergelt, nur Haut und Knochen nach einigen Wochen. Trotzdem wurden sie täglich zur Arbeit getrieben. Primo Levi beschrieb seinen körperlichen Verfall wie folgt:

„Schon habe ich auf meinen Fußrücken die stumpfen Wunden, die nicht heilen werden. Ich schiebe Waggons, ich arbeite mit der Schaufel, ich ermatte im Regen, ich zittere im Wind. Schon ist mein eigener Körper nicht mehr mein: der Bauch ist gedunsen, die Glieder sind verdorrt, das Gesicht ist am Morgen verschwollen und am Abend ausgehöhlt.“ (Levi, Ist das ein Mensch? 1961, S. 37).

In dem Zug, mit dem Primo Levi von Italien nach Auschwitz transportiert wurde, befanden sich 650 Menschen. Von diesen haben nur fünf das Konzentrationslager überlebt. Einer von ihnen war Primo Levi. Was er zu ertragen hatte, war ein langes Jahr in der Hölle. Die Hölle hat er in seinem Buch wie folgt geschrieben:

„Dies ist die Hölle. Heute, in unserer Zeit, muss die Hölle so beschaffen sein, ein großer, leerer Raum, und müde stehen wir darin, und ein Wasserhahn ist da, und man kann das Wasser nicht trinken, und uns erwartete gewiß Schreckliches, und es geschieht nichts und noch immer geschieht nichts.“ (Levi, Ist das ein Mensch? 1961, S. 21).

„Ist das ein Mensch?“ – ein Klassiker der Weltliteratur.

Nachdem Primo Levi mit viel Glück der Hölle von Auschwitz entronnen war, musste er nach der Befreiung durch die sowjetische Armee noch eine neunmonatige Odyssee durch Osteuropa überstehen. Jedoch auch dies überlebte er und kam schließlich Ende 1945 in seiner Heimatstadt Turin als ein „Gezeichneter“ an. Als ihm nach Fürsorge durch die Familie und gutem Essen wieder erste Kräfte in ihm erwachten, wuchs ein unwiderstehlicher Drang, seine Erlebnisse im Konzentrationslager niederzuschreiben. Levi war ja Naturwissenschaftler und promovierter Chemiker mit einer Tendenz zum klaren rationalen und analytischen Denken. In dieser Weise schrieb er sein Buch über Auschwitz. Mit einem kühlen Forscherblick sezierte er die Judenvernichtung in Auschwitz. Sein Erzählton ist kühl und frei von Gefühlsäußerungen oder Kommentaren. Er schreibt, was er gesehen und erlebt hat in sachlicher und nüchterner Weise. Dieser Sprachduktus unterscheidet ihn von zahlreichen anderen Büchern, die von KZ-Überlebenden geschrieben wurden. Primo Levi war gemeinsam mit Viktor Frankl einer der ersten, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Schreiben über den Holocaust oder über Konzentrationslager begonnen haben. Das Werk „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ von Viktor Emil Frankl wurde ebenfalls weltberühmt. Im Jahr 1947 war das Werk von Primo Levi vollendet und Primo Levi wollte es im italienischen Einaudi-Verlag publizieren. Dieser Verlag lehnte es jedoch ab. Bemerkenswerterweise hat genau derselbe Verlag eine erweiterte Neuauflage im Jahr 1958 – also elf Jahre später – doch gedruckt. Primo Levi musste aber zuerst bezüglich seines Buches Frustrationen, Demütigungen und Kränkungen erleiden. Es schien so, als wollte niemand etwas von Auschwitz hören oder lesen. Nach langer vergeblicher Suche fand er doch einen kleinen Verlag, der das Buch in einer Auflage von 1400 Exemplaren druckte. Die Aufarbeitung von Auschwitz hat lange gedauert – nicht nur in der Literatur, sondern auch in der juristischen Aufarbeitung. Es sei hier daran erinnert, dass die Auschwitz-Prozesse vor deutschen Gerichten erst im Jahr 1963 begannen. Die erweiterte Neuausgabe im Einaudi-Verlag wurde weltweit ein Erfolg. Dieses Buch wurde in 38 Sprachen übersetzt und ist erstmals in deutscher Sprache 1961 im Fischer-Verlag erschienen. Im Laufe der Zeit wurde „Ist das ein Mensch?“ zu einem Klassiker der Weltliteratur. Es wurde in die Liste der hundert Bücher des Jahrhunderts der französischen Tageszeitung „Le Monde“ übernommen. Der bekannte amerikanische Schriftsteller Philip Roth erklärte es „zum notwendigsten Buch des 20. Jahrhunderts“. Die Literaturwissenschaftlerin und Holocaust-Überlebende Ruth Krüger würdigte Levis Werk als „das berühmteste Auschwitz-Buch“. Im Jahr 1999 führte die berühmte deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ ein vielbeachtetes Projekt durch. 51 berühmte Schriftsteller wurden gebeten, ihr persönliches „Jahrhundertbuch“ zu beschreiben. Der Schriftsteller Günter Kunert wählte als sein Lieblingsbuch das Werk „Ist das ein Mensch?“ von Primo Levi.

Das große Glück der Freundschaft – Lorenzo als „eine entfernte Möglichkeit des Guten“

In der Hölle von Auschwitz gab es nicht nur das Böse. Es gab auch Freundschaften unter den geschundenen Häftlingen, es gab auch Solidarität im gemeinsamen Leiden und wechselseitige Hilfe zum Überleben. Einen dieser Freunde hat Primo Levi deshalb in besonders guter Erinnerung:

„Lorenzo aber war ein Mensch. Seine Menschlichkeit war rein und unangetastet. Dank Lorenzo war es mir vergönnt, dass auch ich nicht vergaß, selbst noch Mensch zu sein … Ich glaube, dass ich es Lorenzo zu danken habe, wenn ich heute noch unter den Lebenden bin. Nicht so sehr wegen des materiellen Beistands, sondern weil er mich mit seiner Gegenwart, mit seiner stillen und einfachen Art, gut zu sein, dauernd daran erinnerte, dass noch eine gerechte Welt außerhalb der unseren existierte: Dinge und Menschen, die noch rein sind und intakt, nicht korrumpiert und nicht verroht, fern von Hass und Angst; etwas sehr schwer zu Definierendes, eine entfernte Möglichkeit des Guten, für die es sich immerhin lohnt, sein Leben zu bewahren.“ (Levi, Ist das ein Mensch? 1961, S. 125-126).

„Die Untergegangenen und die Geretteten“

Erst kurz vor seinem Tod kehrte er innerlich nochmals zu seinen KZ-Traumata zurück. Er schrieb sein wohl bedeutendstes Werk, das gleichzeitig sein letztes war und sein Vermächtnis an die Nachwelt darstellt. Es trägt den Titel „Die Untergegangenen und die Geretteten“ (Levi 1990). Die Themen dieses Buches sind existenziell-bedeutsam, erschütternd und beklemmend. Primo Levi schreibt über die Persönlichkeitsspaltung der deutschen Täter in gute Familienväter und brutale Schlächter, reflektiert über die Ambivalenz der KZ-Insassen, von denen viele zu Mittätern wurden, um ihr eigenes Leben zu retten. Qualvoll beschreibt er den Verlust der Menschenwürde, die Behandlung der KZ-Insassen, die wie Ungeziefer ausgemerzt werden sollten und die existenzielle Gratwanderung zwischen Menschsein und Nicht-mehr-Menschsein. Es tauchen auch immer wieder Selbstanklagen auf, die an das Thema der „Überlebensschuld“ von W.G. Niederland erinnern.  Er litt unter Selbstvorwürfen, dass er als Überlebender anderen Mithäftlingen nicht genügend Hilfe geleistet und dadurch schuldig geworden sei. Das übermächtig gewordene Schuld-Thema mag wohl bei der Psychodynamik des Suizids richtungsweisend gewesen sein. Insgesamt blieb der Suizid von Primo Levi rätselhaft, zumal kein Abschiedsbrief vorliegt. Bemerkenswert ist jedoch, dass Primo Levi unter Depressionen litt und am Tag des Suizids einen Arztbesuch hatte, den er dann nicht mehr wahrnehmen konnte (Anissimov 1999). Bei seinen Selbstvorwürfen ordnet er sich selbst als Geretteter zu den „Schlimmsten“ ein:

 „Die Geretteten der Lager waren nicht die Besten, die zum Guten Vorbestimmten, die Überbringer eine Botschaft. Was ich gesehen und erlebt habe, bewies das genaue Gegenteil. Überlebt haben vorwiegend die Schlimmsten, die Egoisten, die Gewalttätigen, die Gefühllosen, die Kollaborateure der Grauzone, die Spione. …Gewiss, ich fühlte mich ohne Schuld, aber gleichzeitig war ich den Geretteten zugesellt und daher auf der ständigen Suche nach einer Rechtfertigung vor mir selbst und den anderen. Überlebt haben die Schlimmsten und das heißt die Anpassungsfähigsten. Die Besten sind alle gestorben.“ (Levi 1990)

Der Suizid

Elie Wiesel, der Primo Levi und sein Werk gut kannte und ebenfalls im KZ Auschwitz war, schrieb über ihn den treffenden Satz: „Primo Levi starb in Auschwitz, aber vierzig Jahre später.“

Auf der realen Ebene zählte Primo Levi zu den Geretteten, aber das Schicksal von Auschwitz holte ihn im Alter von 68 Jahren ein, 42 Jahre nach seiner Befreiung aus dem KZ Auschwitz. So war Primo Levi im Jahr 1945 real gerettet worden aber „er starb in Auschwitz“, weil er mit seinem Suizid vermutlich sein großes Schicksal Auschwitz endgültig besiegelte. Es ist ein großes Rätsel, weshalb sich so viele KZ- und Holocaust-Überlebende im hohen Lebensalter suizidiert haben. Meistens erfolgte dies drei oder vier Jahrzehnte nach der Befreiung aus dem KZ. Csef (2014) untersuchte dieses Phänomen an den Suiziden von Jean Améry Primo Levi und dem Ehepaar Adorjan. Weitere berühmte Suizidopfer unter den Holocaust-Überlebenden waren Paul Celan, Bruno Bettelheim und Peter Szondi. Ein KZ-Aufenthalt im Nazi-Regime zählt zu den schwergradigsten Traumata im Vergleich zu anderen Traumaformen. Der Zusammenhang von Trauma und Suizid besteht allgemein. Traumatisierte haben höhere Suizidraten (Csef 2013). Dem KZ entronnen zu sein weckt möglicherweise das Bedürfnis nach Selbstbestimmung über den Tod. Die nackte Todesangst im KZ wird verwandelt in einen späten Triumph über den Tod: der Suizident bestimmt die Art und den Zeitpunkt seines Todes selbst.

Literatur:

Anissimov M (1999) Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Eine Biographie. Berlin, Philo-Verlag

Csef H (2014) Späte Suizide von Holocaust-Überlebende. Primo Levi, Jean Améry, Ehepaar Adorján. Psychotherapie im Alter, 11. Jahrg., Heft 4, S. 553-563

Csef H (2019) Vom Trauma zum Suizid. Suizidprophylaxe, Jahrg. 46

Frankl V (2015) … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München, Kösel-Verlag

Kunert G (1999) „Ist das ein Mensch?“ von Primo Levi. Mein Jahrhundertbuch. Die Zeit vom 11. November 1999

Levi P (1961) Ist das ein Mensch? Frankfurt am Main, Fischer-Verlag

Levi P (1990) Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Hanser-Verlag

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef 

Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Zentrum für Innere Medizin

Medizinische Klinik und Poliklinik II

Oberdürrbacher Straße 6

97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

Über Herbert Csef 153 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.